Die AZ hat das erste Treffen einer neuen esoterischen Gruppierung miterlebt. Es gab schlechte Musik, eine Predigt – und mehrere Spontanheilungen.
Eine ganz in Schwarz gekleidete Frau steht vor einem vollen Saal. Sie hat die Augen geschlossen und bewegt die ausgestreckten Hände sanft hin und her, vor und zurück. Sie sieht ein bisschen aus wie jemand, der in einer unbekannten und dunklen Wohnung versucht, nicht in die Möbel zu knallen.
Das Publikum hat die Augen ebenfalls geschlossen und die Hände mit den Handflächen nach oben auf den Schoss gelegt. Der symmetrische Saal mit dem pastellgrünen Täfer ist an diesem Samstagabend in eine fast sakrale Aura gehüllt, was vor allem an der Musik liegt: Sphärische Choralklänge. Ich sitze zuhinterst in der Ecke und stelle fest: Das ist ohne jeden Zweifel der seltsamste Anlass, an den mich die Redaktion je entsandt hat.
«Quanten-Heilenergie»
Die Einladung zur «Heilenergieausstrahlung» versprach:«Die HyperEnergie, eine bisher unbekannte, äusserst schnelle Quanten-Heilenergie, die durch Alexander Aandersan auf die Erde gebracht wurde, ist nach kurzer Zeit der Übertragung in den eigenen Händen spürbar.» Und: «Spontanheilungen sind möglich.» Gastgeberin: Kathrin Opitz aus Hemmental, Ort: Hotel Rüden.
Über Alexander Aandersan lässt sich nur wenig in Erfahrung bringen, anscheindend, weil er das so will. Er ist esoterischer Heiler, «aber gar nicht Guru-mässig unterwegs», wie die Gastgeberin erklärt, kann laut einer Fansite «wundersames Quellwasser aktivieren» und ist – je nach Definition – Komponist. Oder vielleicht Universalgenie, denn die Fansite erklärt: «Es gibt kaum eine wissenschaftliche Disziplin, mit der er nicht vertraut ist.» Weiter erfährt man: «Seit seiner menschlichen Geburt begleiten ihn Wesen aus einer fremden Welt.»
Die Musik von Alexander Aandersan ist … hm. Was eigentlich? Wir konsultieren nochmals die nützliche Fansite: «Mit Alexander Aandersan ist eine ganz neue musikalische Welt entstanden: sie besteht nur aus Klängen, in denen mehrere übereinander geschichtete Töne zusammenwirken; es gibt weder Melodie noch Rhythmus!» Eine andere Quelle ist sicher, dass ein Teil der Klänge «nicht von unserem Planeten» kommt.
Mir fällt eine andere Beschreibung ein. Das Werk «Offenbarung» klingt für mich, als hätte der Maestro zwei oder drei Filze LSD eingeworfen, sein Keyboard aus den Achtzigern auf «Choral» und «Fanfaren» eingestellt und dann wahllos eine Taste gedrückt; so lange auf, bis ihm diese langweilig wurde und er eine neue Taste fand.
Noch immer steht Kathrin Opitz traumwandlerisch vor uns, dem fast 100-köpfigen Publikum. Der Altersdurchschnitt dürfte bei etwa 60 liegen, der Frauenanteil bei etwa 80 Prozent. Zu Beginn des Abends hat sich Opitz begeistert über das grosse Interesse gezeigt und mehr Stühle herbeigeschaft. Sie verlas eine Definition von Quanten aus dem Internet und proklamierte, sie werde jetzt «eine Energieform, die noch nicht lange auf der Erde ist, weitergeben». Sie bat alle Teilnehmenden, die Augen zu schliessen und die Hände offen auf den Schoss zu legen, und drückte auf Play.
Als die Musik nach über einer halben Stunde endet, ertönt die Stimme von Alexander Aandersan höchstselbst. Er spricht mit langen Pausen und einer tiefen, angenehmen Stimme.
«Das Gefühl, wichtig zu sein»
Er spricht zu den Anwesenden: «Menschen, die sich zum grossen Teil bemühen, die Prinzipien der Schöpferkraft, die heissen: Leben achten, Leben schützen, anzuwenden und auch anderen Menschen zu vermitteln. Menschen, die sich bemühen, tolerant zu sein. Die sich bemühen, in Harmonie zu leben mit ihren Mitmenschen oder zumindest konfliktfrei mit ihnen zu leben. Menschen, die sich bemühen, hilflosem Leben zu helfen: Tieren, Pflanzen.» Diese Menschen gehören für Aandersan «vielleicht zu denen, die ich als spätere Helfer der Menschheit bezeichne.» Er bittet die Schutzengel, die Helfer von Christus, um Hilfe für diese Menschen, damit sie sich für das Gute einsetzen können.
Wir sind also die Auserwählten. Aandersan erzählt uns, dass wir frei werden sollen von allen fremden Einflüssen. Ausser von seinem, denke ich.
Alexander Aandersans Predigt ist inhaltsleer und so vage, dass sich alle, die auf irgendeine Weise mit Esoterik etwas am Hut haben, eingeschlossen fühlen: Es steckt mehr in uns, als wir wissen, wir können unsere Ziele erreichen, wir müssen nur auf uns selbst hören.
Als der AZ-Fotograf vorsichtig, aber doch unter Dielenknarren den Raum verlässt, getraut sich eine Frau, den Saal ebenfalls zu verlassen. Sie sei auch geistige Heilerin, sagt sie, aber das hier sei ja alles nichts Neues, die Predigt sei ihr auf die Nerven gegangen. Und die Musik «Scheisse».
Nach einer guten Viertelstunde kommt Aandersan zum Ende: Die Energie, die jetzt alle erhalten hätten, sei ein Zeichen dafür, dass wir nicht alleine seien. Das gebe uns Sicherheit und «das Gefühl, wichtig zu sein». Vielleicht ist das Kern und Verkaufsgeheimnis jeglicher Esoterik, überlege ich.
Doch als die «Heilenergieübertragung» zu Ende ist, zeigt sich: Damit, nichts gespürt zu haben, bin ich klar in der Minderheit. Auch die Frau, der Predigt und Musik nicht gefallen haben, ist in der Minderheit. Auf die Frage von Gastgeberin Kathrin Opitz gibt eine klare Mehrheit an, «etwas gespürt» zu haben.
Eine Teilnehmerin, die «auch im Bereich Energie» arbeitet, sagt begeistert: «Was jetzt gerade passiert ist, den einen ist es bewusst, den anderen wird es noch bewusst, das ist Multipower-universelle Energie.» Sie und viele weitere bedanken sich überschwänglich, tragen sich in einen Verteiler ein, sind an weiteren Treffen interessiert.
«Das hat nichts von einer Sekte»
Einige Tage später telefoniere ich mit Kathrin Opitz. Sie führt seit 1994 eine eigene Praxis. Seit gut 13 Jahren besucht sie jährlich mehrere Seminare bei Alexander Aandersan in Bregenz. «Bei unserer ersten Begegnung sagte er zu mir: Dieser Mensch kann sehr viel mehr, als er weiss.» Ihre eigene Heilfähigkeit, sagt sie, sei mit Alexander Aandersan um ein Fünf- oder Zehnfaches gestiegen.
Obwohl Aandersan von «Christusenergie» spreche, habe das Ganze nichts mit kirchlich organisierter Religion zu tun. Kathrin Opitz möchte auch nicht «in die Uriella-Ecke gestellt» werden: «Das hat nichts von einer Sekte.»
Es sei schade, dass ich nichts gespürt hätte, findet Kathrin Opitz zum Abschied. Sie berichtet von mehreren Spontanheilungen, die an diesem Samstag stattgefunden hätten: «Jemand hat mir erzählt, sie habe danach zum ersten Mal seit Langem die Treppe runterlaufen können. Eine andere Frau rief mich an und sagte, sie spüre zum ersten Mal seit Monaten ihre Hände wieder.»
Opitz freut sich auf das nächste Treffen, am 15. Februar im Rüden, dieses Mal im prächtigen Zunftsaal. Vor der Übertragung am Abend wird es ein Tagesseminar für 160 Franken geben. Und im April oder Mai, gibt sie bekannt, wird Alexander Aandersan persönlich für ein Seminar nach Schaffhausen kommen.
Über Aandersan verrät Opitz nicht viel, ausser dass er ein sehr betagter Mann sei. Er sei in ganz Europa unterwegs und arbeite auch mit hohen Politikern zusammen. Und: «Herr Aandersan setzt nur acht bis zwölf Prozent seiner Energie ein. Sonst würde unser Nervensystem verbrennen.»
Stimmt es, dass Alexander Aandersan im Kontakt zu Wesen aus einer anderen Welt steht? Kathrin Opitz zögert keine Sekunde: «Ja. Ich auch.»