Das Coronavirus zwingt uns, auf Distanz zu gehen. Den meisten macht das Mühe.
Für Menschen mit sozialen Phobien ist es die Rettung.
Dieser Tage, wenn die Welt den Atem anhält, fühlt sich der Frühling seltsam an. Schön, aber seltsam. Die Menschen laufen wie auf rohen Eiern durch die Stadt. Wehe, man kommt sich zu nahe. Wir schleppen unsichtbare Schutzwände mit uns herum, winken von weitem und sind ganz leise. Tamara nicht. Ihre Stimme ist fröhlich und laut. Ein herzerwärmender Singsang, der jeden Schutzwall mühelos einreisst. Die rohen Eier klatscht Tamara an die Wand und tänzelt noch drauf herum. Vielleicht tut es auch ihr Elefant.
Aber nun von vorne. Tamara ist 21 Jahre alt. Ihre rotgefärbten Haare lodern in der Sonne. Hinter der violetten Fifty-Sonnenbrille blitzen schelmische Augen hervor, an jedem Finger steckt ein Ring, Bänder und Ketten hängen ihr um den Hals. Tamara hört gerne Metal und trägt dabei pinke Kleider. Sie ist immer pünktlich. Sie duftet nach Zuckerwatte. Und wenn sie mal angefangen hat zu sprechen, sprudeln die Worte nur so heraus.
Die Kurbel im Kopf
Nur auf den zweiten Blick merkt man, dass etwas nicht ganz stimmt. Tamara rutscht auf der Sitzbank hin und her, nimmt die Beine hoch und wieder runter, kramt aus ihrer Riesentasche einen kleinen Plastikball hervor.Ständig zieht sie an ihren Kleidern. Ihre Hände sind rastlos. Tamara hat Angst. Sie lächelt, lacht, schaut weg und dann wieder direkt in die Augen. «Ich bin nervös», bricht es aus ihr heraus.
Die junge Frau leidet an einer Angststörung. Die offizielle Diagnose, die sie seit rund zwei Jahren mit sich herumträgt, heisst soziale Phobie. Das ist nach der psychiatrischen Definition die «Furcht vor prüfender Betrachtung durch andere Menschen, die zu Vermeidung sozialer Situationen führt». Expertinnen und Experten schätzen, dass 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung eine Angststörung haben, die Frauen härter trifft als Männer: Die Quote ist bei ihnen 2,5-mal höher.
Im Kopf hämmern die Gedanken: «Ich werde verrückt. Ich sterbe gleich.»
Diese Menschen kämpfen jeden Tag. Bereits beim Aufstehen beginnt das Herz an zu rasen. Die Welt mit all ihren Erwartungen fällt über sie her, alle Blicke sind auf sie gerichtet. Jedes Urteil ist fies, jede und jeder könnte, nein, will ihnen etwas Böses. Sie genügen nicht, sind wehleidig, dumm, hässlich, schwach.
Zumindest reden sich diese Menschen das ein. Das Selbstbild von Soziophoben ist stark verzerrt und massgeblich von der Meinung anderer abhängig. Sie fürchten, kritisiert, blossgestellt oder erniedrigt zu werden, selbst in den gewöhnlichsten Alltagssituationen. Für Tamara heisst das, dass sie nur ungern an einer Bushaltestelle wartet. Sitzen da schon andere, wird es schwierig. Dann kurbelt es im Kopf: «Sie beobachten mich. Sie sprechen über mich. Sie finden mich hässlich. Sie finden mich dumm.» Das kleine Teufelchen, das sich da oben eingenistet hat, zeigt mit dem Finger und meint: «Ha, schau Tami, sie tuscheln. Was sagen die echt über dich? Sicher was Böses.» Ihr Puls meint dann, er müsse lossprinten. Die Körpertemperatur steigt und der Schweiss fliesst hemmungslos die Schläfen herunter. Der Atem wird kürzer und die Hände taub. «Ich weiss, wie irrational das tönt», kommentiert sie sich selbst, «ich weiss, dass es nicht echt ist, nur für mich fühlt es sich echt an.»
Wenn es sie richtig erwischt, dann artet das in einer Panikattacke aus. Dann hyperventiliert sie nur noch. Seh- und Hörvermögen verschwinden plötzlich, vom starken Zittern brechen ihr die Beine weg. Nicht selten muss sie erbrechen, im Kopf hämmern die Gedanken: «ich werde verrückt», «ich sterbe gleich».
Liebe, Häme und Spott
Als ihre Angststörung auftauchte, passierte das jeden Tag, manchmal mehrere Male hintereinander. Die längste Attacke ging über zwei Stunden. Da war sie am Bahnhof Winterthur, wo sie aus dem Zug gestürmt und zusammengebrochen war. Niemand hat ihr geholfen. Niemand fragte nach, was los sei, niemand. «Wahrscheinlich dachten alle, ich sei auf Drogen», meint sie und lacht. «Drogensüchtige verdienen ja keine Hilfe, gäll.» Helfen musste sie sich selbst. Sie rief Freunde, ihre Mutter an, vergeblich. Erst ihr damaliger Chef nahm das Telefon ab. Gerade jener Mensch, vor dem sich Tamara am meisten fürchtete. «Das war das Schlimmste, was ich jemals durchmachen musste», dass sie dann noch vor ihrem Chef Schwäche zeigen musste, war zu viel.
Dass sie schwach sei, hat Tamara schon oft gehört. Schon als Kind in der Schule, wo harmlose Hänseleien über die Jahre zum beinharten Mobbing wurden. Tamara, die eigentlich verzweifelt nach Anschluss und Akzeptanz sucht, gerät ständig an falsche Freunde, will sich anpassen, will geliebt werden und bekommt zum Dank nur Häme und Spott. Später, als sie eine Lehre als Köchin anfangen und endlich vom ganzen Schulstress wegkommen kann, wird es nur noch schlimmer: «Ich musste 15 Stunden am Tag arbeiten und wurde ständig fertig gemacht. Eine Oberstiftin hat mich mal im Kühlraum eingesperrt. Mein Chef hat regelmässig Teller nach mir geworfen», sagt sie, in den Tag startet sie mit Kotzen, in den Schlaf muss sie sich weinen. Die Angst kommt unkontrolliert und überwältigend. Einkaufen, Zugfahren, in einer Gruppe stehen, egal, ob in der Nacht im Ausgang oder am helllichten Tag, nichts geht mehr.
Social Distancing als Ausweg
Um allem zu entkommen, zieht sich Tamara immer mehr zurück. Ein Jahr lang schliesst sie sich zuhause ein. Und fängt an zu putzen. Zuerst als Zerstreuung, dann als Routine, irgendwann wurde es zum Zwang. Eine typische Begleiterscheinung von Angststörungen. Raus geht sie nicht mehr: «Ich hatte nur noch Kontakt zu meinen Eltern, enge Freunde sah ich nur noch selten», erzählt sie.
Isolation ist für Menschen mit sozialen Phobien oft der einzige Ausweg. Nach dem Prinzip: Was mir Angst macht, meide ich. Nur macht ihnen irgendwann jede menschliche Interaktion Angst. Ein Phänomen, das auch soziologische Auswirkungen haben kann. In Japan gibt es eine ganze Bewegung von Menschen, die sich freiwillig in die Selbstisolation begeben, die Hikikomori. Meistens junge Männer, die sich weigern, das Elternhaus zu verlassen, und irgendwann jeglichen Kontakt mit der Aussenwelt einstellen.
Auch Katastrophen und grosse Krisen können zu einem kollektiven Rückzug führen. Das Phänomen, das seit den 1980er Jahren von Soziologinnen und Soziologen beobachtet wird, nennt sich Cocooning. Man zieht sich dann freiwillig in die eigenen vier Wänden, zurück, igelt sich ein, verpuppt sich quasi aus Angst vor einer diffusen Bedrohung.
Das Social Distancing, das uns das Coronavirus aufzwingt, ist im Grunde genommen eine Form von Rückzug. Für viele Soziophobe ist er der Kompromiss, um trotzdem unter Menschen zu gehen. «Zwei Meter sind eine recht weite Distanz, das merken nun alle. Ich fühle mich so erst wohl, dann habe ich Platz», meint Tamara. Vor dem Virus selbst hat sie keine Angst, aber wohl vor der Massenpanik, die hätte ausbrechen können. «Ich habe mir die ganzen Leute vorgestellt, die Regale leer räumen, sich anschnauzen, dicht aneinander im Laden stehen. Schrecklich. Das macht mir grosse Angst.» Angst vor der Angst der anderen.
«Manchmal zerquetscht mein rosa Elefant das Teufelchen so richtig. Das ist richtig gut.»
Gekommen ist es anders. Wir sind diszipliniert und vernünftig. Für Tamara ist das sehr beruhigend. Das Verhalten, das alle an den Tag legen – öfters Hände waschen, weniger Körperkontakt, alleine unterwegs und meistens zuhause sein – ist für die junge Frau ganz angenehm. Momentan geht es ihr gut. Nach einem Klinikaufenthalt, einer intensiven Therapie und der Einnahme von Medikamenten ist es nicht mehr die Angst, die sie im Griff hat, sondern umgekehrt. Die Panikattacken kommen noch ein- bis zweimal in der Woche: «Ich kann meine Ängste nun besser kontrollieren», sie habe auch gelernt, was zu tun sei: sich ablenken. Wenn negative Gedanken die Überhand nehmen wollen, überlistet sie sich mit positiven Glaubenssätzen: Ich sehe gut aus. Meine Freunde mögen mich. Wenn die Panik ausbrechen will, fragt sie sich: Wann habe ich Geburtstag? Welche Farbe hat die Sitzbank? Und sie hat sogenannte Skills, die ihr helfen. Kleine Gegenstände, an denen sie sich festhalten kann, wie ihr Stressball.
Oder eben ein kleiner Elefant aus Glas, den sie immer dabei hat. Der stehe für den Elefanten in ihrem Kopf, er beschütze sie und trete das Teufelchen, das sie in die Irre führen will: «Manchmal zerquetscht mein rosa Elefant das Teufelchen so richtig. Das ist richtig gut.» Die Angst wird dann ganz klein und Tamara ganz gross.