Wo Luxusuhren entstehen, wollen die Chefs Angestellte, die selbst funktionieren wie ein Uhrwerk. Die Produktivität wird ständig überwacht, und die Löhne sind tief. Einige Angestellte brechen das Schweigen.
Die IWC hat Geld. Darum wurden die Arbeiter, die vor dem Haupteingang an der Baumgartenstrasse die Weihnachtslichter in die beiden Bäume hängten, auch dafür bezahlt, alle Blätter von den Ästen zu zupfen, die dem Herbstwind noch getrotzt hatten.
So etwas leistet man sich bei der IWC. Warum auch nicht? Die Uhrenbranche hat sich vom Frankenschock erholt und fährt hohe Gewinne ein. Bei Richemont, dem Mutterkonzern der IWC, läuft es rund: Die Verkäufe im Luxusuhrenbereich stiegen von März 2018 bis März 2019 um fast 10 Prozent, der Jahresgewinn von 2,8 Milliarden ist das beste Ergebnis des Jahrzehnts. Richemont-Boss Johann Rupert hebt die guten Ergebnisse der IWC in seinem Jahresbericht speziell hervor.
Vor einem Jahr, zum 150-Jahre-Jubiläum der IWC, schrieb der Tagesanzeiger in einem vom üblichen bewundernden Tonfall geprägten Artikel: «Die Produktion findet in der Schweiz statt – zu entsprechenden Löhnen.»
141 Angestellte fordern mehr Lohn
Die Löhne – ja, wie sind die so? Zu tief, sagt ein beachtlicher Teil der Belegschaft. Work, die Zeitung der Gewerkschaft Unia, berichtet von einer Umfrage: 141 von rund 750 Angestellten machten mit und forderten im Mittel 350 Franken mehr pro Monat. Der AZ berichten einige, die meisten wollen ihren Namen aus Angst vor Repressalien nicht in der Zeitung lesen, von Überwachung, enormem Zeitdruck und Geschlechterdiskriminierung beim Lohn.
Ingrid Schmidt* verdient brutto weniger als 4800 Franken – und sie arbeitet seit über 20 Jahren in der Reparaturabteilung der IWC. Und sie sagt: «In meiner Abteilung verdienen die Männer mehr – auch wenn sie genau die gleiche Arbeit machen, auch wenn sie weniger Erfahrung haben als ich.» Sie glaubt nicht, dass das im GAV verankerte Gleichstellungsgebot eingehalten wird.
Für Janos Brummer steht die Lohnentwicklung in einem schlechten Verhältnis zum wirtschaftlichen Erfolg der Firma. Seit 12 Jahren arbeitet der Uhrmacher für die IWC. Für einen Abteilungswechsel hat er eine Weiterbildung absolviert – der Lohn blieb aber nahezu gleich. «Die IWC macht Gewinn ohne Ende, aber man findet immer einen Grund, die Löhne nicht zu erhöhen», sagt Brummer. «Mein eigener Lohn ist OK, es geht mir um das System, das nicht fair ist.»
Auf Produktivität getrimmt
Für die Deutschschweizer Uhren- und Mikroindustrie gibt es einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV). Er beinhaltet unter anderem einen obligatorischen Teuerungsausgleich. Darüber hinaus verhandeln die Gewerkschaften Unia und Syna mit den Arbeitgebern jedes Jahr, ob es eine Empfehlung für individuelle Lohnerhöhungen gibt. Diese Empfehlung ist aber freiwillig, Richemont muss sie nicht umsetzen. Spricht Richemont der IWC Geld für die Lohnentwicklung zu, haben die Abteilungsleiterinnen und -leiter eine gewisse Summe zur Verfügung und entscheiden, welche Mitarbeiter eine Lohnerhöhung erhalten und welche leer ausgehen. Dabei berücksichtigen sie unter anderem die Produktivität ihrer Untergebenen.
Die Stoppuhr läuft selbst während der Toilettenpause
Produktivität: Sie ist bei der IWC das Ein und Alles. Die Boni der Chefs sind massgeblich davon abhängig, wie effizient ihre Abteilungen arbeiten. Auch eine Mitarbeiterin, die nicht Gewerkschaftsmitglied ist, sagt: «Ich habe das Gefühl, wir arbeiten für den Bonus des Chefs.» Ein anderer sagt: «Der Chef will hohe Stückzahlen vorweisen können. Wir müssen sie liefern, die Folge ist Stress.» Die AZ weiss von mehreren Fällen, in denen sogar die Dauer der Toilettenpause gemessen wurde.
«Es gibt für jede Reparatur eine Zeitvorgabe», erzählt Mario Dunst, «die Produktivität wird ständig gemessen.» Er repariert alte Uhren und arbeitet seit 10 Jahren für die IWC. Wie Brummer hat auch er dieses Jahr keine Lohnerhöhung erhalten, letztes Jahr gab es zusätzlich zum Teuerungsausgleich 20 Franken monatlich. Auch er sagt, sein Lohn sei OK. Nicht aber der permanente Stress: «Wir stehen immer unter Beobachtung, und die Stimmung leidet darunter, weil wir das Gefühl haben, dass man uns misstraut.»
«Wir sind die IWC. Wir sollten uns nicht mit Lidl vergleichen, sondern mit Cartier und Omega.»
Wenn sich die Arbeit trotz Stress und hoher Produktivität häuft, erhöht die IWC die Arbeitszeit. In einer Abteilung wurde Überzeit von 45 Minuten während sieben Wochen verordnet, in einer anderen Samstagsarbeit eingeführt: Zuerst freiwillig, dann an mehreren Samstagen obligatorisch. Janos Brummer fasst zusammen: «Wenn es der IWC schlecht geht, stagniert der Lohn. Und wenn es der Firma gut geht, müssen wir, vor allem die Uhrmacher, mehr arbeiten!»
4200 Franken nach acht Jahren
Andreas Werner* sagt, er habe sich an den Stress gewöhnt. Auch daran, dass die Vorgesetzten ihm im IWC-Neubau im Merishausertal von der oberen Etage aus jederzeit beim Arbeiten zusehen können. Aber der Lohn sei zu tief. Werner arbeitet in der Produktion und verdient rund 5000 Franken im Monat. Gestiegen ist sein Lohn über die Jahre nur im Rahmen des obligatorischen Teuerungsausgleichs. «Ich bin seit etwa zehn Jahren bei der IWC und habe noch nie eine individuelle Lohnerhöhung erhalten», ärgert er sich, «obwohl ich alle Zielvorgaben übertreffe.» Er erzählt, kürzlich habe er ein Plakat gesehen, auf dem Lidl mit Einstiegslöhnen von 4100 Franken und mehr werbe. Ein Kollege von ihm, erzählt Werner, verdiene trotz acht Jahren Berufserfahrung nur 4200 Franken monatlich. «Aber wir sind die IWC, wir sollten uns nicht mit Lidl vergleichen, sondern mit Cartier und Omega!»
In Genf, Neuchâtel oder Fribourg würde dieser Lohn – zumindest bei Angestellten mit Berufsausbildung – gegen den GAV verstossen. Aber der GAV für die Deutschschweiz kennt keine Mindestlöhne.

In der Deutschschweiz sind die Löhne in der Uhrenindustrie tiefer als in der Romandie. Diesseits des Röstigrabens ist die IWC mit Abstand der grösste Player. Mehrere Angestellte sind überzeugt: Weil es in der Region fast keine anderen Jobs gibt, muss die IWC keine konkurrenzfähigen Löhne zahlen.
«Über dem Branchenmittel»
Die IWC nimmt gegenüber der AZ Stellung. Die Löhne seien «sowohl im Branchenvergleich als auch in der Region Schaffhausen dem Ausbildungsstand als auch der Berufserfahrung entsprechend. Im Durchschnitt liegen diese über dem Branchenmittel». Die IWC betont die Lohnnebenleistungen: Beiträge an die Krankenkassenprämien, ans SBB-GA oder Streckenabo, an die Kosten für Kinderbetreuung und Gratifikationen von 3,5 Prozent des Jahreslohns bei guter Unternehmensentwicklung oder Boni für alle Mitarbeitenden.
Die Kritik von mangelnder Lohnentwicklung kontert IWC mit Zahlen: 2017 sei 1 Prozent für Lohnerhöhungen eingesetzt worden, 2018 1,5 Prozent und 2019 1,3 Prozent. Allerdings ist bei diesen Zahlen der im GAV festgeschriebene Teuerungsausgleich eingerechnet. Für freiwillige Lohnerhöhungen hat die IWC 2018 und 2019 nur 0,3 Prozent der Lohnsumme ausgegeben.
Im Oktober fanden die jährlichen Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und dem Arbeitgeberverband statt. Nach intensiven Gesprächen war das letzte Angebot der Arbeitgeber: 0,4 Prozent für individuelle Lohnerhöhungen – 20 Franken auf einen Lohn von 5000 Franken – als freiwillige Empfehlung an die Uhrenfirmen. Eine Einigung kam nicht zustande. Dazu kommt: Richemont ist nicht verpflichtet, der Empfehlung zu folgen. Für 2019 lautete sie 0,65 Prozent der Lohnsumme. Bei der IWC gab es nur 0,3 Prozent.
Diese Summe ist das Ergebnis von IWC-internen Verhandlungen, wobei Richemont den Handlungsspielraum bestimmt. Am Verhandlungstisch sitzt nicht die Gewerkschaft, sondern eine von der Belegschaft gewählte Personalkommission.
Urs Leuzinger, der Präsident dieser Personalkommission, kennt die Forderungen der in der Unia organisierten Angestellten: 350 Franken mehr im Monat. «Das wäre etwa sechs Prozent: Das ist unmöglich», sagt er. Zwar gehe es der IWC gut, aber Leuzinger verweist auf Indizien dafür, dass es für die IWC in Zukunft schwieriger werde, etwa die Massenproteste in Honkong. Ausserdem sagt Leuzinger, man dürfe nicht allein den Lohn betrachten, und verweist auf die bereits von der IWC-Pressestelle angeführten Lohnnebenleistungen.
Die IWC-Angestellten, mit denen die AZ gesprochen hat, rechnen für 2020 nicht mit grossen Sprüngen beim Lohn. Diese gibt es in der Uhrenindustrie eigentlich nur bei den Dividenden: Die Aussschüttungen pro Aktie stiegen seit 2010 um das Siebenfache. Janos Brummer sagt: «Bei Richemont, und auch bei der IWC, kommen immer die Aktionäre zuerst.»
* Namen geändert
