Markus Schneemann, Chefarzt für Innere Medizin der Spitäler Schaffhausen, über Leute, die das Coronavirus verharmlosen, Politiker, die ein rasches Ende des Lockdowns fordern, und Kurzarbeit an Privatkliniken.
Im Schaffhauser Kantonsspital werden zurzeit 13 Personen behandelt, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben. Davon sind zwei auf der Intensivstation. In den letzten Wochen haben die Spitäler Schaffhausen die Kapazitäten erhöht und zusätzliche Beatmungsplätze eingerichtet. Inzwischen sind vier Wochen vergangen, seitdem im Kanton Schaffhausen der erste Coronafall diagnostiziert wurde.
AZ Markus Schneemann, wie ist die aktuelle Lage am Kantonsspital? Und wie geht es dem Personal? Es gab ja einzelne Mitarbeitende, die sich mit dem Coronavirus infiziert haben.
Markus Schneemann Den meisten geht es wieder gut. Sie sind zurück im Spital und arbeiten wieder. Die Mitarbeitenden sind generell gut vorbereitet und motiviert. Das finde ich sehr positiv. Wir erwarten aber in den nächsten Wochen einen weiteren Anstieg an Patientinnen und Patienten.
Wie hat sich Ihr persönlicher Arbeitstag seit Beginn der Krise verändert?
Die Arbeit hat sich schon enorm erhöht. Es gab viele Vorbereitungsaktionen. Wir haben einen Führungsstab gegründet, der sich täglich trifft und es gibt eine Gruppe, die sich um die hygienischen Massnahmen kümmert. Dazu kommt ein reger Austausch über Telefon und E-Mail mit Kolleginnen und Kollegen aus dem In- und Ausland. Diese Kontakte sind sehr hilfreich. Es ist wichtig, zu wissen, was andere machen, damit man vergleichen kann, wo man selber steht.
Wenn Sie zurückblicken: Der Bundesrat hat zuerst Veranstaltungen ab 1000 Personen verboten, dann ab 50, danach wurden alle Bars und Läden geschlossen. War das die richtige Strategie oder hätte man schon früher alles dicht machen müssen? Ging dadurch wertvolle Zeit verloren?
Hinterher ist man natürlich immer schlauer. Es gibt dazu verschiedene Ansichten. Adriano Aguzzi vom Unispital Zürich hat schon relativ früh gesagt, es brauche noch striktere Massnahmen. Aber ich glaube, das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat ziemlich gut reagiert und stets die Massnahmen getroffen, die zum jeweiligen Zeitpunkt in der Bevölkerung die nötige Akzeptanz gefunden haben.
Hat die Schweiz aus Ihrer Sicht genügend Vorkehrungen für eine solche Krise getroffen?
Ich kenne generell kein westliches Land, das wirklich gut auf diese Pandemie vorbereitet war. Im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern sind wir schon gut aufgestellt, aber wenn wir Länder wie Taiwan, Singapur oder Südkorea betrachten … So gut war kein westliches Land vorbereitet.
«Wir werden an die Grenzen unserer Kapazitäten kommen.»
Markus Schneemann
Haben Sie eine Erklärung dafür?
Es gab Empfehlungen von verschiedenen Seiten. Da ist der berühmte «TED Talk» von Bill Gates aus dem Jahr 2015, der damals vor einer grossen Grippeepidemie warnte. Wenn man dieses Video jetzt wieder anschaut, dann realisiert man: Er hat eigentlich recht behalten. Aber zum damaligen Zeitpunkt gab es in der Politik der westlichen Länder keine Akzeptanz, um sich genügend vorzubereiten.
Der Kanton Schaffhausen hat einen Pandemieplan, datiert vom Januar 2016. Laut diesem Plan werden in der schlimmsten Woche im Kanton Schaffhausen rund 100 Personen hospitalisiert werden müssen, davon 16 auf den Intensivstationen. Könnte das Kantonsspital so viele Patientinnen und Patienten behandeln?
Die Angaben im Pandemieplan basieren auf Berechnungen mit einem Grippevirus. Das ist nicht ganz mit dem neuen Coronavirus vergleichbar, deshalb ist es schwierig, Prognosen zu machen. Wir werden sicher an die Grenzen unserer Kapazitäten und unserer Belastbarkeit kommen. Wann das sein wird, kann man noch nicht vorhersagen.
In diesem Pandemieplan steht auch, dass im Kanton Schaffhausen 80 Personen sterben werden. Ist das eine realistische Annahme?
Das ist momentan sehr schwierig abzuschätzen. Aktuell gibt es neue Berichte aus der Lombardei, wonach die Anzahl Todesfälle, die auf das neue Coronavirus zurückzuführen sind, wahrscheinlich noch viel höher ist, als die aktuell bekannten Zahlen. Das gleiche gilt für China. Das hängt nicht damit zusammen, dass falsch berichtet wird, sondern weil beispielsweise Italien zurzeit derart überrollt wird, dass man das Ausmass erst richtig feststellen kann, wenn wieder eine gewisse Ruhe eingekehrt ist.
Schaffhausen hat schweizweit pro Einwohnerin und Einwohner die wenigsten Fälle. Woran liegt das? Haben wir bis jetzt einfach Glück gehabt?
Ja, wir haben auch Glück gehabt. Unser grosses Nachbarland im Norden, Deutschland, ist mit der Pandemie später dran als wir. Vergleichen Sie das mit den Kantonen Tessin, Genf und Waadt, deren grosse Nachbarländer Italien und Frankreich früher und härter getroffen wurden. Und man muss dazu sagen: Die Zahlen in den verschiedenen Regionen sind schwierig zu interpretieren, weil es Länder und Kantone gibt, die sehr viel testen, und andere, die weniger testen.
Heisst das, Schaffhausen testet vergleichsweise wenig?
So einfach ist es nicht. Die Empfehlungen des BAG, wer getestet werden soll, sind klar. Die Frage ist, wie viele Personen auch wirklich ins Abklärungszentrum kommen, um sich testen zu lassen, wenn sie Beschwerden haben.
Es gibt also auch in Schaffhausen eine gewisse Dunkelziffer?
Ganz sicher ja.
Wie lange lässt sich denn der aktuelle Betrieb am Kantonsspital überhaupt aufrecht erhalten? Eine der getroffenen Massnahmen war ja, nicht dringliche Operationen abzusagen. Aber diese Operationen können nicht ewig herausgezögert werden.
Richtig. Dieses Problem gibt es aber in der gesamten Schweiz und es drängt sich deshalb eine vom Bund gesteuerte Lösung auf, damit nicht jeder Kanton eigene Massnahmen ergreift. Der Bund ist ja auch daran interessiert, dass es keine grossen Unterschiede zwischen den Kantonen gibt.
Jetzt sind in Schaffhausen Soldaten im Einsatz, ausserdem ruft der Kanton dazu auf, dass sich freiwillige Helferinnen und Helfer mit einer Ausbildung im Gesundheitswesen für einen Einsatz melden sollen. Gleichzeitig haben alle Privatkliniken des «Swiss Medical Network» Kurzarbeit angemeldet, dazu gehört auch die Klinik Belair auf der Breite. Das können vermutlich nicht viele Leute nachvollziehen.
Das hat mich auch sehr gestört. Ich habe einen Aufruf an die Ärzteschaft bei uns im Kanton verfasst. Es kann nicht sein, dass in der gesamten Schweiz angeblich für 20 000 Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte Kurzarbeit angemeldet wird, während wir besorgt sind um unsere Alters- und Pflegeheime. Das ist für mich der grösste Punkt, der noch zu klären ist: Die Versorgung der Risikogruppen zuhause mit der Spitex oder in Alters- und Pflegeheimen. Das muss noch organisiert werden.
Die Klinik Belair hält gegenüber der AZ fest, sie habe den Spitälern Schaffhausen von Anfang an eine Zusammenarbeit angeboten.
Die Vorstellungen, wie eine Zusammenarbeit zwischen der Klinik Belair und den Spitälern Schaffhausen aussehen könnte, gingen auseinander. Wir haben der Klinikleitung in persönlichen Gesprächen aufgezeigt, welche Unterstützung uns bei der Bewältigung der aktuellen Corona-Pandemie helfen würde. Und wir hatten das Gefühl, das könne das Belair leisten. Die Entscheidung liegt jetzt bei der Regierung und bei der kantonalen Führungsorganisation, wie damit umzugehen ist.
Der Kanton könnte das Belair-Personal aufbieten
Die Privatklinik Belair hat Kurzarbeit angemeldet. Corina Müller-Rohr, Direktorin der Klinik, bestätigt gegenüber der AZ eine entsprechende Meldung der Schaffhauser Nachrichten vom Dienstag. Weiter schreibt Corina Müller-Rohr, die Klinik Belair sei bereit, bei der Bewältigung der Corona-Krise mitzuhelfen. «Wir haben deshalb den Spitälern Schaffhausen von Anfang an unsere Zusammenarbeit angeboten und werden uns zugewiesene Patientinnen und Patienten auch aufnehmen.» Diese Darstellung relativiert Markus Schneemann im Interview. Offensichtlich ist man sich nicht einig geworden.
Nun hat der Regierungsrat gestern, Mittwoch, mitgeteilt, dass sie eine Verfügung über alle Kliniken und Heime des Kantons erlassen hat. Eine Notverordnung des Bundesrates lässt das zu. «Für den Fall, dass die Kapazitätsgrenze der Spitäler Schaffhausen überschritten wird», könnte die Regierung bestimmen, dass das Personal des Belairs am Kantonsspital eingesetzt wird. Ziel sei es, die Ressourcen «zielgerichtet dort einzusetzen, wo sie zur Bewältigung der Krise den grössten Nutzen bringen». Auf die Frage, warum eine solche Bestimmung nicht schon früher erlassen wurde, schreibt Gesundheitsdirektor Walter Vogelsanger (SP), die Regierung müsse «laufend Entwicklungen antizipieren, die ausserhalb unseres Erfahrungshorizonts liegen». Es sei nicht einfach, «das Personal der einen Institution in die andere zu integrieren».
Kurz nach Beginn der Krise monierten Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen, dass Patientinnen und Patienten zu spät ins Notfallzentrum kommen. Beispielsweise hätten Personen mit Bauchschmerzen erst dann den Notfall aufgesucht, als ihr Blinddarm bereits geplatzt war. Früher hiess es dagegen oft, die Leute würden den Notfall zu häufig wegen Kleinigkeiten aufsuchen. Ist es nicht verständlich, dass die Leute in der aktuellen Situation zweimal darüber nachdenken, ob es wirklich nötig ist, das Notfallzentrum aufzusuchen?
Wir haben einen Aufruf gemacht, dass Personen, die Brustschmerzen, Bauchschmerzen, Lähmungen oder andere Beschwerden haben, ihren Hausarzt anrufen oder ins Notfallzentrum kommen sollen. Wir haben vor Ort die Wege für Corona-Verdachtsfälle und für andere Patientinnen und Patienten klar getrennt. Man braucht keine Angst davor zu haben, dass man sich im Spital mit dem neuen Coronavirus ansteckt. Inzwischen hat sich das aber auch richtigerweise wieder etwas normalisiert. Die Leute telefonieren mit dem Hausarzt, der die Beschwerden einordnet, und sie kommen vorbei, wenn es nötig ist.
Schauen wir nach vorne. Das Virus wird uns noch einige Zeit begleiten. Gleichzeitig werden die Stimmen aus der Wirtschaft und der Politik immer lauter und zahlreicher, die ein Ende des Lockdowns fordern. Österreich hat bereits einen Ausstiegsplan bekannt gebeben. Wann ist eine Aufhebung der aktuellen Massnahmen aus medizinischer Sicht verantwortbar? Es könnte ja sein, dass die Zahl der Infizierten dann wieder ansteigt und von vorne begonnen werden muss.
Ich befürchte, dass so etwas in Österreich passieren wird. Über Lockerungen und die Zeit nach dem Lockdown nachzudenken, finde ich schon richtig. Aber es geht auch darum, was für Massnahmen nötig sein werden, damit sich das neue Coronavirus nicht wieder unkontrolliert ausbreitet. Dazu gibt es verschiedene Ideen. Es ist eine Tracking-App im Gespräch, um Kontakte nachzuverfolgen. Beim Thema Überwachung wie auch bei anderen Massnahmen wird man aber auch immer darauf achten müssen, wie gross die Akzeptanz in der Bevölkerung ist.
Vor allem Grossveranstaltungen wie Fussballspiele in Italien oder Karnevalveranstaltungen in Deutschland haben dazu geführt, dass sich das Virus sehr schnell verbreitet hat und danach nicht mehr zurückverfolgt werden konnte, wer wen angesteckt hat. Dänemark hat deshalb bereits jetzt alle Grossveranstaltungen wie Musikfestivals bis Ende August abgesagt. Wird man das auch in der Schweiz machen müssen?
Festzulegen, wie man vorgeht, gehört zu den schwierigen Aufgaben der Politik. Grossveranstaltungen sind sicher ein Thema. Ich will aber dazu keine Ratschläge abgeben, das überlasse ich dem BAG. Bis jetzt waren die Empfehlungen des BAG immer angemessen. Deshalb ist es gut zu wissen, dass Daniel Koch, obwohl er schon pensioniert wäre, weiterhin im Amt bleibt.
Politiker wie Roger Köppel kritisieren, die getroffenen Massnahmen seien im Verhältnis zu den entstandenen Kosten in Milliardenhöhe nicht verhältnismässig.
Da muss ich den Kopf schütteln. Wenn einer dieser Politiker dann selbst erkrankt, wird er seine Perspektive sicherlich ändern. Boris Johnson wäre wohl ein Beispiel, wenn man ihn jetzt fragen könnte. Es steht jetzt schon fest, dass die meisten Länder das Virus unterschätzt haben. In Schweden meinten sie, es werde nicht so schlimm. Jetzt sind sie dort aber auch am Umschwenken, weil sie merken, wie heimtückisch und gefährlich das Virus ist.
Es gibt trotzdem immer noch einige Leute, die all die Massnahmen als übertrieben ansehen und das Coronavirus mit einer Grippe vergleichen. Sogenannte Experten verbreiten diese Meinungen via Youtube-Videos.
Das sind häufig Theoretiker, die nicht mit Patientinnen und Patienten arbeiten, keine praktische Erfahrung haben und sich nur mit Zahlen beschäftigen. Es gibt ein gutes Video der Youtuberin «maiLab», das kann ich allen empfehlen (Anmerkung der Redaktion: «Corona geht gerade erst los»). Da stehen seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dahinter.
«Die Solidarität und Mitarbeit von allen ist gefragt.»
Markus Schneemann
Macht Sie das wütend, wenn Leute das neue Coronavirus verharmlosen?
Ja, mich macht das hässig, weil es um Leben und Tod geht; es geht um unsere Mitmenschen. So leichtfertig darüber zu reden, finde ich unverantwortlich.
Was hat die Krise mit Ihnen persönlich gemacht?
Haben Sie einmal daran gedacht, was Sie machen würden, wenn Sie entscheiden müssten, wen Sie beatmen und wen nicht?Das werden sehr schwierige Entscheide sein. Wir haben das bereits an mehreren Sitzungen besprochen, wie wir dann am klügsten vorgehen sollten. Das betrifft auch Ärztinnen und Ärzte der anderen Spitäler. Wir hoffen, dass wir so gut organisiert sind, dass wir nicht in eine solche Situation kommen werden. Wir sind glücklicherweise mit unseren Nachbarkantonen im Austausch und hoffen, dass wir uns gegenseitig unterstützen. Die Solidarität und Mitarbeit von allen ist gefragt.