Wie eine junge Tamilin vor einem Schlächter der Tamil Tigers floh, der sie vergewaltigte – und mit Hilfe des Arbeiterhilfswerks SAH die Schweizer Asylpraxis umkrempelte.
Es war ein Bankräubertrick, der Mayuri zur Flucht verhalf. Wenn ihr Peiniger das Haus verliess, stellte er für gewöhnlich Wachen auf. Der Mann war ein hochrangiger Schlächter einer militanten Abspaltung der Tamil Tigers. Mayuri war auf dem Papier seine Ehefrau, in Wahrheit war sie seine Gefangene. Doch an diesem Tag waren keine Wachen da. Also kletterte sie aufs Dach des Hauses – den Ort, an dem sie die Männer am wenigsten vermuten würden.
Wir befinden uns im Herbst des Jahres 2014, doch um Mayuris Martyrium zu verstehen, muss man weitere fünf Jahre in die Vergangenheit reisen.
Die Liberation Tigers of Tamil Eelam, kurz LTTE, war eine paramilitärische Organisation, die für die Unabhängigkeit der tamilisch dominierten Gebiete im Norden und Osten Sri Lankas vom Rest der Insel kämpfte, der von Singhalesen beherrscht wird. Der ethnische Konflikt ist älter als unsere Zeitrechnung – und kostete bereits unzählige Menschenleben. Um neue
Rekruten zu gewinnen, ging die LTTE unzimperlich vor. Schon Zwölfjährige wurden mit Kalaschnikows ausgestattet und mit Prügel zu willenlosen Kampfmaschinen getrimmt. 2004 tauchten die Schergen auch an der Schule des Bruders von Mayuri auf. Doch dieser und seine Freunde weigerten sich, in den Krieg zu ziehen. Und mehr noch: Sie wagten es, gegen die LTTE zu demonstrieren.
Es kam, was kommen musste. Die Paramilitärs nahmen den Bruder mit und machten ihm klar, dass sie seine Familie töten würden, falls er sich ihnen nicht anschliesst. Der Bruder zog in den Krieg, doch während eines blutigen Gefechts desertierte er. Er wurde von den Regierungstruppen aufgegriffen, entkam knapp der Exekution und wurde für ein Jahr in ein Gefangenenlager gesteckt. Danach reiste er schnurstracks in die Hauptstadt Colombo, betrat die Schweizer Botschaft und bekam politisches Asyl. Heute lebt er in Zürich.
Doch mit der Rettung des Bruders begann das Martyrium für die Schwester.
Mayuri erzählt ihre Geschichte in ihrer kargen Wohnung im Krebsbach. An der Wand hängt ein goldgerahmtes Bild. Ein schöner Mann im Anzug, der verstorbene Vater. Ansonsten ist ihr von ihrem früheren Leben nichts geblieben. Die 31-Jährige ist aufgeweckt, redet klar und in gutem Englisch, verstrickt sich nicht, erscheint sehr glaubwürdig. Wir haben ihren Namen geändert, da ihre Mutter nach wie vor in der Gewalt der Männer ist, die sie monatelang gequält haben. «Ich habe jeden Tag Angst um meine Mutter», sagt Mayuri heute, nachdem sie vor dem Schweizerischen Bundesverwaltungsgericht einen Prozess gewonnen hat, der dutzende Asylbewerber retten könnte.
Die Schwester als Geisel
Nachdem der Bruder in die Schweiz geflüchtet war, begannen die Schergen 2009, sie und ihre Familie zu behelligen. Die LTTE hatte sich kurz zuvor gespalten, was die Lage offenbar zusätzlich verschärft hatte. Die abgespaltene Gruppierung brauchte dringend junge Männer für die Front, und am praktischsten war, wenn sie bereits ausgebildet und kampferprobt waren – wie Mayuris Bruder.
Die Familie schickte den anderen Sohn ins Exil nach Indien. Mayuri ersuchte in der Schweizer Botschaft um Asyl. Doch das Gesuch wurde abgelehnt. So schlimm, dachte die Familie, würde es für sie als Frau nicht werden. Sie irrte.
Die Familie war vergleichsweise wohlhabend und gebildet. Doch viel war von ihr nicht mehr übrig. Der Vater war 2008 an einem Hirntumor gestorben. Die Brüder waren ausser Landes. Die Mutter arbeitete als Physik-Lehrerin. Mayuri studierte Biowissenschaften, wollte Akademikerin werden. Doch bald drehte sich das Leben nur noch um die Männer, die immer wiederkamen, um die beiden Frauen zu quälen. Der Bruder solle zurückkehren aus der Schweiz – und kämpfen!
Der Druck nahm immer weiter zu. Die Männer begannen, Mayuri zu vergewaltigen, drei auf einmal. Im Frühling 2010 wollte sie ihrem Leben ein Ende machen – und schluckte Rattengift. Das bestätigt ein ärztliches Attest. Vielleicht, so die Ironie der Geschichte, hat ihr das Attest später noch viel Glück gebracht. Zuerst aber wurde sie 2014 zur Hochzeit mit dem Anführer der Schergen gezwungen, einem Mann, von dem man sagte, er habe mit seinem Schwert dutzende Menschen enthauptet. «Er war wie ein Tier», sagt Mayuri. Auch von ihm wurde sie immer wieder vergewaltigt, er verbot ihr, das Haus zu verlassen.
Bis sie eines Abends aufs Dach ihres Hauses kletterte.
Gefährliche Reise
Es ist ein Trick, den man auch aus Bankräuber-Filmen kennt. Während einen die Polizei nach dem Coup überall sucht und die ganze Umgebung umpflügt, versteckt man sich dort, wo sie einen zuletzt suchen würde: in der Bank selber. Mayuris Tresorraum war das Flachdach ihres Hauses.
Als sie entdeckte, dass ihre Bewacher kurz weg waren, packte sie in Windeseile ein paar Kleider zusammen, kletterte aufs Dach und wartete. Die Nächte im Distrikt Batticaloa im Osten Sri Lankas sind zu dieser Zeit lang und dunkel. Und als die Männer am Morgen noch immer nicht von der Suche zurück waren, stieg sie runter, schlug sich bis Colombo durch, organisierte über einen Bekannten einen falschen Pass – und flog nach Dubai.
Mayuri liess ihren Peiniger hinter sich, nicht aber die Probleme. Was folgte, will sie nicht im Detail erzählen. Sonst komme es nachts in den Träumen wieder hoch.
Nach einem Jahr in Dubai war sie ein Jahr in der Türkei. Dann reiste sie weiter, zuletzt zu Fuss, und wurde schliesslich in Bulgarien aufgegriffen. Gerade in der Türkei habe sie «viele Probleme» gehabt. Sexuelle Gewalt.
Doch auch Bulgarien war alles andere als das gelobte Land. Offizielle Berichte über die Asylsituation in Bulgarien sind erschreckend: Verschiedene Gruppierungen machen systematisch Jagd auf Geflüchtete, von rechtsradikalen Hooligantrupps bis zu Polizisten, die Geflüchtete schlagen und ihnen Geld und Mobiltelefone abnehmen, bevor sie sie in die Camps bringen. Betroffene berichten von regelrechter Folter. Vereinzelt kamen Menschen um. Doch auch in den Lagern fehlte es an allem. Das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter stellte Misshandlung fest. Kaputte sanitäre Anlagen. Ungeziefer. Keine Privatsphäre. Schlechte medizinische Versorgung. Mangelhafte Ernährung. Ein einziges Minenfeld – gerade für eine alleinstehende, junge Frau.
Mayuri erzählt, die Zeit in Bulgarien sei «sehr hart» gewesen. Einmal sei eine kleine Gruppe von Afghanen im Camp totgeschlagen worden. Sie habe das Blut gesehen. Die ersten sieben Monate lebte sie im geschlossenen Lager in Lyubimets im bulgarisch-türkisch-griechischen Dreiländereck – praktisch ein Gefängnis.
Das Problem am bulgarischen Asylsystem sind aber nicht nur die Unterkünfte selbst, sondern auch die Prozesse: Das Asylverfahren ist für viele eine Lotterie, schon weil oft keine Dolmetscher zur Verfügung stehen, um überhaupt kommunizieren zu können. Für Menschen aus Sri Lanka ist das Verfahren so oder so eine Farce: Die Anerkennungsquote in Bulgarien beläuft sich auf null Prozent. Sri Lanka sei sicher, behaupten die Behörden. Die Fluchtgründe, die Schutzbedürftigkeit: spielen faktisch keine Rolle.
Doch wieder hatte Mayuri Glück im Unglück.
Die Schweiz will sie nicht
Die junge Frau stach heraus. Sie sagt, sie sei von den über 50 Asylbewerbern aus Sri Lanka die einzige Frau gewesen im Lager. Ausserdem habe sie ganz offensichtlich massive psychische Probleme gehabt, schwere Depressionen. Und sie sprach Englisch, was es vielleicht vereinfachte, ihr zu helfen.
So nahmen sich das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR und die Internationale Organisation für Migration IOM ihrer an, sorgten für Medikamente, für kurze Besuche bei Psychiatern – und für Rechtsbeistand. So wurde Mayuri nach sieben Monaten vom geschlossenen in ein offenes Lager überstellt. Ihr Asylgesuch war zu diesem Zeitpunkt bereits rechtskräftig abgewiesen. Man muss davon ausgehen, dass die über 50 anderen Asylbewerber nach Sri Lanka zurückgeschafft wurden. Oder aber irgendwann von der prekären und gefährlichen Illegalität und Obdachlosigkeit in Bulgarien verschluckt wurden.
Nach kurzer Zeit im offenen Lager ergriff Mayuri erneut die Flucht. Ein Schlepper pferchte sie mit vielen anderen in einen Van ohne Fenster und fuhr zwanzig Stunden durch halb Europa. Als der Van hielt, war sie auf Schweizer Boden.
Über das Durchgangszentrum in Kreuzlingen landete sie in Schaffhausen, wo sie am 5. Juli 2017 ein Asylgesuch in der Schweiz stellte. Doch dieses wurde erneut abgelehnt. Gemäss Dublin-Abkommen ist das Land für die Prüfung von Asylgesuchen zuständig, über welches die Migrantin nach Europa eingereist ist. Das Schweizerische Staatssekretariat für Migration SEM wollte sie nach Bulgarien zurückschaffen.
Wieder erhielt Mayuri Hilfe. Die Rechtsberatungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht des SAH Schaffhausen reichte Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein und argumentierte, Mayuri sei stark schutzbedürftig. Sie sei angewiesen auf psychiatrische Betreuung, was durch eine Überstellung nach Bulgarien verunmöglicht würde. Doch das Gericht lehnte die Beschwerde ab. Bulgarien, so das Urteil, verletze seine asylrechtlichen Verpflichtungen nicht systematisch. Ausserdem falle die Gesuchstellerin nicht in die Kategorie der «besonders gefährdeten Personen».
Mayuri tauchte unter.
Ein Jahr später wurde sie festgenommen und kontaktierte die Beratungsstelle erneut. Diesmal aus der Ausschaffungshaft im Schaffhauser Gefängnis, wo ein Gefängnispsychiater ihr einen sehr schlechten psychischen Zustand attestierte.
Keine «Systemmängel»
Die Rechtsberatungsstelle wandte sich erneut ans SEM und verlangte eine erneute Überprüfung des Falls. Wieder ohne Erfolg, das SEM wies das Gesuch nach nur zwei Wochen ab. Daraufhin gelangte Mayuri ans Bundesverwaltungsgericht.
Das Urteil, das erst über ein Jahr später gefällt wurde, am 11. Februar 2020, gibt Einblick in die Argumentationslinien. Und es wird die schweizerische Asylpraxis verändern.
Kann eine posttraumatische Störung bewiesen werden, die in Bulgarien nicht therapiert würde? Droht weiterhin Suizid? Weist das bulgarische Asylsystem «systematische Mängel» auf?
Da sich das Gericht so lange Zeit nahm, sagt die Juristin der Rechtsberatungsstelle, Nora Riss, habe sie geahnt, dass das Urteil weitreichende Konsequenzen haben könnte. Sie spricht von einem «guten Fall»: Mayuri habe das Asylverfahren in Bulgarien von A bis Z durchgemacht, sie sei sehr vulnerabel und es gebe Berichte, die ihr eine posttraumatische Belastungsstörung und einen erneuten Selbstmordversuch mit Medikamenten in der Schweiz attestieren. Ausserdem habe sich die Situation seit der ersten Beschwerde vor Bundesverwaltungsgericht verändert.
Ob Mayuri Glück gehabt habe? «Nicht unbedingt Glück», sagt Nora Riss. «Eher gute Voraussetzungen. Gerade dass sie Englisch spricht, hat ihr im Asylverfahren, das oft eine Lotterie ist und von Sachbearbeitern abhängt, sicher enorm geholfen.»
Das Urteil: Wegen ihrer «besonderen Schutzbedürftigkeit» und weil sie in Bulgarien als bereits rechtskräftig abgewiesene Asylbewerberin keinerlei Leistungen mehr erhalten würde, darf sie nicht überstellt werden.
Und mehr noch: Das Gericht hat das Urteil zum «Referenzurteil» erklärt. Künftig muss die Schweiz bei Dublin-Fällen aus Bulgarien den Einzelfall prüfen, bevor sie Asylbewerber überstellen darf. Somit hat Mayuri die Asylpraxis der Schweiz umgekrempelt.
Ein Sechser im Lotto? «Nein», sagt Nora Riss. Sie habe eigentlich gehofft, dass die Schweiz Überstellungen nach Bulgarien ganz verbieten könnte. Aber das hätte Konsequenzen, die Schweiz müsste Bulgarien «Systemmängel» unterstellen. «Es ist natürlich eine Illusion, dass das Asylwesen in Bulgarien fair ist», sagt Nora Riss. «Aber das als Schweiz offiziell zu sagen, das wäre ein Riesending.»
Für Mayuri aber ist das Urteil die Erlösung. Jetzt startet ihr Asylverfahren. Sie hat begonnen, Deutsch zu lernen. Sie sagt: «Ich kann nicht beschreiben, wie glücklich ich bin.»