Übereilter Einsatz von Computern und ein schlechtes Lehrmittel: Informatikprofessor Juraj Hromkovic kritisiert die Schaffhauser Bildung. Die ETH habe helfen wollen, sei aber ignoriert worden.
Die Digitalisierung wird an den Schaffhauser Volksschulen vorangetrieben: In den kommenden Jahren werden in allen Gemeinden integrativ Computer (Tablets, Notebooks, PCs) im Unterricht eingeführt, und der Medienunterricht gewinnt mit dem Lehrplan 21 an Gewicht. Nun aber kommt scharfe Kritik: Und zwar ausgerechnet von einem Informatikprofessor der ETH: Juraj Hromkovic, der seit über zehn Jahren auch in Schaffhausen Lehrerweiterbildungen und Schulprojekte durchführt, sieht unser Bildungssystem in Gefahr.
AZ Herr Hromkovic, die Schulen im Kanton Schaffhausen sollen umfassend mit Tablets oder Notebooks aufgerüstet werden. Bis im Jahr 2024 soll jedes Kind ab der fünften Klasse sein persönliches Gerät für den Unterricht in allen Fächern bekommen. Was halten Sie davon?
Juraj Hromkovic: Die Zeit ist dafür nicht reif. Der Unterricht mit Computern ist nicht genug weit entwickelt, um mit dem klassischen Unterricht konkurrieren zu können, und es ist noch nicht belegt, ob er einen Mehrwert hat. Deshalb sollte die Digitalisierung an den Schulen vorsichtig und nicht mit einer Massenanschaffung von Geräten angegangen werden. Es gibt Punkte, die ganz klar dagegen sprechen: Durch die grosse statistische Erfahrung aus der letzten Pisa-Studie ist belegt, dass jene Schulklassen, die flächendeckend Computer verwenden, schwächere Leistungen zeigen. Zudem gibt es weltweit bereits mehrere solche Versuche. Wir wiederholen nur etwas, das bisher überall gescheitert ist.
Gibt es Fächer, in denen Sie Computer sowieso deplatziert finden?
Überall dort, wo man etwas konkret mit den Händen anfassen kann. Wenn es in der Biologie heisst, die Kinder werden sich auf dem Bildschirm Bäume und Pflanzen anschauen und kategorisieren, gehe ich auf die Barrikade. Dann soll man mit ihnen auf die Wiese, in den Wald gehen.
In jedem Schaffhauser Kindergarten soll künftig eine Computerecke eingerichtet werden mit mindestens zwei bis drei Geräten mit Touchscreen.
Die Technologie steht jenseits von Gut und Böse. Ich sage nicht, dass man sie nicht einsetzen soll, sondern dass man wissen muss, wie. Und das ist einfach noch nicht klar. Man geht konzeptlos vor.
Wann wäre denn der Einsatz der Geräte im Unterricht sinnvoll?
Wenn man die Computer für eine kreative Tätigkeit verwendet. Wir bauen auch solche Programme für kleine Kinder, wo sie über den Computer beispielsweise Roboter steuern können. Aber wenn man Computer einsetzt, um Inhalte zu präsentieren, woraufhin die Kinder vielleicht beginnen, zerstreut herumzuklicken und zu blättern, kann man kontraproduktiv wirken.
Inwiefern kontraproduktiv?
Die Lernpsychologen sagen, dass die Konzentrationsfähigkeit bei den Kindern unterentwickelt bleibt, wenn sie zu viel auf diesen Geräten spielen. Das bedeutet, es entsteht Schaden.
Das sieht der Kanton Schaffhausen in seinem Medien- und Informatikkonzept anders. Computer würden sich hervorragend eignen, um Kinder im Vorschulalter kognitiv zu fördern, heisst es. Etwa mit ansprechenden Problemstellungen und spielerischen Aufgaben, die logisches Denken, genaues Zuhören, Kombinieren und Umsetzen einfordern.
Woher hat man das? Da stehen keine international ausgewiesenen Wissenschaftler dahinter. Denn diese sagen das Gegenteil. Die Technologie hat Potenzial für Lehren und Lernen. Aber zuerst muss das neue Angebot die Qualität der traditionellen Lehrmittel erreichen.
Ist es eine unkluge Entscheidung des Kantons Schaffhausen, flächendeckend Computer an den Schulen einzuführen?
Sagen wir es so: Entweder man hat sich schlecht beraten lassen oder man entscheidet einfach über Dinge, ohne Sachwissen zu haben. Man sollte die international anerkannte Forschung berücksichtigen und nicht Methodiker befragen, die keine Ahnung davon haben. Die ETH beispielsweise wurde vom Kanton Schaffhausen nie angefragt, obwohl wir Expertinnen und Experten dafür haben.
«Diese Kinder werden für die Zukunft benachteiligt.»
Das trifft aber nicht nur auf Schaffhausen zu?
Nein, es ist ein Problem von vielen Kantonen. Die Digitalisierung wurde in der Schweiz lange Jahre nicht ernst genommen, jetzt will die Politik es nachholen und geht dabei in das andere Extrem. Die Bildungspolitiker glauben, durch die Anschaffung von Computern fortschrittlich und innovativ zu wirken. Sieben-, achtstellige Summen werden dadurch in den Gemeinden umsonst ausgegeben. Und wenn man bedenkt, dass man damit vielleicht sogar Schaden verursacht, ist das traurig. Wir riskieren, unser Bildungssystem zu beschädigen, das ist ernst.
Und das sagen Sie als Informatiker?
Das ist gerade das Verständnis davon, was Informatik ist. Für mich ist Informatik eine kreative Arbeit. Es geht darum, eine Technologie zu entwickeln, zu beurteilen, ob sie gut ist, und sie zu verbessern. Das sind ganz andere Lernziele, als die Technologie anzuwenden. Wenn wir von der ETH in den Schulen Projekte durchführen, unterrichten wir 50 Prozent der Informatik ohne Bildschirm.
Also zum Fach Informatik: Mit dem Lehrplan 21 haben die Schaffhauser Primarschüler seit diesem Schuljahr ab der 5. Klasse eine Lektion «Medien und Informatik».
Anfangs kam das Wort «Informatik» im Lehrplan 21 nicht mal vor. Im letzten Augenblick, eineinhalb Jahre vor dem Abschluss des Lehrplans 21, hat man der ETH noch erlaubt, sich zu beteiligen, und uns ermöglicht, ein Modul «Informatik» reinzubringen. Leider nicht separat, aber im Rahmen des Faches «Medien und Informatik».
Die Informatik bekommt nicht den Stand, den Sie sich wünschen?
Die Informatik hat in der Schweiz immer Probleme gehabt. Zuerst wurde sie ab dem Jahr 1994 mit ICT, mit der Computernutzung, verwechselt. Und jetzt wird sie zudem verzahnt mit der Medienbildung und damit wieder nur aus der Sicht der Anwender gesehen.
Realistischerweise können nicht beliebig viele Fächer in den Lehrplan eingeführt werden. Wieso sollen Medien und Informatik nicht zusammen unterrichtet werden?
Es gibt neben der Schweiz kein anderes Land in der Welt, das Medien und Informatik zusammen unterrichtet. Jetzt können wir uns fragen: Ist die Schweiz so progressiv und macht etwas Einzigartiges? Oder aber: haben wir nicht richtig überlegt? Ich sage, es ist das zweite. Die Reflektion über Medien gehört in ein geisteswissenschaftliches Fach. Bei der Informatik hingegen geht es darum, neue Technologien zu verstehen, zu steuern und weiterzuentwickeln. Das sind andere Kompetenzen und diese müssen Teil der Bildung sein. Denn ohne sie verstehen wir die Welt nicht, die wir gebaut haben. In den Berufen der Zukunft wird vieles automatisiert werden, und wenn man die Automatisierungsprozesse nicht versteht, kann man sich im eigenen Beruf nicht behaupten. Gerade in einer Zeit, in der sich vieles sehr schnell entwickelt, ist es wichtig, dass nicht fertige Produkte der Wissenschaft, wie Fakten, Modelle, Technologien und Methoden, unterrichtet werden, sondern die Prozesse ihrer Erzeugung und Überprüfung.
«Wir riskieren, unser Bildungssystem zu beschädigen, das ist ernst.»
Wieso hat man denn Ihrer Meinung nach in der Bildungspolitik eine andere Auffassung?
Zuerst muss die Bereitschaft da sein, zuzuhören. Wir haben sehr gute Erfahrungen mit Lehrpersonen gemacht. Das Problem ist, dass viele Kantone den Informatikunterricht und die Weiterbildung der Lehrpersonen den Medienwissenschaftlern übergeben. Das ist für mich so, als würde man die Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen für Physik den Geschichtslehrern überlassen.
Schauen wir nochmal konkret auf Schaffhausen: Wie sieht hier die Umsetzung des Medien- und Informatikunterrichts aus?
Der Kanton Schaffhausen hat bei der Lehrmittelempfehlung eine fragwürdige Wahl getroffen. Er empfiehlt, gleich wie Zürich, das Connected aus dem Zürcher Lehrmittelverlag. Dieses Lehrmittel ist aus der Philosophie der Medienwissenschaftler entstanden. Dort, wo es bei der Informatik versucht, in die Tiefe zu gehen, ist es entweder unverständlich oder falsch.
Sie haben selbst ein Lehrmittel geschrieben. Geht es Ihnen darum, dass stattdessen dieses eingesetzt wird?
Das wird mir immer vorgeworfen. Aber es geht mir nicht um die Konkurrenz, ich würde mich freuen, wenn andere Lehrmittel empfohlen würden, die gleich gut sind.
«Es liegt an der falschen Einstellung des Kantons.»
Das Lehrmittel «Connected» ist auch in Zürich das offiziell empfohlene. Die Entscheidung des Kantons Schaffhausen ist also naheliegend.
Schaffhausen hat ein bisschen das Problem eines kleinen Kantons, der Angst hat, einen Fehler zu machen. Er kopiert lieber irgendetwas aus einem grösseren Kanton. Und so kann er auch Fehler kopieren. In der Vergangenheit hat man etwa in Schaffhausen ein schlecht durchdachtes Lehrmittel für Mathematik eingesetzt: Dieses war nach der Meinung der Mathematiker, nicht nur von der ETH, sondern auch von der Kantonsschule Schaffhausen, eines der schwächsten Lehrmittel überhaupt auf dem Markt. Und jetzt hat man das gleiche gemacht mit dem Lehrmittel für «Medien und Informatik».
Was bedeutet das Ihrer Meinung nach für die Schaffhauser Primarschülerinnen und -schüler?
Mit dem empfohlenen Lehrmittel können Schülerinnen und Schüler nicht einen Bruchteil der Kompetenzen erreichen, die im Lehrplan 21 vorgeschrieben sind. Ich bin der Meinung, dass Kinder, die dieses Lehrmittel nutzen, definitiv für die Zukunft benachteiligt werden.
Fassen wir zusammen: Die Kinder bei uns sind für die Zukunft benachteiligt durch ihr Informatiklehrmittel, und womöglich ist die Computernutzung im Unterricht für sie schädlich. Warum ist das Ihrer Meinung nach passiert?
Es liegt auch an der falschen Einstellung. Es ist nicht so, dass der Kanton Schaffhausen nicht kompetent ist. Die Kantonsschule Schaffhausen hat zum Beispiel eine der besten Fachschaften Mathematik in der Schweiz. Sie verstehen auch die Informatik gut. Würde man jeweils diese Leute fragen, hätte man genug Kompetenzen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
Hat die ETH wegen diesen Problemen das Gespräch mit Erziehungsdirektor Christian Amsler gesucht, der zugleich Vater des Lehrplans 21 ist?
Ja. Wir sind bei den Schaffhauser Behörden und bei der Pädagogischen Hochschule gegen eine Glaswand gestossen. Die ETH hat angeboten, unabhängig vom Lehrmittel, bei der informatischen Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen kostenlos zu helfen. Unsere Angebote, schriftlich oder mündlich, wurden nie beantwortet und einfach ignoriert. Die Möglichkeit, überhaupt erst unsere Konzepte vorzustellen, die haben wir nie bekommen. Es gibt Kantone, die auch klein sind, wo wir von den Bildungsdirektoren eingeladen wurden, etwa in Zug, Thurgau oder in Uri. Was von unseren Konzepten berücksichtig wird, ist eine andere Sache. Aber dass unser Angebot von vorneherein abgelehnt wird, das ist kein gutes Zeichen.
Gibt es auch gute Zeichen?
Vielleicht ist man gewillt, aus dem Vergangenen zu lernen: Soeben wurden wir vom Schaffhauser Erziehungsdepartement eingeladen, unsere Lehrmittelreihe Einfach Informatik für die Sekundarstufe vorzustellen, wenn auch bedauerlicherweise nicht auch für die Primarstufe.
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Juraj Hromkovic
Juraj Hromkovic, 1958 in Bratislava geboren, ist seit Januar 2004 ordentlicher Professor für Informationstechnologie und Ausbildung an der ETH Zürich. 2005 gründete er das Ausbildungs- und Beratungszentrum für den Informatikunterricht und leitet die Lehrerausbildung für das Lehrdiplom Informatik an der ETH.