Alternative Ansichten

12. April 2020, Marlon Rusch
Damir Zizek und «cogito», lateinisch für «ich denke». Foto: Peter Pfister

Covid-19 sei eine einfache Grippe, der Lockdown ein Staatsstreich, die Wissenschaft korrupt. Was treibt die Zweifler an?

Das Video, von dem man meinen könnte, damit sei die Schmerzgrenze erreicht, beginnt folgendermassen:

«Mein Name ist Dr. Bodo Schiffmann von der Schwindelambulanz in Sinsheim. Es sind noch fünf Tage bis Karfreitag. Christen gedenken an diesem Tag dem Leiden von Jesus Christus, der am Kreuz gestorben ist – mit einer Dornenkrone auf dem Kopf. Und Corona heisst Krone.»

Das 20-minütige Video strotzt vor wirren Gedanken und Ausführungen. Der dubiose Schwindel­experte Schiffmann leitet unter Beizug diverser Zahlen und Kurven her, dass es deutlich weniger Covid-19-Tote gebe als gemeinhin behauptet wird. Schiffmann, selbst gläubiger Christ, leidet darunter, dass öffentliche Institutionen wie Kirchen geschlossen sind. Der Lockdown ist ihm ein Graus. Also geht er dagegen vor – mit Hilfe der «Wissenschaft».

Zwei Tage nach Veröffentlichung haben sich bereits 350 000 Menschen Schiffmanns Ausführungen angehört. Einer von ihnen ist Damir Zizek. Das Video ist eine von zahlreichen Dateien, die der Schaffhauser Regisseur der AZ in den vergangenen Tagen zugeschickt hat, zusammen mit seitenlangen Abhandlungen, die beweisen sollen, dass die Coronapandemie weder eine Pandemie sei, noch gefährlicher als eine gewöhnliche Grippe.

Zizek spricht von «Viren-Wahn», sensationsgeilen Medien, diabolischen Virologen, einem «Staatsstreich mit internationalem Ausmass, der vor das höchste Zivilgericht Europas gehört». Er sagt, er sehe sich als «Aufklärer der Vernunft». Die Ergebnisse seiner Recherchen verschicke er, «um die Leute aufzuwecken». Der Mann hat einen ausgeprägten Missionierungsdrang.

Für gewöhnlich sind solche E-Mails kein Anlass für journalistische Recherchen. Verschwörungstheorien sind kein neues Phänomen, es gibt zu jedem Ereignis mit einer gewissen Bedeutung Menschen, die dem gängigen Narrativ misstrauen. Doch das Coronavirus erweist sich gerade als nahezu perfekter Nährboden für alternative Thesen.

Die AZ hat in den vergangenen Tagen Nachrichten von verschiedenen Leserinnen und Lesern erhalten, die Zweifel äussern am Umgang der Welt mit Covid-19. Alle monieren dasselbe: «Es gibt auch andere Meinungen, und die werden konsequent totgeschwiegen.»

«Meinungen», sagen sie. Wie wenn der Grad der Tödlichkeit und die Infektionsrate eines Virus weniger mit Naturwissenschaft zu tun hätte als mit gutem oder schlechtem Geschmack.

Doch nicht alle Menschen, die den anerkannten Experten, den Bundesämtern und Regierungen misstrauen und eine Verschwörung wittern, machen den Anschein, als seien sie ganz allgemein überfordert mit der Welt. Viele sind gut gebildet, machen sich viele Gedanken – wie Damir Zizek.

Wieso sind sie denn so anfällig auf Verschwörungstheorien?

Vor dem Hintergrund dieser Frage sollte man Damir Zizek vielleicht doch zuhören.

«Wodarg hat mich geheilt»
Ein paar Tage später in Zizeks Garten: Die Sonne scheint, der SHpektakel-­Macher serviert Kaffee und Gipfeli. Dann redet er zwei Stunden lang und hätte locker noch zwei weitere reden können. Oft ist es schwer, seinem Pfad zu folgen.

Seine Erzählungen decken sich erstaunlich mit dem, was andere «Skeptiker» der AZ im Gespräch erzählt haben.

Zizek sagt, am Anfang seiner Skepsis sei ein Gefühl gewesen: «Da läuft etwas total schief.» Doch er wusste nicht, was. Dann tauchte in einem Video, das Zizek zugeschickt bekam, ein Mann auf: Professor Wolfgang Wodarg.

Der 73-jährige Lungenarzt ist quasi der «Patient zero» der coronalen Verschwörungstheorien – alle, die den «Mainstream-Medien» in Sachen Covid-19 nicht vertrauen, beziehen sich früher oder später auf ihn. Auch mehrere AZ-Leser. Ein Mann mit weisser Bobfrisur und grünem Cordjakett referiert in grossväterlichem Ton über Viren. Ein Video wie aus der Zeit gefallen. Doch Wodarg kann durchaus Expertise vorweisen. Er hat das Gesundheitsamt der Stadt Flensburg geleitet, sass 15 Jahre lang für die SPD im deutschen Bundestag. «Dieser Mann», so Damir Zizek, «hat mich im Kopf geheilt».

Wodargs kurze, millionenfach geklickte Videos tragen pathetische Namen wie «Stoppt die Corona-Panik» oder «Krieg gegen die Bürger», doch seine Ausführungen klingen einleuchtend – und sind in weiten Teilen auch korrekt. In einigen Punkten macht er jedoch Fehler, und die können zu fatalen Fehlannahmen führen.

Die Methode der Verschwörungs-Gurus ist seit Jahrzehnten die gleiche: Sie bombardieren einen mit wissenschaftlichen Studien, mit Kurven, Grafiken und durchaus plausiblen Berechnungen. Es sind lange Herleitungsketten, die schnell vollständig in sich zusammenstürzen, weil kleine aber wichtige Details falsch sind und somit auch das Resultat der gesamten Herleitung. Das Problem: Als Laien, und das sind wir alle, bemerken wir das nicht.

Wodargs Kernaussagen sind simpel: Das Virus ist gar nicht neu, es ist die Mutation eines bekannten Coronavirus. Das Virus ist nicht so ansteckend, wie behauptet wird; im Grunde ist es nicht schlimmer als eine herkömmliche Grippe. Hätte man nicht angefangen, auf das Virus zu testen, hätten wir es nicht einmal bemerkt. Die Menschen sterben mit dem Virus, nicht wegen dem Virus. Dass wir testen, liegt daran, dass es Mächte gibt, die ein Interesse an einer Massenpanik haben: Die Chinesen etwa, die so ihr repressives Überwachungssystem verstärken können. Oder die Wissenschaftler und die Weltgesundheitsorganisation, die auf diese Weise ihre Tests und später ihre Medikamente und Impfstoffe verkaufen können.

Zwei einsame Kreise
Verschwörungstheoretiker wie Professor Wodarg haben eine perfide Strategie: Sie werfen dem «Mainstream» vor, sich nur auf sich selber zu beziehen. Experten beziehen sich auf andere Experten, Medien beziehen sich auf Experten, Medien beziehen sich auf Medien, Politiker beziehen sich auf Experten und Medien. Und so stecken irgendwann alle unter einer Decke – und verdienen sich eine goldene Nase.

Dabei tun das die Verschwörungstheoretiker selber: Es ist immer die selbe Handvoll einschlägige «Experten» (Schiffmann, Wodarg, Bhakdi, Köhnlein, Hockertz), die selben Plattformen (Swiss Propaganda Research, KenFM, Rubikon, Klagemauer TV), die zitiert werden.

So entsteht eine in sich geschlossene Parallelwelt, die völlig abgekoppelt ist vom herkömmlichen Diskurs. Man kann sich zwei Kreise ohne Schnittfläche vorstellen. Man diskutiert vielleicht miteinander – spricht aber nicht einmal die selbe Sprache.

Fragt man Damir Zizek in seinem Garten, warum in der Lombardei die Menschen auf einmal zu Tausenden sterben, wo das Virus doch nicht ansteckender und tödlicher sei als eine herkömmliche Grippe, antwortet er: «In der Lombardei gibt es eine grosse Kohlenmonoxyd-­Dichte in der Luft. Die Leute leiden chronisch an Atemwegserkrankungen. Ausserdem sind die Spitäler schon lange totgespart worden.» Fragt man dann nach, warum die Leute denn nicht auch schon vorher in so grosser Zahl gestorben seien, antwortet Zizek: «Die Panikmache der Behörden treibt die Menschen in die Krankenhäuser. Dort werden sie übertherapiert und sterben. Oder sie werden aufgrund der Überlastung unterversorgt – und sterben. Die Panik allein erklärt den exponentiellen Anstieg der Todeszahlen.»

Er zitiert einen Wust von «Experten» und «Studien», die das beweisen sollen. Nach dem Gespräch kommen per Whatsapp alle paar Stunden neue Videos, neue «Beweise». Jeweils mit dem Vermerk: «Alles, was ich gesagt habe, ist mit Fakten belegt!»

Gegenargumente führen zu noch mehr «Beweisen». Beide Seiten ziehen einsame Kreise.

Johnson hat sich absichtlich infiziert
Es ist ein bekanntes Phänomen: Studien belegen, dass Menschen, die an eine Verschwörungstheorie glauben und mit Gegenbeweisen konfrontiert werden, danach noch stärker an ihre Theorie glauben. Michael Butter ist Professor für Kulturgeschichte und leitet ein EU-Forschungsprojekt zur Analyse von Verschwörungstheorien. Er kommt zum Schluss: «Diskutieren bringt nichts.»

Ein unbefriedigender Rat für ein Gespräch mit Damir Zizek. Denn die Fülle an zweifelhaften Argumenten ist gross.

So sagt Zizek etwa, die Briten, die ihr Land durchseuchen wollten, würden «spätestens in einem Monat einen gewaltigen Punktesieg gegen die EU verbuchen und sich selbst die königliche Virenkrone aufsetzen». Wendet man ein, dass Boris Johnson nun ja selbst infiziert sei, entgegnet Zizek, Johnson habe sich vielleicht absichtlich infiziert, um zu beweisen, dass das Virus nicht gefährlich sei. Als am nächsten Tag die Nachricht durch die Medien geht, Johnson sei auf die Intensivstation verlegt worden, schreibt Zizek über Whats­app: «Gibt es Bilder/Beweise von Johnson? Wer hat die Nachricht verifiziert? […] Was schreibt Swiss Propaganda Research darüber? Auch Grippe kann tödlich sein.»

Dennoch betont er, dass er nicht dazu aufrufe, die Weisungen des Bundesrats zu missachten. Er sei ja eigentlich ein folgsamer Bürger.

Die Website Swiss Propaganda Research, die auch von anderen AZ-Lesern immer wieder zitiert wird, sieht die Schweizer Medien als Lakaien im Dienste der US-amerikanischen Geheimdienste und der NATO. Wer hinter der Website steckt, bleibt unklar. Weil die Forscher nicht Opfer «persönlicher Diffamierungen und beruflicher Sanktionen» werden möchten, hätten sie beschlossen, «nicht namentlich aufzutreten».

Wie ein Theaterstück – mit Happy End
Verschwörungstheorien leiden am selben Problem wie die Covid-19-Forschung selbst: Es gibt derzeit kein probates Gegenmittel.

Aber warum schlittern die einen in den Strudel hinein – und die anderen nicht?

Theatermann Damir Zizek sagt, Professor Wodarg habe ihn «im Kopf geheilt». Fragt man ihn, ob er die Argumentation von Bodo Schiffmann tatsächlich nachvollziehen könne, der vom Karfreitag zu Jesus, von Jesus zur Dornenkrone und von der Dornenkrone zum Corona-Virus springe – und in dieser Herleitung Indizien einer Verschwörung entdeckt haben will, sagt Zizek entschieden: «Ja!» Denn er und Schiffmann hätten eines gemeinsam: Beide leiden unter der aktuellen Situation.

Zizek folgt Wodarg und Schiffmann aus persönlicher Betroffenheit. Die Medien würden eine morbide Paranoia auslösen. «Ich war erschüttert über die Panikmache», sagt Zizek. Er habe aufgehört, fernzusehen, weil im TV der ganze Horror gezeigt werde, der ihn persönlich enorm belastet habe. Seine eigene Beschäftigung mit der Materie ist für ihn ein «Heilungsprozess».

Er sagt es und empfindet nichts Komisches dabei. Und er ist nicht allein. Auch andere AZ-Leser haben genau so argumentiert.

Zizek ist Regisseur. Und im Grunde tut er derzeit nichts anderes, als er auch fürs Theater tut: Er recherchiert – und giesst seine Recherchen in ein Stück. Es soll ein Happy End haben.




Quellenkritik!

Ein Kommentar von Marlon Rusch

Bereits Anfang Februar – kein Mensch kannte­ einen Daniel Koch und viele Schweizerinnen und Schweizer dürften bei den drei Buchstaben BAG in erster Linie an eine Tasche gedacht haben – schlug die Weltgesundheitsorganisation WHO Alarm: Die Corona-­Pandemie werde begleitet von einer «massiven Infodemie». Will heissen: Um das Virus ranken sich diverse Mythen und Gerüchte.

Bei der Recherche, die Sie oben lesen, sind der AZ Leserinnen und Leser begegnet, die offen sagen: «Der WHO traue ich nicht, die sind doch halb privatisiert, die wollen nur Impfstoffe verkaufen.»

Willkommen in der Welt der Verschwörungstheorien.

Redet man mit Leuten, die den «Mainstream-Medien» nicht vertrauen und sich lieber anderweitig informieren, hört man immer wieder das eine Begriffspaar: «andere Meinungen». Als ob sie damit beweisen könnten, dass sie mündige, aufgeklärte Menschen seien.

Doch Virologie und Immunologie sind keine Gebiete, bei denen es um «Meinungen» geht. Ich kann dieses Virus doof finden – und trotzdem von ihm getötet werden.

Die Wissenschaft basiert auf Fakten und Tatsachen. Das zu wissen, ist wichtig; es macht die Sache aber nur bedingt einfacher.

Das Virus hat mit atemberaubender Geschwindigkeit die Welt heimgesucht. Einer Geschwindigkeit, bei welcher der Wissenschaftsbetrieb nicht ansatzweise nachkommt. Fachleute verbringen Monate oder Jahre damit, neue Studien und Impfstoffe zu prüfen, bevor sie in Fachjournalen erscheinen oder zugelassen werden. Oder wieder verworfen. Die Wissenschaft ist ein riesiger, hochkomplexer Betrieb, ein Zusammenspiel verschiedenster Akteure, das nach strengen Regeln und Methoden funktioniert. Dabei muss auch Platz sein für Restunsicherheiten und die Möglichkeit, Erkenntnisse zu revidieren. Alles andere wäre unseriös.
Als Laien, und das sind wohl 99,99 Prozent der Leserinnen und Leser dieses Textes, sind wir angewiesen auf Expertinnen und Experten. Aber wem sollen wir trauen?

Das Internet ist ein Labyrinth verschiedenster Argumente und Beweisführungen. Und es bedient den «confirmation bias»: Informationen, die den eigenen Glauben bestätigen, nimmt das Gehirn stärker wahr. Fragt man sich, ob die Erde nicht vielleicht doch flach ist, findet man Millionen angeblich hochseriöser Websites, die behaupten, genau das beweisen zu können.

So ist es auch bei Covid-19.

Unser Gehirn sucht nach Mustern, stellt Kausalitäten her, wo nur Koinzidenzen vorliegen. Es macht Fehler. Und wenn wir nicht aufpassen, verirren wir uns in den Weiten des anarchischen Internets – und landen vielleicht bei gefährlichen Quacksalbern wie Wolfgang Wodarg, die behaupten, das Virus sei ungefährlich, die Massnahmen nichts als Panikmache.

Viele der Menschen, welche «Experten» wie Wodarg glauben, glauben ihnen, weil sie ihnen glauben wollen. Weil sie Sicherheit suchen in einer Welt, die gerade im Begriff ist, einzustürzen.

Aber es geht eben nicht um Glauben oder Wollen – es geht um Fakten.

Deshalb ein Tipp: Wenn Sie dem vermeintlichen «Mainstream» trotz allem nicht vertrauen und sich «unabhängig» im Internet informieren wollen, checken Sie zumindest Ihre Quellen! Googeln Sie den Websites hinterher, die Ihnen «alternative» Ansichten präsentieren, machen Sie sich schlau über den Background der «Experten», die Dinge zu wissen behaupten, die alle anderen Experten nicht wissen. Dann merken Sie hoffentlich, wenn Sie in eine gefährliche Sackgasse geraten sind.