Heimsuchungen

3. Januar 2020, Kevin Brühlmann

Aufwachsen in der Provinz und die Frage: Kann Schaffhausen eine Heimat sein, und wenn ja, wie viele? Für wen?

Die Welt dehnt sich unaufhaltsam aus, wie mir scheint, alles wird grösser, weitläufiger, pompöser auch. Und doch, wird nicht auch alles kleiner? Der Horizont verengt sich, die Räume schrumpfen, und die Wege dazwischen werden länger und länger.

So wächst die Welt und wird dabei immer kleiner.

Ich frage mich, wie eine Heimat darin aussehen könnte, ob es nicht viele Heimaten sind, behagliche und unbehagliche, und ob sich die vielen Heimaten überhaupt berühren, wenn sich die Welt ja immer weiter ausdehnt.

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Das Dorf, in dem ich in den Neunzigerjahren aufgewachsen bin, bestand aus einer Suppenfabrik, einem Zementwerk und einigen Bauernhöfen. Und so existierte ein Gleichgewicht der Gerüche – Suppe, Abgas der zementbeladenen Lastwagen und Gülle.

Die Männer in der Politik sagten, Wir sind stolz auf unsere Industrie, das gehört zu unserer Heimat, und als die Fabriken an grosse Konzerne verkauft wurden, hoffte die Politik auf den Stolz der Industrie, aber die Industrie kümmerte sich nicht um das Gleichgewicht der Gerüche im Dorf.

Und aus dem Ungleichgewicht schoss die Angst, etwas zu verlieren – neu daran war allerdings, dass man befürchtete, man würde es wegen den anderen verlieren. Wegen Menschen aus einer fernen Heimat.

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Ich sehe meinen Vater, wie er mich durchs Fenster der Küche begrüsst, wenn ich um zwölf von der Schule heimkomme. Er hat gekocht, und ich rieche die dicken Geruchsfäden des Essens, die sich bis auf die Strasse ziehen. Die Mutter bringt das Geld nach Hause und die Zungen im Dorf zum Spalten.

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Einer meiner ersten Freunde hiess Bajram. Er ging mit mir in die erste Klasse und wohnte mit seiner Familie in einem Riegelhaus, das der Gemeinde gehörte. In ihrem Wohnzimmer gab es einen Fernseher und ein Sofa, worauf die Familie immer sass, wenn ich ihn abholte; das Sofa war klein und die Familie gross. Ich glaube, sie sind vor dem Krieg in Jugoslawien geflohen.

Bajram sprach nicht so gut Deutsch. Einmal klingelte das Telefon im Klassenzimmer, Bajram hörte es als Erster und sagte sehr beherzt, Frau Lehrerin, muesch du auf die Telefon, worauf die Lehrerin lachte, Soll ich etwa auf das Telefon drauf hocken, und die ganze Klasse lachte.

Ich sehe, wie Bajram verschämt mitlacht.

Dann, nach den Sommerferien, war er plötzlich weg. Nie habe ich erfahren, wohin er und seine Familie gegangen sind; es war, als hätte es Bajram nie gegeben, als sei er ein Störfall im Fluss der Ordnung.

Seine Heimat und die unsere berührten sich nicht.

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Ich fürchtete mich vor unserer Nachbarin und ihrem Mann. Sie war eine ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren, man konnte kaum Regungen in ihrem Gesicht entdecken, nur das Verlangen nach Ordnung. Während mir unser Haus farbig vorkam, schien mir ihres grau und grau zu sein, mit schwarzen Fenstern, aus denen Augen starrten, die ich doch nie sah.

Wenn wir bei uns auf der Wiese Fussball spielten und der Ball über den Zaun flog, in ihren perfekt gepflegten Garten, durften wir nicht einfach hinübersteigen, sondern mussten erst um Erlaubnis fragen. Weil wir Angst hatten und die Blicke der Nachbarin in unserem Rücken spürten, liessen wir den Ball lieber liegen.

Und mir schien, dass die perfekte Heimat die Farben aus dem Gesicht der Nachbarin getrieben hat.

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Im Konfirmandenunterricht in der sechsten Klasse erzählte uns die Pfarrerin, dass Israel das gelobte Land sei. Sie sagte, das Volk Israel sei ein heiliges Volk, und ich stellte mir vor, wie sie zu Tausenden durch die ägyptische Wüste zogen, erleuchtet von ihrer eigenen Heiligkeit. Die Pfarrerin fragte uns, wie die anderen hiessen, diejenigen mit den Bärten und den Kamelen, die sich verirrt hätten, geografisch und vor allem auch ideologisch, wegen ihrer Sprenggürtel und so weiter.

Ich streckte meinen Arm in die Höhe und antwortete recht stolz, das seien die Muselmanen. Und die Pfarrerin sah, dass es gut war.

Nur noch zweimal sah ich sie so erregt. Das erste Mal, als sie erzählte, wie sie im Spital gelegen sei, im Sterben, und ihr Schicksal in Gottes Hand gegeben habe, worauf sie errettet worden sei. Das zweite Mal, als sie Böppel aus dem Zimmer schieben wollte. Böppel, ein stämmiger Bauernsohn, hatte eine freche Schnorre gehabt; das Schwierige am Glauben ist ja, dass man ihn glauben sollte, und das tat Böppel nicht.

Die Pfarrerin packte Böppel am Kragen. Aber Böppel war stark, ich hatte das selbst schon erfahren müssen, als er mich bei den Pfadfindern in den Schwitzkasten nahm, seine Hände kamen mir wie Schraubstöcke vor.

Nun ging es einige Minuten hin und her zwischen der Pfarrerin und Böppel, einen Meter nach vorne, Richtung Tür, einen zurück. Schliesslich triumphierte das Gute, und Böppel spickte es aus dem Klassenzimmer. Keuchend und mit zerzaustem Haar kehrte die Pfarrerin zurück. Sie blickte zur Decke, als könne sie durch die Backsteine hindurch in den Himmel sehen, und bat den Herrn um Vergebung, um ihre Heimat im Himmel nicht zu verlieren.

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Unser Stamm, wie man die Gruppe bei den Pfadfindern nannte, hiess Guisan, nach dem Schweizer General im Zweiten Weltkrieg. Wir bauten Zelte aus Militärblachen, kochten aus Militärgeschirr und nannten das Übungen, wie im Militär. Wenn man ein bisschen frech war, formten die restlichen Pfadfinder zwei Reihen, eine Art Gasse. Sie zogen ihre Krawatte aus, und man musste durch die Gasse rennen, worauf alle ihre Krawatten wie Peitschen auf die Rennenden knallen liessen. Es tat so weh, dass man weinen musste. Ich ging dennoch gern zu den Pfadfindern, ich mochte es, am Lagerfeuer Figuren aus Holz zu schnitzen.

Ich frage mich, warum man immerzu alles Unbehagen ausräumen muss, wenn man von Heimat spricht, weil man sonst als Verräter gilt.

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Ich sehe, wie sie mit den Mopeds an mir vorbeifahren, die Strasse hinauf, zur Schule; ich bin ein klappriger Teenager. Manchmal rufen sie, Du Schwuchtel, du Mädchen, schneid dir die Haare, und ich sage, ich sei sicher keine Schwuchtel, selber Schwuchtel, und nach der Schule knöpfe ich mir den Simon vor, den dicken Simon.

So habe ich gelernt, lieber den dicken Simon zu schlagen, denn er hatte weniger Freunde als ich, und alle schlugen den dicken Simon, wenn es jemanden zu schlagen gab.

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Wir fuhren in die Berge, ins Konfirmandenlager. Ich glaube, der freche Böppel kam nicht mehr mit. Dafür ein älterer Mann, er hatte vor einigen Jahren zum Glauben gefunden. Um seine blauen Augen zogen sich dünne, aber tiefe Falten, was ihm ein freundliches Gesicht gab. Er sollte uns Buben die Bibel näherbringen, während die Mädchen einer Frau zugeteilt wurden.

Der Mann weinte ziemlich oft, meistens, wenn er davon erzählte, wie er früher schlimme Dinge gemacht und wie ihn der Heilige Geist berührt habe. Er weinte auch, wenn er sich Marc ansah – unter uns Fünfzehnjährigen wirkte Marc schon wie ein Mann, mit Muskeln und einer tiefen Stimme, und er konnte auch mal zuschlagen. Der Mann lobte Marcs Körper und weinte, weil er ihn so schön fand (er benutzte das Wort «toll», immer und immer wieder).

Kann es sein, fragte ich mich, dass selbst Gott die männlicheren unter den Männern lieber hat?

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Unser Klassenlehrer in der Sekundarschule regte sich über die Kantonsschule auf. Da verrauchen und verkiffen und versiffen sie, erzählte er mit gequältem Gesicht, wie oft habe ich das schon erleben müssen.

Ich hatte mir bislang nichts Rechtes unter der Kantonsschule vorstellen können, aber ich war nicht schlecht in der Schule, und ans Gymnasium gehen – warum nicht? Wie der Lehrer aber gequält dreinschaute, wurde es mir unwohl, und ich stellte mir die Kantonsschule als ein heruntergekommenes Gebäude vor. Ich hatte keine Lust mehr, dorthin zu gehen (meine Mutter aber konnte mich umstimmen).

Tatsächlich war das Gegenteil der Fall, selten habe ich geordnetere Menschen kennengelernt als an der Kantonsschule, Menschen wie ich, konform und konfirmiert. Bald aber kam mir die Schule wie ein Tunnel vor, vorne hinein und hinten hinaus, ohne Abzweigung. Die Lehrerinnen und Lehrer sagten, wir sollen frei und kritisch sein – und so fuhren wir, frei und kritisch, alle in dieselbe Richtung.

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Wir lernten, dass erfolgreiche Leute viel Geld haben, aber natürlich ist Geld nicht alles, schoben sie nach. Und wir lernten, dass alle Menschen dieselben Möglichkeiten besitzen, um erfolgreich zu werden, man muss es nur wollen. Aber wir lernten nicht, wie es dazu kommen konnte, dass Erfolg mit Geld gemessen wird, nicht, woher das Geld kommt, und auch nicht, weshalb kein Bajram bei uns in der Klasse sass.

Gab es Raum zum Zweifeln, zum Zögern, Raum für Alternativen? Vielleicht, nur habe ich diesen Raum nicht gefunden. Durfte man aus dem Umzug tanzen? Vielleicht, aber über den Umzug hinaus fehlte mir die Sprache, um mich zu artikulieren.

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Später hörte ich, wie die Band Plenty Enuff spielte, und obwohl der Sänger eine eher dünne Stimme hatte, prägte sich mir ein kurzer Abschnitt ein. Er hiess: «dass es [im Leben] mehr gibt als Bürstenschnitt und Schnauz». Ich glaube, auf einen solchen Satz hatte ich damals gehofft.

Ich verstand darunter: dass all die Mauern und Tunnels in der Welt nicht im Vorhinein betoniert und gemauert waren, sondern dass es nicht immer so ausgesehen hatte und dass all dies von irgendwem hatte gebaut werden müssen, und dass dieser jemand dabei zuerst auf sich geschaut hat.

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Wir liefen vom Hügel, auf dem die Kantonsschule stand, hinab in die Stadt. Da sagte der Arztsohn, der Blocher sage es denen eben, und weil auch der Pfarrersohn beipflichtete, sagte ich, natürlich, der Blocher sagt es ihnen wenigstens, aber die Tochter der Musiklehrerin wurde wütend und fragte, was sagt er denn? Ich wusste keine wirkliche Antwort.

Als ich kurz darauf zum ersten Mal wählen durfte, gab ich dem Kandidaten der SVP im Dorf die Stimme. Er hatte ein freundliches Gesicht und einen anständigen Beruf, wie es im Dorf hiess. Er sagte, er sei ein stolzer Bewohner dieses Dorfs, und genau so soll es auch für künftige Generationen bleiben. Sein Konkurrent, ein Sozialdemokrat, wirkte ein bisschen zu gutmütig. Ausserdem war er ein Lehrer oder sonst ein Lieber, wie man sagte, und das war natürlich nicht produktiv, und wohin kämen wir hin mit so einem.

Der Mann von der SVP wurde gewählt, und als er glaubte, die Fremden kämen, sagte er, er habe nichts gegen Fremde, nur seien diese Fremden nicht von hier. Und die Köpfe nickten heimatlich.

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An der Maturafeier redete ein jungfreisinniger Politiker mit viel Gel im Haar. Er hielt sich mit beiden Händen am Rednerpult fest und sagte, wir seien die Elite von morgen. Es wurde mir unwohl; es fühlte sich an, als müsste ich von nun an auf ewig Menschen durch einen Tunnel treiben und Mauern betonieren.

Ich überreichte mein Diplom meinen Eltern, die zur Feier gekommen waren, und verzog mich. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist eine junge Frau, die ich sehr toll fand, leider wurde daraus nichts.

Zusammen mit einigen Freunden übernachtete ich auf einem Spielplatz, befreit von allen Heimaten, und es fühlte sich heimatlich an.