Er gilt als «gefährlichster Journalist der Schweiz»: Gaudenz Looser, Chefredaktor von «20 Minuten», über seine wilden Jahre in Schaffhausen, die beste Schlagzeile und die Frage, warum er keine Bücher liest.
Gaudenz Looser bittet in sein Büro, in einen Trakt aus poliertem Glas. Wir befinden uns im Hauptsitz des Verlags Tamedia in Zürich. Hinter dem Glas schicken junge Journalistinnen kurze Meldungen ins Reich der Kurzlebigkeit.
Im Juli wurde der 47-jährige Looser – er wohnt mit seiner Familie in Schaffhausen, wo er auch aufgewachsen ist – Chefredaktor von «20 Minuten». Die Zeitung ist das grösste Medium der Schweiz. 2,1 Millionen Menschen konsumieren die News-Häppchen täglich, in der Pendlerzeitung oder online. Weit mehr als den «Blick» (1,2 Millionen, online und gedruckt), selbst mehr als SRF1 (1,5 Millionen). Vor einem Jahr kam eine Studie des Bundesamts für Kommunikation zum Schluss: «20 Minuten» besitzt die grösste Meinungsmacht der Schweiz. Daher erhielt Gaudenz Looser den Titel als «gefährlichster Journalist der Schweiz».
Wir setzen uns an einen runden Tisch in Loosers Büro. Sein Hund streicht uns um die Beine und eine Frau von der Kommunikationsabteilung über ihr Smartphone. Sie hört das Gespräch mit.
AZ Herr Looser, ein blauer Anzug: Heute sind Sie aber sehr adrett gekleidet! Wir baten die Schweizer Styling-Ikone Luisa Rossi um eine Bewertung Ihres Stils, indem wir ihr Fotos von Ihnen schickten. Sie meinte, ein modisches Flair sei vorhanden.
Gaudenz Looser: Aber?
An den Details müssen Sie noch arbeiten. Zum Beispiel tragen Sie oft ein Hemd mit Haifischkragen in Kombination mit einem Gilet. Ein echter Mode-Unfall laut Frau Rossi.
Das nehme ich gern zur Kenntnis.
Wie gefällt es Ihnen, nach dem Äusseren beurteilt zu werden, wie das «20 Minuten» oft bei Politikerinnen macht?
Ich kann es nicht verhindern. Insofern spielt es keine Rolle, ob es mir gefällt oder nicht. Ich kann nur versuchen, etwas auszusenden. Manchmal gehe ich ganz gern im abgefuckten Look im Herblinger Markt einkaufen, um der Welt mitzuteilen: Ich habe so etwas von Wochenende.
Sie sollen sehr oft am Smartphone hängen. Damit das Gerät nicht schlappmacht, benötigen Sie einen externen Akku, und daran ist nochmals ein Akku angeschlossen.
Nein, ein externer Akku reicht.
Würden Sie sagen, dass Sie handysüchtig sind?
(lacht) Ja.
«Journalist zu sein, hielt ich früher für unmoralisch.»
Beginnen wir von vorne. Sie sind in Stetten aufgewachsen. Wie wird man vom Stettemer Bub zum Chefredaktor von «20 Minuten», dem grössten Medium der Schweiz?
Das weiss ich nicht; es hat sich irgendwie so ergeben. Ich wollte eigentlich nicht Journalist werden. «Schuld» daran ist mein Zeichnungslehrer in der Kanti, Herr Schwyn. Er sei von Radio Munot angefragt worden, weil man eine Jugendsendung machen wolle, da habe er an mich gedacht. Ich war damals ein wilder Siech. Ich fragte einige Kollegen an, und zusammen gründeten wir die Sendung Tonic, die es heute noch gibt. Später schrieb ich für die Schaffhauser Nachrichten Konzertberichte. Mehr oder weniger gut. Aber ich dachte damals: Die Sache mit dem Journalismus ist schwierig.
Warum?
Weil man letztlich immer nur eine verzerrte Realität abbilden kann. Du kannst der Realität nie völlig gerecht werden. In meiner Sturm-und-Drang-Zeit war das ein Problem. Journalist zu sein, hielt ich für unmoralisch.
Und was war moralisch gut?
Ich wollte Anwalt werden. Wahrscheinlich aus dem Bedürfnis, die Regeln zu verstehen. Das hat sich als fundamentaler Fehlentscheid entpuppt. Ich studierte zwei Semester und war furchtbar verloren. Danach arbeitete ich auf dem Bau, zusammen mit einigen anderen, die vom Karren gefallen sind. Nach sechs Monaten kam ich zum Schluss, dass ich es nochmals mit dem Schreiben versuchen sollte. Ich bewarb mich bei den Glarner Nachrichten. Mein Vater kannte dort jemanden. Das Glarnerland ist sehr geeignet für eine Findungsphase. Eine Gemeinschaft mit offenen Menschen, die viele Fehler verzeihen – weil sie gar nicht anders können (lacht).
Sie sagen, Sie seien ein wilder Siech gewesen, und reden von einer Sturm-und-Drang-Zeit. Was meinen Sie damit?
Ich lief, für die damalige Zeit in Schaffhausen, sehr bunt herum.
Eher als Punk oder als Techno-Freak?
Ich war nie ein Punk, aber es gab entsprechende Einflüsse. Ich habe meine Hosen selber aus farbigen Jeans zusammengenäht. Und ich machte Sparglamenten mit meinen Haaren. Einmal färbte ich sie knallrot und bürstete sie nach vorne, das sah echt abgefahren aus. Meinen Geografielehrer irritierte das sehr. «Es wird immer clownesker», sagte er spitz. Ich war furchtbar beleidigt, aber vielleicht hatte er recht.
2005 kamen Sie zu «20 Minuten» …
Da hat sich mein innerer Konflikt vollends aufgelöst. Der Ansatz von 20 Minuten war, im Vergleich zu dem, was ich bisher kannte, komplett anders: Es geht nicht um den Autor, sondern um den Leser – Journalismus als Dienstleistung.
Als wir die App von «20 Minuten» gestern früh herunterluden, dachten wir, die Welt sei aus den Fugen, und wir wussten trotzdem nicht, was genau da draussen vorging. Schlafen Sie eigentlich gut?
Ja, meistens. Leben Sie newsabstinent?
Nein, gar nicht. Aber der Inhalt war abschreckend. Die Schlagzeilen lauteten: «Teenie klaut betrunken Mamis Auto», «Der Kreisel wirkte wie ein Katapult», da ging es um einen Unfall. Weiter: «Kind auf Weihnachtsmarkt von Eisskulptur erschlagen», «Interdiscount verschenkt Gutscheine für Ski-Pässe», «Bellydah postet Drogen-Foto auf Instagram».
Das ist doch ein interessanter Mix.
Sie haben von «Journalismus als Dienstleistung» geredet. Bitte erklären Sie diese Schlagzeilen.
Alles ist sehr aktuell. Die Themen interessieren einen grossen Teil unserer Leserinnen und Leser. Der Kreisel-Unfall war einer der spektakulärsten in den letzten fünf Jahren. Bellydah oder wie sie heisst ist vom Bachelor, was nach wie vor die Fernsehshow ist. Dienstleistung bedeutet, eine Nachfrage zu befriedigen. Unser Themenmix besteht zu je einem Drittel aus klassischen Boulevardthemen, aus Gesellschaftsthemen sowie aus Wirtschaft und Politik.
Stellen Sie sich vor, der Gaudenz Looser in seinen wilden Jahren würde sich die «20 Minuten»-App herunterladen. Was würde er sagen?
Schwierig. Ich war damals einer von denen, die sich sehr leichtfüssig über den Blick mokiert haben. Das war eine billige Selbsterhöhung, ohne selber einen Plan zu haben, wie viel Arbeit in der Zeitung steckt.
Unfall, Drogen, Bachelor, Kind erschlagen: «Ein interessanter Mix.»
2008 schrieben Sie einen Leserbrief, der in den «SN» erschien. Sie beklagten sich, dass der lokale Anbieter Sasag den «Qualitätssender BBC Prime» aus dem Angebot genommen habe und stattdessen «Juwelen aus dem reichhaltigen deutschen Trash-TV-Sortiment» wie RTL anbiete.
Das würde ich erneut unterschreiben.
Dabei lebt «20 Minuten» zu einem guten Teil von Trash-TV.
Wir decken zwar den Bachelor ab, aber das heisst nicht, dass ich es selber konsumieren muss. Es geht eben nicht um mich, sondern um die Leserinnen und Leser. Den spielerischen Zugang zu grossen gesellschaftlichen Fragen, was BBC hervorragend macht, machen wir auch. Im Übrigen sind wir keine klassische Boulevardzeitung. Und schon gar nicht mit deutschen Privatsendern zu vergleichen. Bitte schön.
Das ist, um Sie zu zitieren, eine billige Selbsterhöhung.
Nein. TV empfinde ich generell als unglaubliche Einseifung des Bewusstseins. Deshalb habe ich keinen Fernseher mehr.
Über Sie ist privat nur wenig bekannt. Schützen Sie Ihr Privatleben aktiv?
Nein, aber ich trage es nicht vor mir her.
Auf Instagram stehen bei Ihnen teure Zigarren, guter Wein und Sportwagen hoch im Kurs. Sind Sie – wir stellen uns vor, das wäre eine gute Frage für «20 Minuten» – sind Sie süchtig nach Luxus?
Ich habe nicht das Bedürfnis, mich, mein Mittagessen oder meine Kinder zu zeigen. Ich muss aber in meiner Rolle ab und zu selber üben, wie die Mechanismen auf Social Media funktionieren. Ich lade meistens dann Bilder hoch, wenn ich beruflich unterwegs bin. Ich bin weder süchtig nach Zigarren noch nach Sportwagen. Ich lebe sehr einfach.
2004 kandidierten Sie für die grüne Partei ÖBS für den Schaffhauser Kantonsrat.
Schon damals zählte ich mich zum grünliberalen Teil der Partei. Die Ökologie ist mir nach wie vor ein grosses Anliegen.
Sie betonen stets, «20 Minuten» sei politisch «so unparteiisch wie möglich». Wo steht die Zeitung tatsächlich?
Die Redaktion besteht aus einem bunten Mix von politischen Positionen. Die eigene politische Haltung hat in der Berichterstattung jedoch nichts zu suchen. Wenn ich in Artikeln sehe, was der Autor persönlich findet, interveniere ich.
Wie oft kommt das vor?
Zurzeit ungefähr ein- bis zweimal pro Jahr. Passierte aber auch schon häufiger.
«Die beste Headline ist: Es schneit.»
Was verstehen Sie unter dem Begriff «unparteiisch»?
Das heisst, dass man alle relevanten Fragen zu einem Thema stellt, das die Öffentlichkeit interessiert. Egal, welche Seite deswegen an die Kasse kommt. Und dass immer beide Seiten zu Wort kommen, man selbst aber nie Partei ergreift. Das ist alles.
Ehemalige Angestellte sagen, Sie seien nur an Klickzahlen interessiert: Wie viel ein Artikel gelesen wird. Die Qualität sei zweitrangig.
Ich finde es nicht so cool, auf anonyme Aussagen Stellung zu nehmen. Was soll ich damit anfangen?
Der Vorwurf ist: Sie stellen die Klickzahlen über alles, zulasten der Qualität der Artikel.
20 Minuten ist ein kommerzielles Unternehmen, das Geld verdienen muss, um rentabel und erfolgreich zu bleiben. Ich versuche, diese Aufgabe mit einem Produkt zu erfüllen, das den Leser glücklich macht. Ist die Qualität schlecht, ist der Leser nicht mehr glücklich. Ergo ist Qualität wichtig.
Aber letztlich interessiert Sie die Qualität der Schlagzeile und nicht diejenige des Artikels, der dahinter steht.
Schlagzeilen sind wichtig. Noch wichtiger ist aber, dass sich der Leser nicht verarscht fühlt.
Wir haben mal gelesen, die allerbeste Schlagzeile müsse die Begriffe «Hitler», «Sex» und «Gewalt» beinhalten.
Die beste Headline ist: «Es schneit».
Tatsächlich?
Der erste Schnee, ein guter Hagelsturm oder die Hitze bewegt die Menschen wahnsinnig.
Das Geschäftsmodell von «20 Minuten» ist es, Themen zu behandeln, die emotionalisiert werden können.
Das ist Teil des redaktionellen Konzepts, ja.
Ihnen wird vorgeworfen, damit zur Spaltung der Gesellschaft beizutragen. Das heisst: Emotionen schüren, mehr Hass, mehr Angst.
Da bräuchte ich ein Beispiel.
Ein Artikel von heute Morgen: Eine Schule in Wil, St. Gallen, verbannte drei christliche Lieder von ihrer Adventsfeier, weil muslimische Eltern angeblich reklamierten.
Das ist eine Geschichte.
Das Rezept ist: Man nimmt eine Position, sucht nach einer Gegenposition, vielleicht gibt es auch noch eine Expertin, die das Richtige sagt, und schon hat man den Konflikt konstruiert.
In diesem Artikel ordnet der Experte ein.
Dieser Experte redet von einem «salafistischen Einfluss» an der Schule. Wegen drei Liedern.
Dann frage ich zurück: Wie hätte man den Artikel sonst schreiben sollen?
Unter dem Strich überwiegen doch die Emotionen. Die bösen Muslime auf der einen, die aufgebrachten Schweizer auf der anderen Seite.
Wir haben die Fakten präsentiert und sonst nichts. Im Artikel war kein einziger emotionalisierender Satz. Auch die Statements sind äusserst sachlich.
Ob ein «salafistischer Einfluss» sachlich ist …
Dieses Zitat stammt immerhin vom Vorsteher der grössten schweizerischen Muslimgemeinschaft. Der hat schon etwas zu sagen zum Thema. Wenn wir in diesem Spannungsfeld keine Fragen mehr stellen dürfen, machen wir unseren Job nicht. Die einzige Alternative wäre es, gar nichts darüber zu schreiben. Aber auch dann würden wir unseren Job nicht machen.
«Ich lese keine Bücher mehr. Mir fehlt die Geduld.»
In einem derart aufgeheizten Kontext kann doch kein Dialog stattfinden.
Ich sehe uns als intermediär. Wir stellen oft unangenehme Fragen, die beide Seiten dazu zwingen, sich damit auseinanderzusetzen und miteinander zu reden. Wir stehen ein Stück weit ausserhalb der Gesellschaft, weil wir unsere Unparteilichkeit sehr ernst nehmen. Das führt dazu, dass wir von beiden Seiten Haue kriegen. Wir tragen das mit Stolz.
Sie haben von «20 Minuten» als Dienstleister geredet. Wie wäre es mit einer Dienstleistung zum Schluss: Welches Buch lesen Sie gerade – und empfehlen Sie es weiter?
Ich lese keine Bücher mehr.
Warum nicht?
Mir fehlt die Geduld. Ich ertrage die Subjektivität der Schriftsteller nicht; ich lese drei Seiten und denke: «Was bist du für ein Tubel.» Und Sachbücher sind mir zu ineffizient. Ich will maximale Effizienz in Texten. Ich wünschte mir, ich könnte wieder Bücher lesen. Früher las ich leidenschaftlich.
Ist das eine Langzeitfolge von 14 Jahren bei «20 Minuten»? Hat Ihre Aufmerksamkeitsspanne unter dem Newsgeschäft gelitten?
(überlegt) Kann ich nicht ausschliessen.