Galgenbuck: Wie wir das Licht am Ende des Tunnels suchten und das Herz der Schweiz fanden.
Die Schweiz und ihre Löcher – eine Liebesgeschichte. Unsere Tunnels sind Teil der Schweizer Identität und Symbol des Fortschritts. Wir mögen zwar auch die Berge, aber noch lieber sind uns die Löcher, die wir durch sie hindurch bohren und sprengen. Gott sprach «macht euch die Erde untertan», und die Schweiz sagte: «Verstanden, wir bohren mal ein Loch.»
Darum ist die NEAT «ein Jahrhundertwerk», darum ist auch der vergleichsweise kleine Galgenbucktunnel, der Beringen mit Schaffhausen verbindet und am 4. Dezember nach acht Jahren Bauzeit eröffnet wird, nicht einfach irgendein Bauwerk, sondern «Ein Lichtblick für die ganze Region», wie eine Publibeilage in den Schaffhauser Nachrichten letzte Woche verkündete.
Und diesen Lichtblick wollen sich Herr und Frau Schaffhauser am vergangenen Sonntag genauer anschauen. Es ist schliesslich ihr Tunnel. Später wird uns jemand erzählen, er sei eigentlich der Bratwurst wegen gekommen, habe aber zu wenig Geduld für das lange Anstehen gehabt.
Schneller aus dem Klettgau weg
«All In» steht auf der gelben Weste eines Sicherheitsmannes. Alle in den Bus? Oder alle in den Tunnel? Hinter dem Schaffhauser Bahnhof stehen deutlich mehr Leute, als in einem der Shuttlebusse Platz haben. Sie sollten laut Einladung «alle 7–8 Minuten fahren», doch nach einer Viertelstunde entscheiden wir uns für den Regionalbus nach Beringen. Wir sind nicht die Einzigen, die den Versuch, einen Shuttlebus zu erwischen, aufgeben. Jemand erzählt, dass zwar schon zwei Busse gekommen seien, in denen aber nicht alle Wartenden Platz gefunden hätten.
Die Busfahrt durch Neuhausen macht erlebbar, warum der Tunnel überhaupt gebaut wurde. Es geht darum, die Rheinfallgemeinde vom Verkehr in und aus dem Klettgau zu entlasten. Und vielleicht auch darum, etwas schneller aus dem Klettgau weg zu können. Das ist etwas wert, 215 Millionen Franken, um genau zu sein.
Der Busfahrer erntet Szenenapplaus, als er ankündigt, beim Tunnelportal Enge extra einen Halt einzulegen. Wie wir den gähnenden Eingang des Lochs betrachten, kommen innerhalb von wenigen Minuten mehrere Shuttlebusse an. Am Eingang bildet sich ein Stau, was vor allem mit den Rucksackkontrollen («um die Sicherheit zu gewährleisten und Vandalismus vorbeugen zu können») zu tun hat.
«Ein Tunnel hat zwei Eingänge. Sonst wäre es ein Stollen.»
Es müssen mehrere Tausend Schaulustige sein, die sich eine «Tunnelwanderung» nicht entgehen lassen wollen. Und die Festwirtschaft. «Neben den Informationen zum Galgenbucktunnel soll auch der gemütliche Teil an diesem Tag der offenen Tür nicht zu kurz kommen», schreibt das Bundesamt für Strassen in der Einladung typisch schweizerisch.
Zuerst muss aber der Tunnel durchwandert werden: 1138 Meter, 4,5 Prozent Gefälle, leichte Linkskurve.
Unterwegs hat es ganz viele Infotafeln mit ganz viel Text, auf denen man alles Mögliche über den Tunnel lernen kann. Wir hatten zum Beispiel keine Ahnung, dass fast 1000 Sprengungen bis zum Durchstich notwendig waren. Oder dass man mit dem ausgebrochenen Gestein dreimal den Munot bauen könnte. Wobei: Der Munot ist ja im Kern auch nur ein Tunnel mit Türmchen.
Aufgrund der langen Warteschlangen verzichten wir auf die Besichtigung von Lüftungszentrale und Notausgang. Dafür erfinden wir eher zufällig ein lustiges Spiel: Man betritt mit interessiertem Blick eine der orangen SOS-Nischen. Sobald andere Leute dazukommen – in der Erwartung, dass es hier etwas zu sehen gäbe –, verlässt man die Nische wieder und schaut dem Dominoeffekt zu: Weil immer jemand jemanden die Nische betreten sieht, wird die Neugierde immer aufs Neue geweckt.
Aber genug gespielt, es geht hier schliesslich um die Sicherheit. Diese geht «über alles», hat uns eine der Infotafeln gewarnt. Also schreiten wir dem Licht am Ende des Tunnels entgegen und der Festwirtschaft. Die Gespräche von hunderten Besucherinnen und Besuchern vermischen sich, von kahlen Tunnelwänden zurückgeschlagen und vervielfacht, zu einem Sound, der sich am besten als sehr lautes Murmeln beschreiben lässt. Es schwillt an, als wir uns langsam der Festwirtschaft nähern.
Der «gemütliche Teil» besteht aus acht Imbissständen und -wagen, einer mobilen Kaffeebar und mehreren Bierschenken. Selbst der Glühweinstand wurde vom Fronwagplatz in den Tunnel verschoben, die Crew trägt bunte Baustellenhelme mit weissen Glühweinbechern als Tunnellampen. Alle Festbänke sind dicht besetzt. Umsatzmässig und olfaktorisch hat der Raclette-Stand die Überhand.
Tunnel, Festbank, Raclette
Erst jetzt sehen wir das Licht am Ende des Tunnels, erst jetzt verstehen wir. Die Schweiz baut so gern Tunnels, weil sie ihren Kern, ihr Innerstes, ihr Herz sucht. Und das sucht man am besten tief im Berg. Oder im Hügel, im Falle des Galgenbucks.
Das Herz der Schweiz, es ist aus Stein und hat Löcher. Der Zauber verfliegt allerdings, wenn wir später in einer rollenden Metallbüchse durch die Wunderwerke der Technik brausen. Darum lässt sich die Magie des Tunnels am besten vor der Eröffnung erleben. Der Beweis dafür ist diese zugige Festwirtschaft an einem Novembersonntag im Galgenbuck: Man sitzt auf einer Festbank. In einem Tunnel. Mit einen Bier im Plastikbecher. Und isst Raclette.
Mehr Schweiz geht nicht.