Romina Loliva über den Wert der Arbeit am Tag der Arbeit.
Der Tag der Arbeit geht dieses Jahr stiller über die Bühne als sonst. Der Satus-Grill bleibt kalt und niemand ramponiert auf dem Fronwagplatz die Internationale . Wird man die rund 1000 standhaften Linken, die jedes Jahr durch die Altstadt ziehen, vermissen? In einem bürgerlichen Kanton wie Schaffhausen wohl kaum.
Sowieso, mag man denken, haben wir alle gerade Wichtigeres zu tun, als nostalgische Ideologieverklärung zu betreiben. Darum geht es aber am Ersten Mai nicht. Obwohl die allermeisten – die Verfasserin dieses Kommentars inklusive –, die jeweils am Demozug teilnehmen, kaum von Existenznöten geplagt sind und obwohl manche Rede am Tag der Arbeit im Genussgrad einer lauen Bratwurst gleicht, ist der Erste Mai der einzige Tag im Jahr, an dem das kollektive Bewusstsein – zumindest das linke – sich daran erinnert, dass hinter prägenden Begriffen unserer Zeit wie Wirtschaft, Staat und Arbeit immer noch Menschen stecken.
Gerade jetzt, wo wir in eine Krise schlittern, die alles und jeden mitreisst, lohnt es sich, darüber nachzudenken. Dass Arbeit für viele Menschen nicht Selbstverwirklichung, sondern das schlichte Absichern des eigenen Überlebens bedeutet, war schon lange nicht mehr so sichtbar wie jetzt. Die Angst, Rechnungen nicht bezahlen zu können, den Job zu verlieren und bald vor einem Scherbenhaufen zu stehen, ist kein sozialdemokratisches Schreckgespenst, sie ist real und bringt viele Leute an den Rand der Verzweiflung. Trotzdem füllen diese Leute jeden Tag die Regale in den Läden auf, pflegen Alte und Kranke, schleppen Pakete und putzen in Spitälern und Hotels (siehe Seite 14).
Diese Leute können nicht im Homeoffice auf das Ende des Lockdowns warten und müssen jeden Tag raus, Coronavirus hin oder her. Ihre Arbeitsverhältnisse sind oft prekär und die Anstellungen temporär oder an externe Firmen ausgelagert. Ihre Gesundheit zählt weniger als jene der Kundschaft und der Unternehmen, die alles tun, um das eigene Risiko zu minimieren und die Gewinne zu maximieren.
Ist es das, was wir als Gesellschaft unter würdiger Arbeit verstehen?
Die vorherrschende Doktrin gibt vor, es sei schlussendlich alles eine Frage des Marktes. Ein Markt, der gemäss Vertretern der Wirtschaft wie Giorgio Behr (siehe Seite 7) einer Ausdünnung bedarf. «Wir halten viele Betriebe am Leben, die eigentlich nicht überlebensfähig sind», sagt der reichste Schaffhauser. Und aus einer rein ökonomischen Warte heraus hat der Mann auch Recht. Nur die Betroffenen tröstet die Erkenntnis, dass gerade sie unwirtschaftlich sein sollen, nicht über den Verlust der Lebensgrundlage hinweg. Und wenn nun ein grosser Teil der Schweizer KMUs – in der Gastronomie etwa – plötzlich nicht markttauglich ist, könnte es nicht auch sein, dass der Markt nichts taugt?
Um solche Fragen geht es am Ersten Mai. Linke Präsenz zu markieren und Gewerkschaftsfahnen zu schwingen, gehört dann dazu, aber zum Kampagnenevent darf der Tag der Arbeit nicht verkommen. Gehen wir auf die Strasse, machen wir das für jene, die keine Stimme haben oder sich keine Stimme leisten können. Wir gehen auf die Strasse, weil wir privilegierter sind als andere.
Dieses Jahr ist das nicht möglich. Gerade deshalb sollten wir uns umso mehr fragen, was wir aus unseren Privilegien machen.
Das geht auch von zuhause aus.