Die Stammtische vertrocknen. Ist die Schweizer Demokratie noch zu retten? Eine Reise durch Zeit und Rauch.
Der Tag beginnt, wie alle Tage beginnen; man muss ihn herumbringen, umbringen, am besten ganz sanft, mit einem Anflug von Lebenskunst.
Nebelschwaden über dem Dörfchen Ramsen. Dünne Sonnenstrahlen wecken die 1500 Menschen, die natürlich nicht geweckt werden müssen, lange schon sind sie tifig, weil die Geschäfte nie schlafen, erst recht nicht an einem Montagmorgen.
Die Wanduhr im Schäfli schlägt halb zehn. Die aufgerauchten Zigaretten im Aschenbecher sind schon einige Stunden weiter.
An einem runden Tisch in der Ecke sitzt Markus Eichenberger, den alle nur Itsche nennen, mit einem langgezogenen I. Hinter der massiven Tischplatte wirkt er klein, mit seiner rundlichen Brille und der Zigarette in der Hand. Wie immer täuscht die Hülle, Itsche ist ein grosser Erzähler, einer, der die guten Dinge des Lebens zu schätzen weiss. Zeitlebens hatte er als Heilpädagoge gearbeitet, seine Berufung fand er jedoch im Schreiben. Seit Jahren entwirft er Kolumnen für Lokalzeitungen. Seine Texte beginnen oft am Stammtisch, und von da aus wandern sie mit leichter Sprache in die Welt hinaus.

Itsche ist also der Stammtisch-Dichter, und als solcher sitzt er nicht zufällig im Schäfli – es ist Zeit für die «Montags-Börse». «Diesen Stammtisch musste man inszenieren», erzählt er. «Ich habe die Leute zusammengetrommelt. Je nach Witterung und Gesundheit sind wir um die zehn Stück. Der Stammtisch dient zur Meiningsbilding, man führt viele kontradiktorische Gespräche. Wir haben alles hier, Büezer und Unternehmer. Ich bin bekannt als der rote Strolch, das ist zum Schiessen, weil es in Ramsen nur fünf oder sechs SPler gibt. Etwas, das immer wieder aufs Tapet kommt, ist das Versauen des Kulturlands. Oder die ewige Komödie mit der Wasserleitung für die Bauern, weil die Bäche austrocknen. Auch Stammbäume sind immer ein Thema, Dynastien.»
«Mein Vater forschte nach, woher die Gnädinger kommen», wirft ein Herr Gnädinger mit Schnauz ein, der sich an den Stammtisch setzt; die Gnädingers sind eines der Urgeschlechter im Dorf. «Vater schaute zurück, zurück, zurück. Bis er nach Braunau kam, Hitlers Geburtsort. Da hörte er auf.»
«Ich bin der Jungspund hier», fährt Itsche fort, denn er ist 71. «Als ich 1977 nach Ramsen gekommen bin, gab es hier zehn Spunten. Jetzt sind es noch drei. Das Aussterben der Stammtische ist ein Kulturverlust.»
Die Stammtische sind zu Buchhaltern des Unausweichlichen geworden. Man sieht das nahe Ende kommen und kann es nur verwalten. Wie kam es dazu? Was bedeutet dieses Ende für die Schweizer Demokratie?
1. Das grosse Sterben
2017 war das Jahr des grossen Beizensterbens. 2904 Betriebe machten in der Schweiz dicht, 2048 wurden gegründet. Das ergibt einen Rückgang von 856 Restaurants. Eine Erhebung des Verbands Gastrosuisse zeigt, dass zwischen 2011 und 2016 vor allem Dörfer mit weniger als 2000 Einwohnerinnen und Einwohnern austrockneten. Dort sank die Zahl der Beizen um 4,3 Prozent.
Meist werden dieselben Gründe für das grosse Sterben genannt: das Senken der Promillegrenze beim Autofahren, die Einführung des Rauchverbots, brutale Bürokratie und, gerade in Grenzkantonen, die Nähe zum Ausland.
Was oft nicht berücksichtigt wird: Die Zahl der Beizen in der Schweiz nimmt laut Gastrosuisse insgesamt zu, und zwar, weil in den Städten viele neue Restaurants öffnen – Szenebeizen, wo man mit Gleichgesinnten hingeht. Das heisst, die Beizen befinden sich auf einer Völkerwanderung Richtung Stadt. Und in den Dörfern bleibt das Zirpen der Grillen.
«Wenn das so weitergeht, verwahrlost die Ostschweiz», stellte Gabriel Vetter einmal in einem Interview fest. Der Schaffhauser Satiriker hat die Eigenschaft, gleichzeitig Heimatdichter und Anti-Heimatdichter zu sein; der Schönheit des Vertrauten verfallen, aber nie verklärend. Vetter, aus Sicht des Städters, erklärt: «Wir wählen aus, welches Café zu uns passt, welches Quartier und welche Zeitungen. Wir geben uns individualistisch, aber scharen uns in Wahrheit in Gruppen von Gleichgesinnten. Dann muss ich plötzlich nicht mehr zum Kaffee ins Rössli, wo ich Leute aus dem Dorf treffe, die ganz andere Probleme und einen ganz anderen Hintergrund haben.»
Die Leute wollen nicht mehr mit Andersdenkenden reden? Das würde tatsächlich eine Verwahrlosung der Gesellschaft bedeuten; eine dystopische Welt, die in Beizen mit Avocado-Smoothies und ohne zweigeteilt wird, kurz gesagt, das Ende der Demokratie als Streit um Ideen. Aber stimmt das auch?
2. Herzbaragge am Stammtisch
«Das muss ich jetzt schon ansprechen», sagt Herr Gnädinger mit dem Schnauz. «Der Gemeindepräsi hat in der AZ von letzter Woche gesagt, man solle für jeden Flug 1000 Stutz zahlen. Damit man weniger fliegt. So ein Seich.»
«Der fliegt ja selbst jedes Jahr in die Malediven zum Tauchen», sagt Itsche. «Letztes Jahr hat es ihm das ganze Obst verhagelt, er ist Obstbauer. Er sagte mir: ‹Keinen einzigen Apfel kann ich verkaufen.› Aber wen sehe ich da am Marktstand mit frischen Äpfeln? Er hat sie aus Neuseeland importiert. Auf dem Schild beim Stand war trotzdem ‹Obstbauer aus Ramsen› zu lesen. – Oh», Itsches Stimme wird hell, «jetzt kommen die Schönen. La mafia in corpore!»
Eine Traube älterer Italiener spaziert ins Lokal. Der Älteste ist auch der Kleinste. Er zeigt auf Itsche und sagt: «Ein guter Kollege, aber ein Scheisskamerad!» Heiseres Lachen.
Der Wirt verteilt grosse Gläser mit Chardonnay auf dem Stammtisch, der sich nach und nach füllt. Ein Ofenbauer sitzt da, ein Altersheimverwalter, ein Viehhändler, ein Lehrer und ein Bauer, alle pensioniert und gut gelaunt.
Gegen 11 Uhr erscheint auch Josef Würms, der Gemeindepräsident und grösste Obstbauer der Region. Er bestellt eine gespritzte Stange, und der Fluss der Diskussion zieht seine Kurven, manchmal berühren sich die Flussschlingen fast, so eng sind sie, aber vorwärts geht es doch. Irgendwann landet man bei der AHV.
«Ich arbeite auch immer noch, mit 71», sagt Itsche. «60 Stutz pro Kolumne im Steiner Anzeiger.»
«Aber du zahlst nicht mehr ein! Jemand, der noch lange einzahlt, wie der Ueli Maurer mit 67, jemand, der arbeitet, der bleibt noch viel länger fit», sagt der Gemeindepräsident.
«Frag mal eine alte Nutte», erwidert Itsche.
Wie sich der Rauch der Zigaretten in die hinterletzte Ritze frisst und der Dings ein Lumpenseckel ist und der andere Dings eine Herzbaragge hat und man sich an eine Legende namens Ölscheich erinnert, wird der Stammtisch auch nicht jünger.
«Es wurde so viel gebaut, Ramsen ist gewachsen», sagt Itsche. «Aber diese Leute siehst du nie. Nicht an Gemeindeversammlungen, nicht am Stammtisch. Und zum Essen und Einkaufen fährt man ins Deutsche. Auch im Dorf ist Anonymität ein Thema.»
«Die Jungen gehen lieber in die Stadt», sagt der Herr Gnädinger, «auch um elf Uhr abends fährt ja noch ein Bus.»
Es ist schon widersprüchlich. Die guten Busverbindungen, womit man das Dorf am Leben teilhaben lassen wollte, wirken wie ein Betäubungsmittel. Die Neuen und Jungen bleiben dem traditionellen Dorfleben gegenüber gleichgültig. Doch was haben Stammtische damit zu tun?
3. Longchamp und die Krise
Claude Longchamp, der Mann mit der Fliege und dem breiten Lachen, produzierte 30 Jahre lang Politanalysen fürs Schweizer Fernsehen. Vor zwei Jahren trat er ab, und wie es sich für einen Pensionisten gehört, ist er noch beschäftigter als früher. Aber immerhin kann er es sich zwischendurch erlauben, über Nebensächliches zu reden. Über das Austrocknen der Stammtische und das Ende der Demokratie zum Beispiel.
Wie ein Fliessbandarbeiter mit Doktortitel fertigt Claude Longchamp kluge Silben an und jagt sie durch den Telefonhörer: «Dörfer und Stammtische, das sind beides Dinge, die in den letzten Jahren in die Krise geraten sind. Jetzt kann man sich fragen, wie stark hängt das zusammen, direkt oder indirekt?», Longchamp wartet nicht auf eine Antwort und produziert weiter, «Fakt ist, der Übergang der Dörfer zur Agglomeration hin und von da zu Schlafgemeinden hat dazu geführt, dass die Gemeinschaften zerfallen, Vereine, aber auch Stammtische. Das spürt man im Dorfleben. Die durchschnittliche Beteiligung an Gemeindeversammlungen in der Schweiz beträgt 7 Prozent. Früher war diese Zahl deutlich höher. Ich sehe es in meiner eigenen Wohngemeinde, Wohlen bei Bern, mit 9000 Einwohnern. Der einzige Verein, der übrig geblieben ist, ist der Vogelschutzverein. Man lebt und arbeitet in der Stadt und kommt zum Schlafen nach Hause. Können Sie etwas damit anfangen? Ich muss nun wirklich weiter zu einer Sitzung, schönen Dank und auf Wiederhören.»
Die lokale Identität löst sich also im Licht neuer Horizonte auf. Wie ein Atomkern, der sich spaltet und eine Kettenreaktion auslöst, zerteilt sich die Gesellschaft in immer kleinere Gruppen. Bis die Gesellschaft irgendwann von selbst implodiert?
4. Die Frauen kochen
«Das ist der Polizist», sagt Itsche und zeigt zur Tür des Schäfli. Im Fenster ist ein älterer Mann zu erkennen; in seinem Mundwinkel klebt eine Krumme.
«Kommt aber spät», sagt ein anderer am Stammtisch. «Hat ihn die Frau nicht losgelassen?»
«Er hatte kein Drachenfutter dabei», sagt Itsche und lacht.
«Oh, jetzt kommt der Schönste», sagt Herr Gnädinger, und der Schönste, ein Mann mit Schnauz und Golferstatur, der im früheren Leben Pilot war, setzt sich an den Tisch und bestellt eine Flasche Chardonnay für die Runde.
«Lob und Dank, immerda und ewiglich!», ruft Itsche.
Aber ja, wo sind eigentlich die Frauen? Im Schäfli ist keine einzige anzutreffen, während des ganzen Morgens nicht. «Männer schauen Frauen mit Männeraugen an», weiss Itsche. «Sie getrauen sich nicht, die Männerphalanx zu durchbrechen.» Sie würden sich eher im Café der Migros am Dorfrand treffen, sagt Herr Gnädinger, das sei ein Frauencafé, wie das Vordergässli in Schaffhausen.
Gegen Mittag macht sich die Stammtischrunde auf nach Hause; die Flasche Chardonnay ist leer, die Aschenbecher voll, und die Ehefrauen haben gekocht.
Die Wanduhr im Schäfli läuft weiter, tick, tock, aber die Zeit bleibt stehen, bis zum nächsten Montagmorgen.
5. Epilog im Frohsinn
Montagabend, Stammtisch im Frohsinn in Schaffhausens Quartier Buchthalen. Heike Möckli, die hier seit 33 Jahren wirtet, leert die Aschenbecher. Ein paar Männer hocken vor ihren Getränken am Stammtisch. «Es ist immer noch gleich wie früher», sagt Heike Möckli. Nur vor ein paar Jahren liess sie den Raum um vier Quadratmeter verkleinern, um das Rauchverbot zu umgehen. Der Frohsinn laufe gut, sagt die Wirtin.

Eine junge Frau gesellt sich dazu und bestellt eine Stange. «Anderswo setze ich mich nie an einen Stammtisch», sagt sie. «Man wird immer blöd angemacht.»
Ihre Aussage lässt eine Erinnerung aus den Untiefen des Hirns emporsteigen, an den Interviewband Was wäre, wenn? mit Peter Bichsel. Darin sagt Bichsel: «Das Beizensterben ist auch etwas Erfreuliches, denn es hat unter anderem mit dem Eintritt der Frauen in die Öffentlichkeit zu tun. […] Die Beiz war eine reine Männerangelegenheit. Als die Frauen in die Beiz eintraten, verloren die Männer den Spass daran.»
Bei Peter Bichsel – der sein halbes Leben in Beizen verbracht hat und seine Frau gern zuhause liess – schwingt bei allem Wohlwollen auch Wehmut mit. Deswegen hat er Recht, aber auch Unrecht. Dass die Stammtische auf dem Land und in den Agglomerationen zumachen, hat nichts mit den Frauen zu tun. Und es hat doch mit ihnen zu tun. Denn das Ende dieser Stammtische ist auch das Ende einer alten Gesellschaft der erotischen Männerbündelei. Das ist nicht weiter tragisch, und schon gar nicht das Ende der Demokratie – sondern der Anfang.
«Was darf ich noch bringen?», fragt Heike Möckli die Gäste im Frohsinn. Jemand stellt ein Lied ein, Fründin vom Schaffhauser Musiker Philipp Albrecht, und die Leute am Stammtisch summen mit.