Walter Schweizer, ehemaliger Chefchirurg am Kantonsspital, verkauft sich als Epidemiologie-Experte und verbreitet gefährliche Ideen zur Pandemie.
«Wir distanzieren uns ausdrücklich von der subjektiven und erstaunlich simplen Darstellung der komplexen Coronakrise, wie sie von unserem chirurgischen Kollegen PD Dr. Walter Schweizer in den SN vom 30. April skizziert wurde.» Mit diesen klaren Worten beginnt ein Schreiben des Präsidenten der kantonalen Ärztegesellschaft und des Präsidenten des Vereins für Hausarztmedizin, das am 5. Mai unter dem Titel «Ärztliche Verantwortung sieht anders aus» in den Schaffhauser Nachrichten erschien.
Was war passiert? Das Schreiben war eine von mehreren Reaktionen auf einen Leserbrief von Walter Schweizer. Dieser, vielen noch als ehemaliger Chefarzt der Chirurgie am Kantonsspital in Erinnerung, verharmloste darin die Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht, und bezeichnete die behördlichen Massnahmen als «übertriebenen politischen Aktivismus». Er verglich Covid-19 mit einer normalen Grippe und erklärte: «Wir erleben zurzzeit eine politisch-demokratisch-gesellschaftliche Krise, die sich langsam, aber sicher zur Katastrophe entwickelt, und nicht wirklich eine durch das Covid-19 verursachte gesundheitliche Krise.» Er plädierte gegen den Lockdown und für die rasche Bildung einer «Herdenimmunität».
Gefährliche Idee
Darauf zu hoffen, entgegneten die eingangs zitierten Berufskollegen, komme «klinischen Versuchen an Menschengruppen gleich». Anna Sax, Leiterin des kantonalen Gesundheitsamtes, schreibt auf Anfrage der AZ: «Was passiert, wenn man das Coronavirus gewähren lässt und auf Herdenimmunität setzt, kann man in den USA und in England beobachten.»
Auch auf Facebook machte Walter Schweizer Stimmung gegen die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Er verbreitete Videos der deutschen Ärzte Wolfgang Wodarg und Sucharit Bhakdi, den Stars der deutschsprachigen Corona-Skeptiker-Szene. In seinem jüngsten Post vom 3. Mai verweist er auf die wöchentliche Sterblichkeits-Statistik des Bundesamtes für Statistik (BFS) und spricht von einer «unbedeutenden Verschiebung» in der Sterblichkeit. Er kritisiert «Mainstream-Meinungsmacher»: «Inzwischen kann man weiter die zweite Welle heraufbeschwören, nachdem schon die erste zum Glück (…) nicht stattgefunden hat.»
Schweizer ist überzeugt, das Virus habe einen unbedeutenden Anteil an den erhöhten Todesfallzahlen. Er sagt: «Viele Verstorbene, bei denen das Coronavirus nachgewiesen wurde, wären jetzt oder sehr bald an etwas anderem gestorben.»
Abenteuerliche Interpretation
Die Ideen, die Walter Schweizer verbreitet, stehen im Widerspruch zu wissenschaftlich anerkannten Resultaten der Forschung zum Coronavirus und zu den Einschätzungen der klaren Mehrheit der Fachleute. Selbst die BFS-Zahlen, auf die Schweizer sich beruft, zeigen eindeutig eine stark erhöhte Sterblichkeit, die den Rahmen des aufgrund von Vorjahreszahlen Erwartbaren übersteigt. Und diese «Übersterblichkeit» stimmt laut Analysen des Tagesanzeigers sehr genau mit den Zahlen zu Coronatodesfällen überein.
Wichtig ist Schweizer die Feststellung, dass er Hygienemassnahmen und Social Distancing zum Schutz der Risikogruppen ausdrücklich befürworte. Den Lockdown aber hält Schweizer für übertrieben: Die «Hysterie», befürchtet er, könnte mehr Schaden anrichten als das Virus selbst.
Ungenaue Angabe zum Diplom
Walter Schweizer verweist nicht auf Studien, sondern zumeist auf nackte Zahlen und Informationen, die er selbst und ziemlich selektiv interpretiert. Dabei kommt er zu Schlüssen, die ihm eine Kritik am Lockdown und am «Mainstream» erlauben. Und diese Kritik behält er nicht für sich, denn Schweizer ist nicht der Typ, der schweigt, wenn er sich im Recht wähnt.
Das wurde ihm vor zwölf Jahren zum Verhängnis: Nach einem öffentlich ausgetragenen Streit mit dem Spitalrat reichte er 2008 als Chefarzt der Chirurgie am Kantonsspital die Kündigung ein: Meinungsverschiedenheiten über die Neuausrichtung des Spitals und vor allem Schweizers Kritik am gerade erst eingesetzten Spitalrat hatten eine weitere Zusammenarbeit unmöglich gemacht.
Nach seiner Kündigung gründete er eine Praxis in der Altstadt und operierte fortan als Belegsarzt in der Privatklinik Belair. Dort und in der ebenfalls zu Swiss Medical Network gehörenden Privatklinik Lindberg in Winterthur ist Schweizer bis heute tätig.
Corina Müller-Rohr, Direktorin des Belair, schreibt der AZ, die Äusserungen in Walter Schweizers Leserbrief über die Pandemie und den Umgang mit der Krise «stellen seine persönliche Sichtweise dar und stehen in keinem Bezug zur Klinik. Unsere Belegärzte sind freie Unternehmer und nicht bei uns angestellt.» Deshalb, sagt Müller-Rohr auf Nachfrage, müsse sich das Belair nicht distanzieren. «Das heisst aber nicht, dass seine Meinung der Haltung der Klinik entspricht.»
Mehrmals betont Walter Schweizer, er sei «im Besitz des Diploms für Tropenmedizin und Epidemiologie». Richig ist: Er absolvierte 1981 den dreimonatigen tropenmedizinischen Kurs am Tropeninstitut in Basel. Epidemiologie war zwar Teil des Inhalts, aber das Diplom wurde laut dem Jahresbericht des Instituts – und laut Schweizers Lebenslauf – für Tropenmedizin und nicht für «Tropenmedizin und Epidemiologie» ausgestellt. Schweizer sagt dazu: «Wissen Sie, Tropenmedizin ist zu 40 Prozent Epidemiologie.»
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