Ein Arbeitersohn zieht in die Welt. Schwerreich zurück, verspricht er seiner Heimat das Blaue vom Himmel. Die Geschichte einer geplatzten Ansiedlung, eines Rechtsstreits um 115 Millionen Franken – eines Mannes, der zu gross wurde für seine Stadt.
Eines Tages, es war ein strenger Winter Anfang der Fünfzigerjahre, stiegen Erich und Peter Schulthess bei der dreistämmigen Eiche im Neuhauser Wald auf einen Schlitten. Die Buben nahmen Fahrt auf, querten den Dorfkern und hatten fast schon den Rheinfall erreicht, als der Schlitten kippte. Die Brüder flogen durch die Luft, und Peter prallte mit dem Gesicht auf den vereisten Boden. Sofort schoss Blut aus seiner Nase. Erich aber blieb ruhig, packte eine Handvoll Schnee und steckte sie Peter in den Rachen. Sofort stoppte die Blutung. «Erich hat schon als Kind immer alles gewusst», sagt Peter Schulthess heute.
Wissen und Instinkt, sie haben Erich Schulthess jahrzehntelang begleitet. Und ihm zu ungeheurem Reichtum verholfen. Doch was ein halbes Jahrhundert später, am frühen Morgen des 21. Mai 2003, auf der Schaffhauser Breite geschieht, hat selbst er nicht kommen sehen.
Seit diesem Tag, als sich eine Schar Polizisten unter der Leitung der Zürcher Bezirksanwaltschaft IV und der schwedischen Steuerbehörden Zutritt zu den luxuriösen Büroräumen in der ehemaligen Bringolf-Villa auf der Breite verschaffte, geht es abwärts mit Erich Schulthess: jenem Mann, der dem schwedischen Telekom-Riesen Ericsson einst den Zugang zum arabischen Markt eröffnete – und den Weltkonzern später in Schaffhausen ansiedeln wollte. Heute steht er mit dem Rücken zur Wand. Der Verdacht: Schulthess soll Ericsson als «Strohmann» geholfen haben, Hunderte Millionen Franken Schmiergeld an korrupte Machthaber auf der ganzen Welt zu bezahlen – um Ericsson dann selber um über hundert Millionen zu prellen.
Glamour in der «Gerberstube»
Gehört man in Schaffhausen nicht zu einem kleinen, elitären Kreis, verkehrte man nicht in der legendären Gerberstube, geht man nicht mit den wichtigen Leuten auf die Jagd, so bleibt einem Erich Schulthess ein Phantom. Viele, die ihn kennen, wollen nicht über ihn reden, lassen Anfragen unbeantwortet oder winken ab und sagen, sie hätten keine Lust, ins Gefängnis zu gehen. Auch Schulthess selbst richtet höflich, aber bestimmt aus, er wünsche keinen Kontakt; sein Anwalt habe ihm davon abgeraten. Doch bleibt man beharrlich, beginnen sich Konturen abzuzeichnen, die Umrisse einer Tellerwäscherkarriere.
Erich K. Schulthess wird 1943 als eines von sieben Kindern in eine Neuhauser Arbeiterfamilie geboren. «Der Vater war froh um den Krieg», erinnert sich Bruder Peter, die Deutsche Bahn habe damals viele Schweizer angestellt. Nach dem Krieg kann Vater Schulthess die Stelle behalten, an der Neuhauser Zollstrasse hütet er die Barriere. Die Buben verbringen ihre Zeit mit Feuermachen und Schnitzen im nahen Wald. Es war eine unbeschwerte Jugend.
Erich lernt Elektromonteur. Doch sein Herz schlägt bald vor allem für grosse Motoren. Zusammen mit seinem Busenfreund Gildo Guidi, der später viele Jahre die Gerberstube in der Unterstadt führen wird, schlittert er in die Autorennszene, in den Kreis der glamourösen Rita Rampinelli, die ihre Boliden bereits in den Fünfzigerjahren in der Männerkategorie über den Nürburgring und den Autodromo in Monza jagte.
Sein erstes Geld verdient er als Tankwart. Ein alter Weggefährte sagt, Schulthess habe schon damals den Ruf gehabt, die dicksten Trinkgelder zu ergattern. Er hatte ein Gespür für Menschen. Und für Geschäfte. In den Sechzigerjahren verkauft er mit einem Geschäftspartner Carrera-Rennbahnen in Kreuzlingen. Doch bald locken grössere Geschäfte. Peter sagt, Erich habe zunächst eine Ladung neue Mercedes nach Saudi-Arabien liefern können; andere erzählen, er habe im Nahen Osten LKW-Occasionen verscherbelt, später Bauzubehör und Pumpen. Laut einem Gerichtsurteil war er später Geschäftsführer eines grossen Generalunternehmens, das «eine Reihe prestigeträchtiger Bauten und Projekte» realisierte. So oder so: Erich Schulthess war einer der ersten Schweizer, die im arabischen Raum Geschäfte machten.
Golfplätze, Flugzeuge, Springreiter
1974 kehrt Schulthess, inzwischen 31, seiner Heimatstadt den Rücken. Es taucht eine neue Adresse auf: PO Box 9685, Riyadh 11423, Saudi-Arabien. Drei Jahre später kommen seine Ehefrau und ihr gemeinsamer Sohn nach. 1991 zieht die Familie weiter an die Shaikh Zayed Road in Dubai, die Hauptverkehrsachse der arabischen Metropole. Seine Gattin, so wird gemunkelt, habe als Frau die Repressionen unter dem saudischen Regime nicht mehr ausgehalten.
Ab dann verlieren sich Schulthess’ Spuren. Die Frage, wo er zur Zeit des Ericsson-Skandals im Jahr 2003 offiziell gewohnt hat, beschäftigt Schaffhauser Gerichte seit fast zehn Jahren. Was für Geschäfte er machte und wie genau er sein Geld verdiente, bleibt unklar. Nur sporadisch taucht sein Name auf, etwa als in Dubai 2013 der 167 Meter hohe Swiss Tower eröffnet wird, ein Luxuswolkenkratzer der Superlative. Bilder zeigen den ehemaligen Neuhauser Arbeitersohn mit Ständeratspräsident Filippo Lombardi und der Schweizer Botschafterin. «Der höchste Turm der Schweiz steht in Dubai», schrieb die NZZ. Die Idee dazu hatte Schulthess neun Jahre zuvor bei einem Spaghettiplausch mit einflussreichen Freunden. Es hat sich gelohnt. Die ersten elf Stockwerke waren in drei Stunden verkauft.
Das Geld investierte er in der Heimat. Und so taucht der Name Schulthess ab den Achtzigerjahren in Verwaltungsräten diverser Schweizer Firmen auf. Zum Beispiel in der Harradine Golf AG, benannt nach Peter Harradine, einem Gefährten von Schulthess aus Dubai, der laut Handelszeitung zur «Weltelite der Golfplatzarchitekten» gehört und für arabische Herrscher private Spielplätze in die Wüste baut – ungeachtet von Menschenrechtsverletzungen. Auf die Frage, ob er Muammar al-Gaddafi oder Mahmud Ahmadinedschad einen Golfplatz bauen würde, antwortete Harradine in einem Interview: «Warum sollte ich auch Nein sagen? Golf ist ein sehr friedliches Spiel.»
Auch bei den Fluggesellschaften Classic Air und Odette Airways sitzt Schulthess bald in den Verwaltungsräten. 2003 titelt der Tages-Anzeiger: «Neue Konkurrenz für Swiss» – und zeichnet nach, wie Odette mit der Germania Express eine Fusion zu einer neuen Billig-Airline plante. Die Odette Airways AG ist zu diesem Zeitpunkt Teil der Schulthess Holding in Zug. Jahrzehntelang macht Hobbypilot Schulthess fortan Geschäfte in dieser Branche, von Flugsimulatoren bis zum luxuriösen Ausbau von Privatjets. 2003 steigt er auch in die Schifffahrt ein – als Financier der EPH Nautic AG, die 2001 das Kursschiff MS Kreuzlingen von der Schifffahrtsgesellschaft Untersee und Rhein kauft. Die MS Kreuzlingen liegt heute die meiste Zeit vertäut beim St. Katharinental.
15 Jahre später, 2016, wird die AXA Winterthur nur ein paar Hundert Meter rheinaufwärts in Diessenhofen nach jahrelanger Suche endlich einen Käufer für das Seminarhotel Unterhof samt mittelalterlicher Burg und dem Traditionslokal Hölle finden. Käuferin ist die Konfidenz Immobilien AG, die wiederum Gesellschafterin der Baurenova GmbH ist; beide sind an derselben Adresse in Schaffhausen domiziliert. Es ist der Familiensitz von Schulthess. Die Baurenova wird geführt von André Schulthess, Sohn und designierter Nachfolger des heute 75-jährigen Erich.
2001 beginnt Schulthess, seine Investitionen auf ein Springreiterteam auszuweiten – und baut ein «Weltteam» mit den besten Pferden und Reitern auf. «Das Springreiten steht allem Anschein nach am Anfang einer neuen Ära. Auf die Reiter kommen rosige Zeiten zu», schreibt darauf die Zeitung Welt euphorisch: «Möglicherweise werden sie bald, ganz im Stile von Fussballprofis, auf einem Transfermarkt gehandelt.»
Doch Schulthess will mehr. Er will Anerkennung – nicht nur in der Businesswelt, sondern auch dort, wo er herkommt: in Schaffhausen.
550 Millionen Franken Schmiergeld?
Aber dann kommt dieser verhängnisvolle 21. Mai im Jahr 2003. Polizisten stehen in der Dämmerung mit einem Durchsuchungsbefehl vor der ehemalige Bringolf-Villa auf der Breite – und das Schicksal nimmt seinen Lauf. In der frisch renovierten Wohnung von Liss-Olof Nenzell, einem hochrangigen Manager und ehemaligen Vizedirektor des Ericsson-Konzerns, beschlagnahmen die Beamten diverse Akten. Die Hausdurchsuchung ist der vorläufige Höhepunkt einer Affäre, die später als Ericsson-Bestechungsskandal weltweit Wellen schlagen sollte. Der Verdacht: Ericsson soll zwischen 1998 und 1999 rund 550 Millionen Franken Schmiergelder an Regierungsmitglieder in zwei Dutzend Ländern gezahlt haben, um Aufträge zum Aufbau von Mobilfunknetzen zu erhalten. Die Rede ist auch von Steuerhinterziehung im ganz grossen Stil.
Zwei Tage nach der Hausdurchsuchung sagt der Schaffhauser Stadtpräsident Marcel Wenger in den Schaffhauser Nachrichten, er sei von den Verdächtigungen gegen Nenzell überrascht. Da dürfte er bereits geahnt haben, dass er zu gierig gewesen war. Dass er sich hatte blenden lassen von der Aussicht, einen ganz dicken Coup zu landen: die Ansiedlung grosser Teile eines Weltkonzerns – eines geschätzten Steuersubstrats von rund 500 Millionen Dollar. Und dass er jetzt, wo das Kartenhaus zusammenbricht, mit abgesägten Hosen da steht.
Liss-Olof Nenzell sollte 2016 erneut internationale Schlagzeilen machen. Diesmal als Whistleblower, der schwere Korruptionsvorwürfe gegen Ericsson erhebt. Der Fall ist bis heute nicht abschliessend geklärt. Doch erst vor zwei Monaten, Ende September 2019, wurde bekannt, dass Ericsson 1,2 Milliarden US-Dollar für Strafzahlungen zurückgestellt hat – wegen Korruptionsermittlungen des US-Justizministeriums und der US-amerikanischen Finanzaufsicht.
40 000 Franken fürs Bachfest
Schaffhausen ist heute in den Akten zum Fall Ericsson nur noch eine Fussnote. Umgekehrt beschäftigt die Korruptionsaffäre die Stadt hinter den Kulissen bis heute. Mittendrin: Erich K. Schulthess.
Zurück ins Jahr 1999. Die kantonale Wirtschaftsförderung hatte eben erst ihre Arbeit aufgenommen und musste sich zuerst sortieren. Der städtische Wirtschaftsförderer, ein pensionierter Banker im Teilzeitpensum, bekleidete dieses Amt eher pro forma. Firmenansiedlungen wurden entsprechend informell und unbürokratisch eingefädelt – man darf sich üppige Mittagessen unter einflussreichen Männern vorstellen. Am 19. Oktober 1999 vermelden die Schaffhauser Nachrichten: «Ein weiterer Erfolg der Schaffhauser Wirtschaftsförderung: Seit neustem hat auch der schwedische Weltkonzern Ericsson einen Fuss in Schaffhausen. [ …] Die neue Gesellschaft wurde mit einem Aktienkapital von einer Million Franken ausgestattet und wird etliche neue Arbeitsplätze schaffen.»
Warum sich Ericsson ausgerechnet für Schaffhausen entschieden hatte, fragte die Zeitung nicht. Ebenso ahnten nur wenige, dass die Kleinstadt für Ericsson nicht zuletzt ein guter Standort war, weil es hierzulande im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern noch keine Antikorruptionsgesetze gab. Auch dass Schulthess der Drahtzieher der Ansiedlung war, wussten nur Eingeweihte.
Der Emporkömmling brachte bei seiner Rückkehr nicht nur einen Weltkonzern mit ins Städtchen, sondern auch eine ganze Menge Grandezza. Der Geldbeutel des Arbeitersohns sass locker. Nebenbei spendete er gerne mal 40 000 Franken ans Klassikfestival Bachfest. Für Schulthess waren es kleine Gesten, doch sie entfalteten eine grosse Wirkung: Schnell hatte er die wichtigen Leute im Sack. Zum Beispiel Stadtpräsident Marcel Wenger, der Schulthess und der grossen Ericsson freudig den Teppich auslegte.
Die Stadt bereitet zu diesem Zeitpunkt gerade die «Baurechtsoffensive 1999» vor. Sie will Liegenschaften abstossen, darunter auch die imposante Villa mit 2500 Quadratmetern Umschwung, in der früher Walther Bringolf logierte, der langjährige Präsident der SP Schweiz, Schaffhauser Stadtpräsident und Fast-Bundesrat. Es ist der perfekte Firmensitz für Ericsson.
Eine Villa unter der Hand
Doch es gibt noch andere Interessenten. Und das Geschäft muss zuerst durchs Parlament. Schulthess kümmert das wenig. Die Protokolle der Parlamentsdebatte zeigen, dass er sich bereits vor dem Entscheid bei den damaligen Mietern als neuer Besitzer vorstellt und ihnen eröffnet, sie müssten sich eine neue Bleibe suchen. Stadtpräsident Wenger muss sich daraufhin im Grossen Stadtrat für den Vorfall entschuldigen, doch die Kritik an seinem Kuhhandel hat keine Folgen.
Damalige Mitbewerberinnen, die in der Villa ein genossenschaftliches Wohnprojekt realisieren wollten, sagen heute, sie hätten von Anfang an keine Chance gehabt. Einige von ihnen führen bis heute kleine Gewerbebetriebe in der Stadt und tragen zur Stadtentwicklung bei. Schulthess dagegen hat seit seinem Weggang nach Saudi-Arabien 1974 weder in der Schweiz noch im Nahen Osten Einkommens- und Vermögenssteuern bezahlt.
Am 29. Dezember 1999 unterschreibt der Rückkehrer im Auftrag von Ericsson einen Baurechtsvertrag mit der Stadt. Er übernimmt die Bringolf-Villa mit einer Wohnfläche von 600 Quadratmetern und baut sie grosszügig um. Doch schon dreieinhalb Jahre später stehen die neuen Büroräume leer. Denn gleich nach dem Auffliegen des Korruptionsskandals im Mai 2003 zieht sich Ericsson aus Schaffhausen zurück.
Heute ist das Anwesen mit Militärstacheldraht geschützt und steht zum Verkauf. Der mittlerweile zuständige Stadtrat, Finanzreferent Daniel Preisig, sagt auf Anfrage: «Unverständlicherweise wurden im Baurechtsvertrag keine verbindlichen Sicherungen eingebaut für den Fall, dass die für den Zuschlagsentscheid wichtigen Zusagen nicht eingehalten werden.» Schulthess verlangt für das Anwesen, das er für 1,15 Millionen von der Stadt gekauft hat, heute 3,37 Millionen Franken. Die Liegenschaft ist über eine Immobilienfirma ausgeschrieben.
Von den Firmen EMK Marketing + Kommunikations AG und EFH Holding und Finanz AG, die Ericsson um die Jahrtausendwende in Schaffhausen eintragen liess, gibt es in Schaffhausen nur noch auf dem Handelsregisteramt Spuren. Die Firmen wurden 2008 und 2009 gelöscht. Übrig geblieben waren zum Schluss nur noch ein paar Verlustscheine in der Höhe von rund einer Million Franken.
Partys im «Palais Schaumburg»
Will man mit Marcel Wenger, dem Ex-Stadtpräsidenten, über das Desaster sprechen, nimmt er zum Treffen ungefragt den damaligen Stadtschreiber mit – zur juristischen Absicherung. Nur um dann gleich vorweg zu sagen, dass er zu der Geschichte rein gar nichts sagen könne, schliesslich sei er ans Amtsgeheimnis gebunden: «Warum kommen eigentlich immer alle zu mir wegen dieser Sache?» Es sei doch alles mit rechten Dingen zu und her gegangen.
Wie aber kam es, dass das Schaffhauser Establishment so grosszügig wegschaute und nicht nachfragte, als Schulthess dem Städtchen das Blaue vom Himmel versprach? Wie konnte er alle blenden?
Schon 2003, nach der Hausdurchsuchung auf der Breite, wollte ihn ein Journalist des Nachrichtenmagazins Facts interviewen und fuhr zum Anwesen auf der Breite. Der Reporter sah einen Mann auf einer Putzmaschine und fragte ihn, ob Herr Schulthess zu Hause sei. Der Mann aber winkte ab und sagte, Schulthess sei im Ausland. Erst später realisiert der Journalist: Der Mann auf der Putzmaschine war Erich Schulthess.
Schulthess hielt sich während der Ericsson-Ansiedlung und des Aufbaus seines Firmengeflechts in der Schweiz immer wieder für längere Zeit in Schaffhausen auf. Weggefährten sagen, er sei stets grosszügig gewesen. Und standesbewusst. Oft habe er mit seiner Gattin im prunkvollen Hotel Parkvilla verkehrt, vorgefahren sei er im schwarzen Geländewagen mit kurzem Kennzeichen. Ein gern gesehener Gast, der «nicht nur Wurstsalat» gegessen habe. Seine opulenten Feste seien legendär gewesen. Seine Villa auf der Breite nannte man in einschlägigen Kreisen «Palais Schaumburg» – in Anlehnung an den ersten Dienstsitz des deutschen Bundeskanzleramts.
Andere erzählen, dann und wann habe Schulthess das Gespür für seine Umgebung vermissen lassen: «Auf der Jagd hat er sündhaft teuren Bordeaux in die Zinnbecher gefüllt. Dabei reicht bei null Grad im Wald doch auch ein guter Landwein.» Man hört auch, der Schulthess habe hier und da immer wieder mal jemanden «in die Pfanne gehauen». Bruder Peter erklärt sich diese Reaktionen mit Neid: «Wenn einer aus einer unbedeutenden Familie kommt und plötzlich Geld hat, ist in Schaffhausen der Teufel los.»
Schaffhausen als «Drehkreuz»
Doch bei ein wenig Spott und Neid sollte es nicht bleiben. Plötzlich droht dem Mann mit dem einst so sicheren Instinkt handfester Ärger: Im Mai 2010 reicht Ericsson in Schaffhausen eine Zivilklage gegen Erich Schulthess ein. Der Konzern mit über 100 000 Mitarbeitenden und einem Jahresumsatz von zwanzig Milliarden Euro fordert von Schulthess 115 Millionen Franken zurück, die dieser während seiner Tätigkeit für den Weltkonzern abgezweigt haben soll. Seither haben die Gerichte vier Urteile produziert, über hundert Seiten Papier – sie erzählen einen Wirtschaftskrimi erster Güte (siehe unten: «Pingpong zwischen den Gerichten»).
Ericssons Behauptung: Schulthess habe als «Berater» für den Konzern mehr als ein Dutzend Scheinfirmen gegründet, die als Zwischenstationen für verschiedene Zahlungen gedient haben sollen. Zwischen 1998 und 2001 habe er so rund 340 Millionen Franken verschoben. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich um besagte Schmiergelder handelt, die mutmasslich an korrupte Regierungsmitglieder in über zwanzig Staaten wie Rumänien, Griechenland oder den Arabischen Emiraten gezahlt wurden. Ericsson behauptete, es sei wichtig gewesen, dass «eine in Schaffhausen wohnhafte Person» die Geschäfte abwickle. Schaffhausen sei das «Drehkreuz» für die Zahlungen gewesen.
Doch dann, so behauptete Ericsson, habe Schulthess plötzlich angefangen, sein eigenes Spiel zu spielen. 115 der 340 Millionen Franken, die er verwaltete, habe er von den Konten der Scheinfirmen «unrechtmässig
abdisponiert».
Verschiedene Medien verbreiteten etwa die These, dass Schulthess’ Fluggesellschaft Odette Airways AG zu einem guten Teil aus dem Ericsson-Topf finanziert worden sei. Ericsson jedenfalls verlangt seither auf dem Rechtsweg über die Schaffhauser Gerichte 115 Millionen Franken zurück. Der Konzern äussert sich auf Anfrage nicht zum Fall. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.
Auch Schulthess schweigt. In den vergangenen Jahren sei der heute 74-Jährige nur noch ein paar Tage im Jahr in Schaffhausen gewesen, sagen Weggefährten. Meist zur Jagdsaison, für Tage in der unberührten Natur, wie damals, vor über 60 Jahren, im Neuhauser Wald. Es scheint, als habe er als grosser Held in die alte Heimat zurückkehren wollen – um die Bühne dann durch die Hintertür wieder zu verlassen.
Erich Schulthess’ Sohn André, designierter Nachfolger und Halter der Familienholding, wohnt weiterhin auf dem Familiensitz auf der Breite. Es ist ein herrschaftliches Haus, aber ohne jeglichen Prunk. Wen man auch fragt, alle sagen, der Sohn lebe zurückgezogen. Mehrere Anfragen lässt er unbeantwortet.
Als es an einem Dienstagabend an seiner Haustür klingelt, steht er nach einer Weile aber in der Tür. Ein Mann mittleren Alters, seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten, die selben buschigen Augenbrauen, doch gerade mal halb so breit. Der Sohn, T-Shirt, Digitaluhr, farbiger Faserpelz aus den Achtzigerjahren, sagt schüchtern und mit dünner Stimme, er gebe kein Interview. Er sei angeschlagen und wolle «absolut nichts mit der Öffentlichkeit zu tun haben». Man solle ihn bitte in Ruhe lassen. Dann schliesst er geräuschlos die Tür. Auf dem Briefkasten klebt ein verblichener Sticker der Harradine Golf AG.
Die Ära Schulthess, sie scheint in Schaffhausen abgelaufen.
***
Der Prozess: Pingpong zwischen den Gerichten
Ericsson fordert von Erich Schulthess über die Schaffhauser Gerichte rund 115 Millionen Franken zurück, um die er den Konzern erleichtert haben soll. Doch Schulthess argumentiert, nicht er habe die Verträge mit Ericsson abgeschlossen, sondern die von ihm kontrollierten Firmen. Also sei er persönlich auch nicht haftbar. Ausserdem behauptet er, er habe zur besagten Zeit nicht in Schaffhausen gewohnt, sondern in Dubai. Die Schaffhauser Gerichte seien also gar nicht zuständig.
Letztere Frage beschäftigt die Gerichte nun seit fast zehn Jahren. Das Kantonsgericht folgt der Argumentation von Schulthess, das Obergericht der Argumentation von Ericsson. Die beiden Gerichte spielen ein munteres Pingpong. Derzeit liegt der Fall bereits zum dritten Mal beim Kantonsgericht.
Ein Zivilrechtsexperte, der den Fall für die AZ studiert hat, sagt, man sehe den Urteilen an, dass das Kantonsgericht wohl wenig Lust gehabt habe, den gigantischen Streitfall zweier dubioser Parteien aufzurollen.
Heute lässt das Kantonsgericht ausrichten, bis 2020 würden noch neue Beweise entgegengenommen. Falls das Gericht dann zum Schluss kommt, doch auf die Klage einzutreten, läuft der Fall erst richtig an.
Doch warum hat Ericsson überhaupt den Gerichtsstand Schaffhausen gewählt für seine Klage? Es scheint naheliegend, dass Ericsson nicht in Schweden klagen wollte, weil dort weiteres Ungemach vonseiten der Strafverfolgungsbehörden gedroht hätte. Der Strafrechtsprofessor und Antikorruptionsexperte Mark Pieth sagt, diese Hypothese sei nicht abwegig. Er habe Fälle erlebt, bei denen Schweizer Gerichte für ähnliche Zwecke genutzt worden seien. Erst kürzlich sagte er in einem Interview mit dem Branchenmagazin Plädoyer: «Die Schweiz ist ein Piratenhafen.»
Dieser Text erschien gleichzeitig in der WOZ. Die Recherche wurde finanziell unterstützt durch «investigativ.ch: Recherche-Fonds der Gottlieb und Hans Vogt Stiftung».