Der Lockdown hat uns den Genuss genommen. Doch es gibt Schlupflöcher. Unser Redaktor hat in der «Park Villa» eingecheckt.
Der Eintritt ins Paradies kostet 100 Franken. Corona-Rabatt. Dafür wird mir ein bronzener Schlüssel mit der Nummer 29 überreicht. Nachdem ich mein Zimmer bezogen habe, viel Brokat und Goldfarbe, Orchideen im Champagnerkübel, weisser Marmor im Bad, gehe ich runter in die Lobby. Dort erwartet mich bereits Max Schlumpf, der Herr des Hauses, und fragt aufmerksam: «Hüngerli?»
Genau so habe ich mir das vorgestellt.
Das Virus hat die Gastronomie kastriert. Die Bars, die Clubs, die Restaurants – zu. Ein paar Wirtinnen sind temporär auf Take-away umgestiegen; so braucht auch in der Krise niemand auf seinen Cardinal-Burger zu verzichten. Und doch muss man konstatieren: Es isch halt scho nid s Gliich.
Wie gerne würde man mal wieder richtig schlemmen. Sich bedienen und verwöhnen lassen. Von leibhaftigen Menschen! Die Krise beschwört Sehnsüchte. Doch wie rational sind die eigentlich? Sehne ich mich wirklich nach Dekadenz – oder bloss nach ein wenig Normalität?
Nach fünf Wochen Lockdown ist es Zeit, die Frage zu klären. Empirisch. Denn man kann in Schaffhausen durchaus gediegen dinieren. Man muss nur ein Zimmer in der Park Villa buchen, einem der wenigen Hotels, die noch offen sind.
Von meiner Wohnung zum Hotel ist es ein Spaziergang von ein paar Minuten. Die Sonne scheint, der Wind weht, es riecht nach Freiheit, als ich die Passerelle nehme, raus aus der Stadt im Tiefschlaf, rüber zum Promenadenpark. Da steht es, das viktorianische Schlösschen, 1900 erbaut, seit über 30 Jahren in der Obhut von Max, Stammhalter des Schlumpf-Clans. Die Park Villa, Sündenpfuhl meiner Träume.
Das Haus ist ein Museum. Im Louis XVI Salon Kronleuchter aus einem ungarischen Schloss, der Durchgang zum Wintergarten flankiert von zwei Stosszähnen, 60 Kilogramm Elfenbein aus Simbabwe. Daneben ein Stillleben von Otto Dix.
In meinem Zimmer plündere ich als Erstes die Früchteschale. Äpfel und Birnen lasse ich liegen, ich will die Trauben und die Erdbeeren. Der Lockdown hat uns zu Hofladengängern gemacht, er lässt uns Saisontabellen studieren. Doch die Früchteschale zeigt: In der Park Villa hat der Lockdown genauso wenig verloren wie das schlechte Gewissen.
Die Russin im weissen Porsche
«Hüngerli?», fragt Max Schlumpf. Ja. Doch wenn schon schlemmen, dann richtig. Es ist erst 18 Uhr, ich lasse mich in der Schlossbar in einen samtenen Fauteuil sinken und schlage beschwingt die Zeitung auf. «Die Krise taugt nicht dazu, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Jeder Tag hält eine Prüfung bereit, einen Test, wie geduldig, wie hilfsbereit, wie mitfühlend man sein will, nicht theoretisch, sondern praktisch. […] Jeder Tag birgt Gelegenheit, sich selbst zu enttäuschen», schreibt Caroline Emcke in ihrem wunderbar warmherzigen Corona-Journal in der Süddeutschen Zeitung. Ich stutze. Draussen stürzt die Welt zusammen, drinnen serviert mir Max Schlumpf ein Ginger Ale auf Eis, ein Pianist klimpert leise aus den Boxen,
Pavarotti, der mal hier im Haus logiert haben soll, lächelt mir aus einem Bilderrahmen entgegen. Was zum Teufel tue ich bloss an diesem entrückten Ort?
Am Salontisch nebenan bestellt eine betagte Amerikanerin, die in der Park Villa gestrandet ist, Spargelsuppe mit Spargeln und beginnt ein Gespräch mit einer noch betagteren Schweizerin, die vor einem Teller Nudeln sitzt, den sie kaum angerührt hat. Eine Unterhaltung wie aus einem Sketch von
Mister Bean: «How is the red wine?» – «Ah, Sie haben schöne Salonschuhe, wirklich schön!» Pause. «Is this the sister of Maria?» – «Ich hatte Nudeln, Gemüse, Schweinefleisch.» – «Ahaaa.» Nach einer Weile murmelt die Schweizerin halb deliriös: «Ez chönder denn ufhöre mit dem Corona.» Die Stimmung in der Schlossbar ist gedämpft wie mein barocker Fauteuil.
Ich wechsle in den Louis XVI Salon, wo sich bereits ein Paar mit schlohweissen Haaren beharrlich anschweigt. Zwischen ihnen fein arrangierte Tellergerichte.
Es laufe schlecht, sagt Max Schlumpf. Früher, in der Blütezeit, hätten hier jeden Abend die Puppen getanzt, ein halbes Dutzend Flaschen Gin seien weg pro Nacht, er selbst habe seine Drinks jeweils unauffällig in eine Palme gekippt. Alle drei Monate musste eine neue her. Jetzt, in der Krise, käme er besser weg, wenn er zumachen würde. Doch die Park Villa schliessen? Das verbietet schon der Stolz.
Eine stattliche Russin kommt vom Tennisplatz, klemmt einen grossen Bund Rosen unter den Arm, die Schlumpf im Entrée zusammen mit Wein und Schokolade verramscht, verabschiedet sich, steigt in ihren weissen Porsche und braust davon. Der Glanz der Park Villa scheint vielleicht etwas verblichen, doch derartige Anflüge von Grandezza, die gibt es nach wie vor nur bei Max.
Unter den Augen von Hieronymus
Mein Salatteller wiederum ist eher ein Versprechen in die Zukunft. Melone und Costoluto-Tomaten klingen nach Sommer und vielleicht hätte man sie auch noch ein Weilchen auf den Feldern lassen sollen. Doch sie riechen auch nach verruchtem Genuss.
Draussen scheint noch immer die Sonne, und während sich das Faltdach des Tennisplatzes in der rostigen Drahtseilkonstruktion windet wie der Lindwurm im Todeskampf mit dem heiligen Georg, hört man drinnen nur das gleichmässige Surren der Lüftung, als wollte sie sagen: Fuck you, Welt.
Dann kommt es, mein Black-Angus-Rindsfilet à 59 Franken, allein der Preis eine Verheissung, garniert mit weissem Spargel, abgerundet von einer Sauce Béarnaise, Verkörperung der klassischen französischen Küche, buttriger Anachronismus. Als ich in den verkrusteten Klumpen steche, tritt der Saft aus. Das Fleisch herrlich zart, die Bedienung durch den Hausherrn tadellos – Klimax meines Besuchs. Doch schon Sekunden nach dem letzten Bissen frage ich mich: War sie das jetzt wirklich, meine Sehnsucht?
«Heute haben wir keinen Stress», sagt der redselige Max Schlumpf. Wir sprechen über sein Haus, über illustre Gäste, über vergangene Zeiten. Hinter mir hängt Hieronymus im Goldrahmen, Schlumpfs wertvollstes Bild. Gemalt habe es vor 500 Jahren ein Schüler des Uffizien-Architekten und Medici-Hofmalers Giorgio Vasari. Kirchenvater Hieronymus war ein radikaler Asket, unter seiner Aufsicht hungerten sich Menschen zu Tode. Ich sage zu Max, dass Hieronymus wohl keine Freude gehabt hätte an meinem Besuch in der Park Villa, doch Max beruhigt mich mit dünner Stimme: «Hieronymus gönnt dir das, du bist ja noch jung, du kannst noch zur Erkenntnis kommen.»
Der Hausherr selbst ist bereits zur Erkenntnis gekommen. Von Social Distancing und Risikogruppen mag der 72-Jährige nichts wissen. «Ich glaube an Gott», sagt er. «Ich glaube, dass wir verschont bleiben.» Absolution von ganz oben, wie praktisch!
Nach dem Essen schleiche ich durchs leere, mit schweren Teppichen ausgelegte Treppenhaus zur Nummer 29. Die Minibar lockt kurz, doch bald schon sinke ich in die weichen Daunen und in einen traumlosen Schlaf.
Am Morgen dusche ich mit Rheinsicht, dann wird die Genuss-Maschinerie sofort wieder hochgefahren. Doch der Kaltstart überfordert den noch vollen Magen. Ich kämpfe mit dem Rührei. Harmoniert die Grapefruit mit russischem Balik-Lachs? Gipfel oder Vollkornbrot? Die Tageszeitung findet kaum Platz auf dem Frühstückstisch.
Ich gebe auf, lege 200 Franken auf die Reception, sage adieu, verlasse diese wattierte Welt und nehme die Passerelle, zurück in die leere Stadt – zurück ins Leben.
Hier geht’s zum Hintergrundgespräch über den Artikel mit Radio Rasa.