Der Wundertrainer

12. Dezember 2019, Kevin Brühlmann

Fast hätte Christoph das eitle Fussballgeschäft ausgetrickst und wäre Togos Nationaltrainer geworden. Aus dem Leben eines Glücksjägers.

Gell, sagt Christoph, du hasch nix finde könne über mich.

Nein.

Auch nicht des Alter, gell.

Nein, nichts, gar nichts.

Christoph lacht zufrieden, seine Locken wackeln. Die Farbe der Haare ist alterslos, ein Weissblond der Ungenauigkeit. Er könnte 45 oder auch 60 Jahre alt sein. In seinem gemütlichen badischen Dialekt besteht er darauf, dass sein Alter weiterhin geheim bleibt.

Es ist ein früher Abend Anfang Oktober, Christoph steht beim Sportplatz des FC Thayngen. Vor Kurzem hat er die zweite Mannschaft des Dorfvereins übernommen, die in der zweitschlechtesten Schweizer Liga spielt, der 4. Liga. Er hat sich eine gefütterte Trainingsjacke, die bis zu den Knien reicht, übergezogen; ein Adidas-Modell aus den Neunzigerjahren, als man dachte, Sportkleider müssten die Grösse eines Zelts haben.

Christoph stellt auch klar, dass man sich glücklich schätzen könne, ihn zu treffen. Normalerweise hätte er zuerst nach der Gage gefragt, es gebe halt nichts gratis auf der Welt, doch er wolle einem jungen Reporter helfen.

Er setzt sich auf eine Bank am Rand des Spielfelds und beginnt von seinem wunderlichen Leben zu erzählen. Aufgewachsen in der Nähe von Bad Säckingen, wenige Kilometer von der Schweizer Grenze entfernt, sei er erst in die Jugendabteilung des FC Basel, dann zum FSV Frankfurt gewechselt. «Mein Spitzname früher war Diego – nach Diego Maradona.»

Einige Tage nach dem Gespräch schickt Christoph eine Art Lebenslauf mit dreissig Seiten Umfang. Darin sein Geburtsjahr: 1966.

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Zum ersten Mal hörte ich von Christoph, als er sich bei einem anderen Dorfklub in der Region Schaffhausen als Coach bewarb. «Du», berichtete mir ein Bekannter ungläubig, «da hat sich jemand mit einer Profitrainerlizenz bei uns gemeldet.» Der sei sogar mal als Togos Nationaltrainer im Gespräch gewesen.

Wenig später, im Sommer 2019, nahm ihn der FC Thayngen unter Vertrag. Er habe ihn nicht gekannt, meint Peter Marti, der Klubpräsident, aber seine fachlichen Qualifikationen seien top gewesen.

Anruf bei der Sportredaktion des Südkurier, der das süddeutsche Fussballgeschehen bis in die letzte Kreisliga-Kabine ausleuchtet. Ein Herr Scheibengruber nimmt ab, er arbeitet seit 30 Jahren bei der Zeitung. «Ja, ich kenne Christoph», sagt er. Christophs Vater sei in der Geschäftsleitung einer kleinen Glasfabrik gesessen und habe während 75 Jahren als freier Angestellter Berichte für den Südkurier verfasst. Christoph selbst sehe man dauernd auf den Fussballplätzen der Region. «Aber Jahrgang 1966? Das kann nicht sein», sagt Herr Scheibengruber. «Ich bin 1963 geboren, und er muss zwei, drei Jahre älter sein, wir gingen zur selben Schule.» Dass Christoph als Profi gespielt hat, bezweifelt er ebenfalls. «In den Achtzigerjahren hat er jedoch ein paar tolle Kicker zusammengestellt, und dann zog er mit seiner Zaubertruppe von Grümpelturnier zu Grümpelturnier und räumte alles ab. Später führte er ein Antiquitätengeschäft. Er hat auch einen Tick: Er ist Mister Adidas, läuft immer in diesem Aufzug herum. Und da war wirklich mal etwas mit Togo. Wie ernst das war, kann ich jedoch nicht sagen.»

«Mein Spitzname war Diego – nach Maradona», erzählt Christoph. © Peter Pfister

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Beim nächsten Treffen seziert Christoph seine Karriere als Coach. «Im Übrigen», sagt er, «kursiert in Deutschland die Legende, Julian Nagelsmann sei der jüngste Trainer mit einer Pro-Lizenz. Der war 27 oder 28; ich war damals erst 24 oder 25. Ich habe mit dem Präsidenten des Deutschen Fussball-Bundes geredet, und er meinte, so weit zurück hätten sie in den Annalen nicht geschaut. Ich wollte kein Theater machen. Aber Julian war nicht der Jüngste.»

Weil türkische Klubs, die ihn verpflichten wollten, «168 Fehler in einen dreiseitigen Vertrag» geschrieben hätten, habe es ihn nach Dubai gezogen, fährt Christoph fort. Dort habe er für einen Scheich ein Konzept für eine Fussballakademie erstellt.

2006, im Vorfeld der Weltmeisterschaft in Deutschland, fühlte sich Christoph dazu berufen, Nationaltrainer zu werden. Togo suchte gerade einen neuen Coach. Den Job erhielt jedoch Otto Pfister, ein damals 68-jähriger Deutscher, der schon sämtliche Trainerjobs zwischen Ruanda und Bangladesch abgeklappert hatte. «Otto hat dem Sportminister die Hälfte seines Gehalts angeboten», sagt Christoph. «Das läuft halt so in Afrika.

Immerhin suchte Otto einen Assistenten. Wir haben uns getroffen und uns lange unterhalten. Am Anfang war er sehr begeistert, weil ich auf dem neusten Stand war, was die Trainingslehre anbelangt. Aber», Christoph zuckt mit den Schultern, «im Laufe des Gesprächs kriegte Otto immer mehr Angst vor meinem Fachwissen, weil er in mir einen Konkurrenten sah. Er wollte mir das nicht gönnen. Ich musste auch feststellen, Otto war» – Christoph stoppt, führt eine Hand zur Nase und macht eine Schraubbewegung, um einen Besoffenen zu simulieren.

Aus der Stelle wurde nichts. Trotzdem reiste Christoph der togolesischen Mannschaft nach, ins Allgäu, wo sie sich auf das Turnier vorbereitete; in der Gruppenphase ging es gegen Frankreich, die Schweiz und Südkorea.
«Ich buchte das Hotel neben den Togolesen», erzählt Christoph. «Dort waren auch die Südkoreaner, die das Training von Togo von den Bäumen herunter gefilmt haben. Am Abend konnte ich die Videos gucken und sehen, was da abgeht. Die Togolesen haben just for fun herumgebällelet. Der Adebayor zum Beispiel sass am Abend bei mir, wir schauten uns Pressekonferenzen von Otto Pfister an. ‹Hey alter Mann, was erzählst du da!› sagte er. Weisch, die Jungs hockten bei mir im Hotel, weisch, gib ihm.»

Sechs Wochen sei er im Hotel geblieben, sagt Christoph. «Das hätte locker einen Zehner gekostet. Der Hotelier wollte aber nur 1000 Euro. Wenn du mal in Arabien warsch … Dort hat man nicht schlecht verdient.»

Kurz vor dem ersten Spiel Togos gegen Südkorea trat Otto Pfister in den Streik. Der Verband hatte den Spielern die versprochenen Prämien nicht bezahlt. Die Togolesen gerieten in Panik. Alle möglichen Trainer bewarben sich. An einer Pressekonferenz sagte einer vom Verband, ein gewisser Christoph würde das Team übernehmen. Und die halbe Welt rätselte: Welcher Christoph?

«Der kannte meinen Nachnamen einfach nicht!», ruft Christoph, seine Locken wackeln. «Der Vertrag war unterschrieben. Die Togolesen sagten mir, ich soll mir das erste Spiel ansehen, und danach würde ich das Team übernehmen. Die ganzen Fernsehanstalten wollten Interviews mit mir.»

Kurz vor dem ersten Spiel jedoch, so erzählt er weiter, sei Otto Pfister «wie Phönix aus der Asche» im Teamhotel aufgetaucht, «flankiert von zwei Fifa-Experten». Christoph erklärt sich dies folgendermassen: «Die Fifa hat den Togolesen zehn Millionen Euro gegeben, weil der Verband die Prämien der Spieler nicht bezahlen konnte. Die Fifa sagte: Wir wollen keinen Trainerskandal an der WM. Wir haben euch Geld gegeben, der Herr Pfister muss Trainer bleiben. Da sind wirklich welche gekommen mit einem Köfferchen. Noch in der gleichen Nacht sind welche mit demselben Köfferchen nach Togo geflogen. Am Schluss fehlten neun Millionen, eine Million erhielten die Spieler. In Geldröllchen», Christoph legt eine Pause ein, denn jetzt kommt die Pointe: «Die Spieler hatten keine Geldbeutel! Sie versteckten das Geld in den Stutzen!»

Nach diesem turbulenten Sommer bewarb sich Christoph bei anderen Ländern als Coach, bei Nigeria, Ghana, Kamerun, China oder Südafrika. Allerdings erfolglos. Sein letztes Engagement im Ausland sei beim FC Gomido gewesen, erzählt er. Den togolesischen Klub habe er in die afrikanische Champions League geführt. Doch nach einem familiären Rückschlag – seine Mutter sei schwer erkrankt – sei er wieder nach Hause geflogen.

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Ein paar Tage später rufe ich Otto Pfister an. Er ist mittlerweile 82 Jahre alt, seit einem Jahr im Ruhestand. «FC Gomido? Hören Sie doch auf, der spricht kein Wort Französisch», sagt Pfister und imitiert Christoph, indem er ein paar Wörter aneinanderreiht, baguette, oh là là, voilà. «Was stimmt: Vor der WM 2006 hat er sich bei mir beworben. Da habe ich mich korrekterweise mit ihm getroffen, im Quellenhof in Bad Ragaz. Er hat mir einen Stapel Papier hingelegt, Visitenkarten mit Fifa drauf und tralala. Schnell hat sich gezeigt, dass er einfach fachlich out war. Ich habe ihm nicht direkt abgesagt, und dann hat der Terror begonnen. Er hat mich gestalkt, Dutzende E-Mails geschrieben und Druck auf meine Familie ausgeübt. Als wir damals, bei der WM 2006, zu einem Testspiel fuhren, schaute ich in den Rückspiegel des Mannschaftsbusses. Da erkannte ich ihn, er fuhr uns hinterher. Ich habe den Sicherheitsdienst informiert, der ihn schliesslich aus dem Stadion warf. Passen Sie bloss auf», rät Otto Pfister zum Abschied, «das ist ein schlimmer Bube.»

Beim Deutschen Fussball-Bund gibt man sich zugeknöpfter. Aus «datenschutzrechtlichen Gründen» könne man keine Auskunft darüber geben, ob Christoph tatsächlich ein Trainerpatent besitzt.

Togo an der WM 2006 (Panini-Album). «Der Vertrag war unterschrieben», sagt Christoph. © Peter Pfister

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An einem Samstagnachmittag, einige Wochen sind seit dem letzten Treffen verstrichen, ruft Christoph an. Er ist ausser sich. «Du!», ruft er, und ich halte das Mobiltelefon mit ausgestrecktem Arm vor mich hin, «die Thaynger haben mich am Mittwoch fristlos entlassen. Ich hätte irgendwelche Formulare nicht ausgefüllt. Da fällsch vom Glauben ab!» Nun habe er ihnen ein Ultimatum gestellt: Bis übermorgen um zwölf Uhr mittags soll ihm der Klub den ausstehenden Lohn zahlen, sonst lasse er seinen Anwalt von der Leine. Es gehe um 3500 Franken.

Zwei Tage später treffen wir uns wieder, in einem Restaurant in Neunkirch. Das liege nahe bei seinem Wohnort, so seine Begründung. Diesmal trägt er einen übergrossen, dunkelblauen Adidas-Trainingsanzug; ein schöner Kontrast zu seinen weissblonden Locken.

Wir sind die einzigen Gäste. Der Wirt guckt ihn stirnrunzelnd an. «Na», sagt er, «geht es um Fussball, wo muss ich Sie hintun, kenne ich Sie nicht?» Christoph freut sich diebisch, gibt sich aber geheimnisvoll. Er sei Uefa-Pro-Lizenz-Trainer, sagt er, und der Wirt ist begeistert: «Oh, das wird diskret behandelt, keine Sorge.» Als kurz darauf weitere Gäste auftauchen und sich an den Stammtisch setzen, gibt sich der Wirt sehr diskret. Er tut so, als würde er die heisse Schokolade, die Christoph bestellt hat, gar nicht servieren, und dennoch könnte eine Tasse kaum wichtiger serviert werden.

Wie sich Christoph über das «Provinztheater» in Thayngen auslässt (das Geld hat er nicht erhalten), denke ich darüber nach, wie grossartig es ist, dass Christoph das irrsinnig gewordene Fussballgeschäft der Eitelkeit überführt. Wenn man in diese Welt blickt, erkennt man eine Welt der Männer, die sich in tausend Zerrspiegeln selbstherrlich begutachten, und hinter den Spiegeln ist die grosse Leere.

Christoph hat das Thema gewechselt und springt ins Jahr 2008, als er sich für den Job als Assistenzcoach der Schweizer Nationalmannschaft bewarb. Ottmar Hitzfeld hatte das Team neu übernommen. «Ich kenne Ottmar», sagt Christoph, «er wohnt ja nur zwanzig Kilometer von mir entfernt, in Lörrach.» Er habe ihm sein Dossier abgegeben. Allerdings erhielt er eine handschriftliche Absage, und die Schrift habe an diejenige eines Primarschülers erinnert. Er habe Ottmar Hitzfeld kurz darauf per Zufall vor der Post in Lörrach getroffen und ihn zur Rede gestellt. Hitzfeld sei sehr irritiert gewesen.

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Als Ottmar Hitzfeld den Hörer abnimmt, ist er gerade zurück vom Golfen auf Mallorca, entspannt und gesprächig. Er erzählt, wie er seinen Ruhestand geniesst und wie er in den Achtzigern beim FC Zug den Schweizer Fussball revolutionierte, von der Mann- zur Raumdeckung. An Christoph mag er sich erst nach einigen Stichworten erinnern. «Der Winnie-Schäfer-Typ?», fragt Hitzfeld. «Ich habe ein vages Gesicht vor Augen. Ein neuer Assistenztrainer war aber damals kein Thema, ich habe Michel Pont von meinem Vorgänger Köbi Kuhn übernommen. Er kannte alles in der Schweiz, alle Talente. Sagen Sie, wo ist dieser Mann heute Trainer? In Thayngen? Das sagt mir nichts.»

Weniger gleichgültig reagiert Peter Marti, als er den Namen Christoph hört. Der Präsident des FC Thayngen muss seinen Wagen anhalten, um Luft zu holen. «Ja», sagt Marti, «wir haben ihn entlassen, und zwar fristlos. Der liebe Christoph hatte das Gefühl, als Uefa-Pro-Lizenz-Trainer könne er drei statt zwei Trainings machen und andere Mannschaften beobachten und alles in Rechnung stellen.» Zuletzt habe er es nicht geschafft, eine Spielerliste zu erstellen, die man brauche, um die Mitgliederbeiträge einzuziehen. «Wir mussten die Reissleine ziehen», sagt Marti, «weil er macht, was er will, und das, was er machen sollte, macht er nicht. Ich könnte ein ganzes Buch über seine Müsterli schreiben. Hatte schier einen Halbtagesjob mit ihm.»

Zu diesem Zeitpunkt liegt der FC Thayngen II auf dem letzten Platz der 4. Liga. Die Bilanz: acht Spiele, zwei Punkte, drei Tore geschossen, 41 erhalten.

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Noch einmal treffen wir uns, wieder in der Beiz in Neunkirch. Es wird unser letztes Gespräch sein, denn als ich Christoph kurz darauf eine lange Liste mit Fragezeichen schicke, die ich hinter seine wunderliche Geschichte setze, droht er mit seinem Anwalt. Nach einigem Hin und Her versandet der Kontakt; auf die Vorwürfe will er nicht eingehen.

Das letzte Treffen jedenfalls verläuft sehr idyllisch. Der Wirt ist erneut überaus diskret. Und er hat sich gemerkt, dass Christoph gern eine heisse Schokolade trinkt.

Beiläufig schiebt Christoph einen Brief über den Tisch. Das Schreiben, es sieht echt aus, stammt von Jogi Löw, dem deutschen Nationaltrainer. Darin äussert Löw sein Bedauern, dass keine Stelle als Assistenzcoach frei sei.

«Jogi schätzt meine Meinung», erklärt Christoph, «weil er weiss, dass ich mehr Hintergrundwissen habe. Doch ältere Trainer haben Angst vor den Jüngeren.»

Christoph seufzt. Als er seine Schokolade ausgetrunken hat, schöpft er neuen Mut: «Mein nächstes Ziel ist China. Dort ist zurzeit der lukrativste Fussballmarkt.»