Christian und die Revolution

17. März 2020, Marlon Rusch
Ein Funkeln in den Augen – die Revolution in der Hand: Christian Müller im «Intrinsic Campus» beim Zürcher Paradeplatz.
Ein Funkeln in den Augen – die Revolution in der Hand: Christian Müller im «Intrinsic Campus» beim Zürcher Paradeplatz.

Alternative PH: Einst hat Christian Müller das Grundeinkommen lanciert.
Jetzt will er die Bildung umbauen – radikal. Zu Besuch bei einem erfrischenden Utopisten.

Nachdem Christian Müller vor wenigen Jahren mit seiner Familie nach Schaffhausen zurückgekehrt war, um zusammen mit anderen Familien eine Villa zu kaufen und eine Wohngemeinschaft zu gründen, kam ihm zu Ohren, dass das alte Pflegezentrum auf dem Geissberg brachliegt. Sofort liefen die Synapsen heiss. Was könnte man anstellen mit dem voll ausgerüsteten Gebäude?­ Ein Restaurant? Ein Hotel? Draussen ein Gemeinschaftsgartenprojekt?

Derartige Ideen kommen vielen, abends mit den Kumpels beim Bier im Spunten. Und morgens im Kater verdampfen sie zusammen mit den Promillen. Doch Christian Müller blieb dran. Er schrieb Mails, nahm den Hörer in die Hand, traf Menschen, kontaktierte den Regierungsrat; er wollte herausfinden, wie man rankommen könnte an die riesige Brache.

Es war ein fast schon unerhörter Vorgang in der trägen Provinz. Da kam einfach einer – und sagte, dass er das Ding jetzt übernehmen will. Dann ging alles ganz schnell. Statt vor einem Berg an Bürokratie zu stehen, hatte Christian Müller offene Türen eingerannt. Wann er denn loslegen wolle, wurde er gefragt. Und womit? Plötzlich war der Aktivist überrumpelt von der wohlwollenden Realität: Ja, was denn jetzt?

Die Episode Pflegezentrum ist typisch für Christian Müller: Gross denken, sich vom Berg nicht einschüchtern lassen, klug lobbyieren, Begeisterung säen – und dann einfach immer weitermachen und schauen, was dabei rauskommt.

2009 schrieb Müller als junger Praktikant in einem Kommentar in der Schaffhauser AZ: «Unsere Gesellschaft könnte es sich leisten, jedem Bürger eine finanzielle Grundausstattung als elementaren Grundsockel zur Verfügung zu stellen.» Zweieinhalb Jahre später stellte er im AZ-Interview sein Buch Die Befreiung der Schweiz vor. Es war der Auftakt zur nationalen Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen», die 2016 mit 23,1 Prozent Ja-Stimmen an der Urne deutlich scheiterte, jedoch auch eine Diskussion lancierte, die danach nicht einfach verschwand.

Daneben baute Christian Müller die Zürcher Gemüsekooperative Ortoloco mit auf, das Vorbild und Pendant zur Schaffhauser Kooperative Bioloca. Ortoloco versteht sich als Ort, der hochwertige Lebensmittel, faire Arbeitsbedingungen und ökologische Produktionsmethoden vereint. Jedoch auch als «Labor für Wirtschaftsexperimente». «Wir haben gesehen, dass die Landwirtschaft nicht funktioniert, dass es Überproduktion gibt, Monokultur, einen hohen CO2-Ausstoss. Ineffizienzen. Ortoloco ist ein Modell, das zeigt, wie man das ändern könnte.»

Das Projekt, das der 38-jährige Ökonom nun lanciert hat, ist quasi die direkte Fortsetzung: Intrinsic Campus.

Kein Stein bleibt auf dem anderen

Will man mit Christian Müller über das «Guerilla Projekt» (NZZ am Sonntag) reden, gerät man in einen anregenden Redeschwall – und muss aufpassen, nicht sogleich angesteckt zu werden von der Aufbruchstimmung. Denn die Methode Müller beinhaltet einige höchst addiktive Elemente: Man ist die Avantgarde. Man tut Gutes für die Welt. Man prangert veraltete Strukturen an. Und: Man ist (nur) ein Testlabor, was den grossen Vorteil hat, dass man nicht zuständig ist für eine allfällige, mühsame Umsetzung der eigenen visionären Ideen.

Der Intrinsic Campus strebt, arg vereinfacht, ein Bildungssystem an, in dem die ­Schülerinnen und Schüler selber entscheiden, was sie lernen wollen. Intrinsisch – aus eigenem Antrieb. Das bedeutet: keine Stunden­pläne, keine Prüfungen, keine Noten.

Wie das Grundeinkommen das Wirtschaftssystem würde die intrinsische Schule das Bildungssystem in seinen Grundfesten erschüttern. Kaum ein Stein würde auf dem anderen bleiben. Der Intrinsic Campus ist eine Pädagogische Hochschule, die Lehrer ausbildet, die dereinst so unterrichten sollen.

Um die Notwendigkeit dieses totalen Paradigmenwechsels herzuleiten, nimmt einen Christian Müller zuerst mit auf eine Reise in die 70er-Jahre: «Bis hierher hatten wir eine schöne Korrelation von Wohlstandswachstum und Zufriedenheit», sagt er. «Seither driftet das immer weiter auseinander. Das Primat der Wohlstandsvermehrung rutscht in die zweite oder dritte Priorität. Jetzt müssen wir das Leben gestalten – und Verantwortung fürs eigene Tun und Lassen übernehmen.»

Zum Thema Bildung sei er über das Grundeinkommen gekommen. Lange sei er durch die Mehrzweckhallen und Kirchensäle der Schweiz getingelt und habe in den Gesprächen mit den Menschen gemerkt: Die Leute wissen nicht so recht, wie sie damit umgehen sollen. «Ich habe mich dann gefragt: Was braucht es, um mit der Freiheit klarzukommen? Und die Antwort war klar: Bildung.»

Das heutige Bildungssystem, sagt Christian Müller, sei «ein perfektes Maschineli». Alles funktioniere, nur gebe es halt je länger, je mehr Kollateralschäden: «Das Produkt, das hinten rauskommt, hat mit der Zukunft nicht mehr viel zu tun.» Er vergleicht die Bildung mit dem Autoverkehr. Der funktioniere auch. Nur gebe es halt immer mehr Stau, es gebe Unfälle – und der Verkehr mache das Klima kaputt.

Heute könnten 20 Prozent der Menschen einen Text nicht richtig lesen, die Leute seien unglücklich an ihren Büroplätzen, die Lehrerinnen erleiden Burnouts. Hinzu kommt die Digitalisierung, die die Arbeitswelt radikal umkrempeln werde: «Unser deterministisches Bildungssystem, in dem alle im selben Rhythmus dasselbe lernen mussten, das war gut, um Fabrikarbeiter und Soldaten zu züchten. Das System ist ein Kind der Industrialisierung, die Schulhäuser sind gebaut wie Kasernen.» Mit der Digitalisierung aber, sagt Müller, werden Maschinen die Jobs der reinen Befehlsempfänger übernehmen. Beim Menschen werde der Individualismus zentral, die Idee – die intrinsische Motivation.

Jedes Kind komme mit einem Lerndrang auf die Welt, ist Christian Müller überzeugt. Bildungsexperten geben ihm grundsätzlich recht. Sogar der Wirtschaftsverband Economie Suisse fordert Reformen, die das intrinsisch motivierte Lernen der Schülerinnen in den Vordergrund stellen.

Gleichzeitig sehen viele Müller als Utopisten. Dem Intrinsic Campus gehe eine «ganz romantische Vorstellung» voran, sagte etwa Urs Moser bei 10 vor 10. Moser leitet das Institut für Bildungsevaluation an der Universität Zürich. Er sagt, es gebe sicherlich Kinder, die wissen, was wichtig sei. Für ­diese sei eine intrinsische Schule ein Segen. Aber es gebe eben auch
andere Kinder, die völlig verloren wären ohne jegliche Struktur.

Der Spieler

Müller kontert: «Wir wollen nicht das System umbauen und möglichst viele Lehrer auf den Markt werfen, sondern einen Prototyp bauen, ein Modell einer besseren Schule.» Ortoloco habe ja auch nie den Anspruch gehabt, die ganze Schweiz zu ernähren.

Für Innovation sei es immer zu früh, lacht er, es warte niemand auf einen. «Als man die Eisenbahn eingeführt hat, dachten die Leute zuerst, die Seele käme nicht mit, wenn man mit dem Zug fährt.»

Christian Müller meint sicher ernst, was er sagt und tut. Radikalität sei wichtig, «Radikalität im Wortsinn!», Veränderungen an der Wurzel. «Aber ich will auch über meine eigene Radikalität lachen können.»

Vielleicht ist er eigentlich weniger Utopist als Spieler. Es macht ihm schelmische Freude, zu provozieren, Gedanken anzustossen. «Ich zünde keine Knallfrösche, aber ich habe eine gewisse Freude, auf Widerstände zu stossen, Grenzen auszuloten.» Und er hat ein gewisses Händchen, auf Menschen und Institutionen zu treffen, die Geld haben und einen Sinn darin sehen, was er tut. «Die Stiftungslandschaft Schweiz ist ja enorm reichhaltig!», sagt er. «Viele Stiftungen sind offen für Initiativen, die Sinn stiften wollen.»

Aus dem Projekt im ehemaligen Pflegezentrum wurde nichts. Da musste Müller einsehen, dass die erste Idee besser war als die Realität. Beim Intrinsic Campus aber ist das erste Semester bereits über die Bühne gegangen – mit einem Dutzend Studierenden. Nach vollendetem Studium werden sie zwar keine Zulassung haben zu unterrichten. Die alternative PH ist nicht akkreditiert.

Doch wen interessiert schon ein Diplom, wenn es um die Zukunft der Bildung geht, die Zukunft der Welt?