«Ich sehe ein absolutes Versagen»

13. November 2019, Kevin Brühlmann

«Ich muss den Kopf schütteln»: Thomas Schmid, der 23 Jahre lang im Altersheim Thayngen arbeitete, kritisiert Gemeindepräsident Philippe Brühlmann. «Eine Kristallkugel diente als Grundlage.»

Thomas Schmid war während 23 Jahren das Gesicht des Thaynger Altersheims. Als Leiter der Pflege­abteilung war er der wichtigste Kaderangestellte. Nachdem der neue Heimleiter Stefan Dennler seine Stelle im August 2016 angetreten hatte, kündigte Schmid. Seither arbeitet der 58-Jährige als Gruppenleiter in einem Altersheim in Uster. Nach wie vor leitet er die «Blumenwegkomödianten», das Theaterensemble des Altersheims Thayngen. Das diesjährige Stück, das Thomas Schmid selbst verfasst hat, heisst «Gedächtnistraining – eine Tragikomödie».

Im April dieses Jahres deckte die «AZ» auf: Heimleiter Dennler hatte eine Art Überwachungssystem eingeführt, über 80 der 100 Angestellten liefen davon, und der Betrieb schreibt laufend Millionendefizite (hier geht’s zum Artikel). Letzte Woche sagte Gemeindepräsident Philippe Brühlmann in einem «SN»-Interview, schuld an der Misere seien «ausgewählte Medien», deren Berichterstattung «unterirdisch, gemein und desavouierend» gewesen sei. Angesprochen auf die finanzielle Schieflage, sagte der SVP-Politiker, das «riesige Defizit» habe ihn «kalt erwischt». Denn: «Diese Branche ist ein Blick in die Kristallkugel.»

Thomas Schmid, was denken Sie, wie geht das Drama im Altersheim Thayngen aus?
Das ist kein Drama wie im Theater, sondern bitterer Ernst. Sowohl für die vielen, vielen Angestellten, die gegangen sind, als auch für ihre Familien. Der ehemals sehr gute Ruf des Altersheims ist über lange Jahre massiv geschädigt. Die Leute arbeiten heute anderswo und reden über ihre Erlebnisse in Thayngen. Gegenüber diesem Reputationsschaden sind die Artikel in der AZ ein Fliegenschiss.

Beginnen wir von vorne. Sie waren 23 Jahre lang Leiter der Pflegeabteilung in Thayngen. Als Stefan Dennler die Heimleitung übernahm, kündigten Sie. Warum?
Philippe Brühlmann hat mir das Misstrauen ausgesprochen. Für meine Begriffe hat er nicht mehr kollegial mit dem Kader zusammengearbeitet. Mit den drei vorherigen Gemeindepräsidenten hatte ich immer ein sehr vertrauensvolles Verhältnis. Gerade in meiner Position ging es um sehr viel Geld und um sehr viel Vertrauen. Wenn dir der oberste Chef nicht mehr vertraut, kannst du die Aufgabe nicht mehr bewältigen.

Seit August 2016 haben das Altersheim über 80 von 100 Angestellten verlassen. Wo liegt das Problem?
Sicher 30 dieser Leute habe ich zwischenzeitlich getroffen. Sie berichteten mir mehr oder weniger einstimmig, dass das Klima nicht mehr stimmt. Zweitens gab es eine Überforderung in der Pflege, wegen Personalkürzungen.

Warum hat sich das Klima in so kurzer Zeit derart verschlechtert?
Neben mir gingen mehrere Kaderleute recht früh. Wir hatten eine Kultur der Mitsprache, der Einbeziehung. Die neue Heimleitung hat Neuerungen von oben herab eingeführt, mit einem Affenzahn.

Ein weiterer Grund, wie die AZ nachweisen konnte: Der Heimleiter bespitzelte seine Angestellten, erstellte ein Strafregister, zahlte niedrige Löhne und hatte die Ausgaben dennoch nicht im Griff.
Da bin ich zu weit weg. Was ich aber weiss: Mit der Einstellung von Herrn Dennler verfolgte man das klare Ziel, die Personalkosten um 20 Prozent zu reduzieren. Philippe Brühlmann war der Meinung, das Personal koste zu viel. Also behandelte man die Leute entsprechend. Im Stile von: Jeder, der kündigt, ist gut für uns. Das hat sich verselbstständigt. Jetzt herrscht Chaos.

Wie beim Zauberlehrling: «Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.»
Genau. Jetzt kommt das finanzielle Chaos hinzu. Hier sehe ich ein knallhartes, ein absolutes Versagen. In den letzten drei Jahren hat man gewaltig über die Verhältnisse gelebt. Die laufenden Kosten sind mit den Einnahmen nicht mehr zu decken. Ich denke, die Einnahmen wurden künstlich hochgerechnet. Anders sind die Millionendefizite nicht erklärbar.

«Künstlich hochgerechnet», wie meinen Sie das?
Man hat mehr Bewohnerinnen und Bewohner budgetiert, als die tatsächlichen Zahlen hergaben. Ich habe 23 Jahre budgetiert. Mit einer stinknormalen Excel-Tabelle. Es ist kein Hexenwerk: aktuelle Belegung, Vorjahresbelegung und ein Taschenrechner. Dann kennst du die Zahlen des nächsten Jahres ziemlich genau. Alle anderen Heime in der Region schaffen das ja auch. Ein Altersheim ist keine Badi, wo du bei Sonne 100 und bei Regen fünf Leute hast. Es ist ein Witz, wenn Philippe Brühlmann sagt, das Defizit habe ihn «kalt erwischt».

Brühlmann sagt im selben Interview, die Berichterstattung der AZ habe zu einem schlechten Ruf und daher zum Defizit geführt.
Es weiss doch jeder aus der Branche: Hochbetagte gehen ins Heim, wenn sie nicht mehr anders können. Wenn’s mit Spitex und und und nicht mehr geht. Ihnen ist es wirklich egal, was in der Zeitung steht. Auf dem Land geht man in «sein» Heim.

Fassen wir zusammen: Sie sagen, an den Millionendefiziten sind nicht die Berichte schuld, sondern Philippe Brühlmann als Heimreferent und Stefan Dennler als Heimleiter haben falsch gerechnet.
Absolut. Ich würde sogar behaupten: Sie haben überhaupt nicht gerechnet. Ausgerechnet der dümmste Satz von Philippe Brühlmann im Interview beleuchtet die Wahrheit. Er sagt: «Diese Branche ist ein Blick in die Kristallkugel.» Eine Kristallkugel diente als Grundlage, dass man Millionen danebenliegt! Mit Rechnen hat das nichts zu tun. Was ausserdem verschwiegen wird: Man hat sehr viel zusätzliches Geld verschleudert.

Wie das?
Vor zwei Jahren wurden die Taxen erhöht; Thayngen hat heute eine der höchsten Taxen im Kanton. Das wäre berechtigt aufgrund der höheren Abschreibungen, das Heim wurde ja umgebaut, ein Mehrwert. Aber: Diese Gelder wurden nicht für Abschreibungen benutzt. Seit fünf Jahren werden sie aufgeschoben, mit einer Sonderbewilligung. Wenn die anstehen, ist das finanzielle Desaster perfekt.

Wofür hat man das zusätzliche Geld ausgegeben?
Personalwechsel sind nicht billig. Eine Kündigung kostet den Betrieb 20 000 Franken. Ganz fatal ist auch, dass man keine Lernenden mehr ausbildet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Haus ohne Lernende funktionieren soll. In meinen 23 Jahren in Thayngen hatten wir keine einzige Entlassung. Die Personaldotierung war zwar ein Auf-und-Ab, aber mit Pensionierungen und Lernenden kannst du sehr viel steuern.

Wie sehen Sie die Rolle des Gemeinderats?
Ich muss den Kopf schütteln. Niemand kommt auf die Idee und fragt: Moment, warum werden im Altersheim Fantasiezahlen budgetiert? Aber bis die Bombe mit den Abschreibungen platzt, sitzt Philippe Brühlmann im Regierungsrat und grinst über die Situation in Thayngen.

Wie kommt man wieder aus diesem Schlamassel heraus?
Die Zukunft ist düster. Heute stehen alle Altersheime unter Kostendruck. Und die Taxerhöhungen sind in Thayngen ausgereizt. Wegen der Altlast wird man über viele, viele Jahre auf keinen grünen Zweig kommen.

Sehen Sie eine Lösung?
(überlegt lange) Konsolidierung. Das heisst, eine Führung, die ein gesundes Augenmass beweist. Punkto Ausgaben und punkto Personal. Und kein Kristallkugelprinzip.