Einst backte eine Neuhauser Bäckerei Gipfel wie eine Offenbarung. Dann machte Ernst Schill den Laden zu. Doch muss das Aus der Scheidegg auch das Ende bedeuten für ein legendäres Kulturgut? Ein Dechiffrierungsversuch.
Als ich klein war, stieg mein Vater manchmal am Sonntagmorgen auf sein Fahrrad und fuhr zur Bäckerei Scheidegg am Neuhauser Dorfeingang. Es waren die 90er-Jahre, aber meine Erinnerung ist klar, als wäre es gestern gewesen. Die Fahrten meines Vaters waren Verheissungen. Und wenn er zurückkam, trug er nicht einfach einen duftenden, speckig glänzenden Papiersack in der Tasche. Was er zurückbrachte, war ein Schatz. Ich kann heute mit Bestimmtheit sagen: Ich habe nie bessere Gipfel gegessen als an diesen seltenen Sonntagen.
Ja, dieser Text handelt von Backwaren. Doch seinen Anfang nahm er nicht in einer Backstube, sondern in der Gerüchteküche. Ein paar ungeheuerliche Mutmassungen fanden kürzlich den Weg in mein Ohr: Die Schaffhauser Bäckereien verkaufen Gipfel vom Vortag, sagte man mir. Die hiesigen Bäcker produzieren ihre Gipfel nicht selber, sie kaufen sie fixfertig ein, liess ich mir sagen. Und zu guter Letzt: Die benutzen doch alle Pflanzenfett, obwohl sie die Dinger als «Buttergipfel» verkaufen.
Da musste doch etwas faul sein. Zeit für einen grossen Gipfeltest in bester Kassensturz-Manier, dachte ich mir. Doch will man Produkte bewerten, braucht man als Erstes eine Referenz. Und da geriet der Elan bereits ins Stocken. Denn was ist überhaupt ein guter Gipfel?
So landete ich in meiner Erinnerung und beim Fahrrad meines Vaters. Und wie ich meinen Freundinnen und Bekannten von diesen Gipfeln erzählte, rannte ich hüben wie drüben offene Türen ein. Alle kennen sie den «Schill-Gipfel», benannt nach ihrem Architekten und Baumeister, dem Bäcker Ernst Schill. Alle schwärmen sie von diesem legendären Gebäck, das es seit vielen Jahren nicht mehr gibt, seit die Bäckerei im Neuhauser Dorfeingang zumachte und von einem seelenlosen Schnellrestaurant abgelöst wurde.
Schnell war klar: Will ich Gipfel vergleichen, soll der Schill-Gipfel die Messlatte sein. Doch wie schmeckte er überhaupt, damals, vor bald 20 Jahren? Die Bekannten und Freunde sind sich uneins, ich selbst kann mich nur vage erinnern. Es ist wie so oft: Der Mythos versperrt den Blick auf die Realität. Und doch zeichnen sich Konturen ab, je länger ich über ihn spreche: Der Schill-Gipfel war schwer und kompakt, innen feucht, teigig und elastisch, aussen dunkel geröstet. Er war lang und dünn, seine Enden konnten sich küssen, sie konnten sich den Rücken kehren, sie konnten ein U bilden wie ein Hufeisen – jeder Gipfel war ein Unikat, der Gipfelsack eine fettglänzende Wundertüte. Tunkte man das Gebäck in den Kaffee, konnte man über die Anzahl Fettaugen versuchen, Rückschlüsse zu ziehen auf die stolze Anzahl Kalorien, die sich in ihm verbergen musste. Wobei: Wer Kalorien zählt, hat dieses mythische Gebäck sowieso nicht verdient.
Doch selbst Ernst Schill muss mit Wasser und Mehl gebacken haben. Also muss es auch ein Rezept geben. Das Internet aber kennt weder einen Ernst Schill noch einen Schill-Gipfel. Das Handelsregister weiss zumindest, dass Schill die Bäckerei von 1972 bis 2007 betrieben hatte – dann kam das Konkursamt.
Wichtigste Zutat: Demut
Anruf bei Schills in Neuhausen. Eine ältere Frau begrüsst freundlich und sagt dann, ihr Mann Ernst sei vor drei Tagen verstorben. Ich schlucke leer.
Ihr Mann sei als Bäcker auf der ganzen Welt herumgekommen, bevor er die Scheidegg übernommen habe, sagt Frau Schill. Das Gipfel-Rezept sei von seinen Wanderjahren mit nach Hause gekommen. Nach der Schliessung der Scheidegg habe er versucht, den Gipfel an eine andere Bäckerei weiterzugeben. Doch das habe nicht geklappt. Sie selbst habe das Rezept nicht mehr.
Einige Tage später sitze ich morgens mit Jonas Schönberger vor einem Cappuccino in der Altstadt. Schönberger war lange Zeit Koch in der Fassbeiz. Und 2007, als die Scheidegg zumachte, betrieb das Fass eine eigene Bäckerei in der ehemaligen Bäckerei Beyerle in der Webergasse, dem heutigen Suppenglück.
Schill sei früher der unangefochtene Gipfel-König gewesen, erinnert sich Schönberger. Damals seien die Bäckereien noch spezialisiert gewesen auf einige wenige Produkte. Die Palette klein, die Qualität hoch. Schill habe mit seinen Gipfeln die Tankstellen beliefert und auch das Fass. Für den Samstagmorgen habe das Fass jeweils ganze 60 Gipfel bestellt. Manche Gäste seien nur ihretwegen gekommen und hätten gleich zwei oder drei gegessen oder nach dem Milchkaffee noch ein paar mit nach Hause genommen. Als er dann vom Aus der Scheidegg erfahren habe, sei er bei Schill vorstellig geworden, sagt Jonas Schönberger. Das Fass habe den Schill-Gipfel selber backen wollen, und Schill sei damit einverstanden gewesen. Doch so einfach sei es nicht. «Wir waren viel zu naiv», sagt Schönberger und lacht.
Er greift in seine Tasche und holt ein rotes Buch heraus, «Das ideale Gebäck», Lehrbuch des Schweizerischen Bäcker- und Konditorenmeisterverbandes, 330 Seiten Fachliteratur, die in den 30 Jahren seit ihrem Erscheinen Hunderten angehenden Bäckerinnen und Bäckern auf schmerzliche Weise Demut eingeimpft hatte. Schönberger schlägt eine Seite auf, die Bilder von neun Gipfeln zeigt. In alle neun möchte man sofort herzhaft hineinbeissen. Das Buch aber lehrt: Fehler, die neun Gipfel bestehen aus nichts als Fehlern. «Zu feine Oberflächenstruktur», «Blasenbildung», «zu lange Stückgare», «Neigung zum Einfallen», «seitliche Ausrisse am inneren Teil», «leicht stumpfe Färbung». Einen perfekten Gipfel zu backen, geschweige denn ihn zu dechiffrieren – es scheint eine Gleichung zu sein mit einem Dutzend Unbekannten.
Wobei, was ist schon ein Rezept? Jonas Schönberger sagt, das Rezept von Ernst Schill, das habe er damals bekommen, ein hundskommunes Gipfel-Rezept. Er lacht wieder und sagt: «Was bedeutet denn nun ‹kalte Butter›? War Schills Butter kalt oder gefroren? Woher hat er sie bezogen? War sie frisch oder schon angesäuert? Wie schnell hat er sie verarbeitet?» Das Fass-Team habe wochenlang erfolglos getüftelt, es habe schliesslich sogar fertige Teiglinge von Schill erhalten und gebacken – doch es habe nicht geklappt. Denn die Unbekannten der Schill-Gleichung, sie verbergen sich nicht nur im Teig.
Schill selber habe versucht, seine eigenen Teiglinge in einem fremden Ofen zu backen – ohne Erfolg. Eigentlich, sagt Schönberger geheimnisvoll, sei der Schill-Gipfel ein Produkt aus verschiedenen Zufällen und Backfehlern gewesen. Es sei bloss unklar, welche das genau gewesen seien. Er selber habe aus Schills Teig schliesslich Apfeltaschen gebacken und das Kapitel schweren Herzens ad acta gelegt.
André, der Alchemist
Damit ist mein Plan vom Gipfel-Blindtest endgültig verworfen. Ich will es selber wissen und versuchen, den Schill-Gipfel zum Leben zu erwecken. Ich will dieses Backstubengold selber herstellen. Doch dafür brauche ich einen Alchemisten.
Wieder einige Tage später sitze ich mit André Müller vor der Backstube des Müller Beck. Müller kannte die Scheidegg gut und bestätigt Schönbergers These: «Schill hat wohl fast alles falsch gemacht, was er falsch machen konnte.» Ich solle am Wochenende wiederkommen, dann könnten wir experimentieren, André Müller schlägt eine Versuchsreihe vor mit unterschiedlichen Fettanteilen, verschiedenen Backtemperaturen, drei Öfen, maschinell und von Hand gerollten Teiglingen. Kurzum: für das Projekt wird er seine Backstube in ein alchemistisches Laboratorium verwandeln.
Gemäss dem TV-Wissensmagazin Galileo werden jährlich weltweit 20 Milliarden Croissants oder Gipfel verzehrt. Den Ursprung hat das Gebäck der Legende nach im späten 17. Jahrhundert. 1683 belagerten die Osmanen mit 120 000 Mann Wien. Als sie merkten, dass sie die Mauern nicht überwinden konnten, versuchten sie, die Stadt wortwörtlich zu unterwandern. Sie gruben einen Tunnel und wollten mitten in der Nacht hinter der Mauer wieder auftauchen. Doch ihre Rechnung hatten die Osmanen ohne die Wiener Bäckermeister gemacht. Diese waren bereits in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen, hörten merkwürdige Geräusche unter dem Boden und schlugen rechtzeitig Alarm. So konnten die Angreifer zurückgeschlagen werden. Zum Dank bekamen die Bäcker das Recht (oder den Auftrag?), ein halbmondförmiges Gebäck zu backen – das Kipferl war geboren. Dass das Kipferl in Tat und Wahrheit bereits im 12. Jahrhundert urkundlich erwähnt wurde, wollen wir mal geflissentlich ignorieren.
Das Geheimnis eines guten Gipfels liege darin, erklärt Alchemist André Müller am Freitagmorgen, dass beim Backen eine «doppelte Lockerung» stattfindet. Dann schlägt er die Ärmel hoch und führt mich in die Backstube.
Wir starten mit einem herkömmlichen Hefeteig. Diesen schlagen wir um eine Fettplatte wie Packpapier um ein Geschenk. Beide Teile müssen kühl sein, das Fett darf nicht auslaufen, wenn das Paket gleich maschinell platt gewalzt wird. Anschliessend schlagen wir die Teigbahn von links und von rechts in die Mitte, der Teig wird «einfach touriert», damit verdreifachen wir die Anzahl Schichten. Wieder platt walzen, wieder tourieren – schliesslich haben wir einen Blätterteig mit 27 Schichten. Später, im Ofen, wird nicht nur die Hefe den Gipfel aufgehen lassen, sondern auch das eingeschlossene Wasser, das nicht durch die Fettschichten entweichen kann und diese nach aussen drückt. Backen, das ist am Ende des Tages Biologie, Chemie und Physik. Doch nun muss der Teig erstmal ruhen.
Höchste Backstubenwährung: Zeit
Zeit, sich die Bedingungen in der Scheidegg zu vergegenwärtigen. Mehrere Bäcker, die Schills Bäckerei kennen, beschreiben, dass sie sehr klein war, der Ofen uralt, die Atmosphäre feucht und viel zu warm, ein «Loch» mit massiven Temperaturunterschieden zwischen Winter und Sommer. Es habe nur wenige Maschinen gegeben, dafür viel Handarbeit. Schlechtere Bedingungen für eine kontrollierte Gipfelproduktion kann man sich kaum ausmalen.
Ernst Schill, oft das eine oder andere Promill im Blut, habe den Teig wie ein Berserker mit dem grossen Messer in Dreiecke geschnitten und dabei keinen Gedanken an Trigonometrie verschwendet. Deshalb habe auch keiner der Gipfel ausgesehen wie der andere. So erzählen es die einen. Schill sei ein Künstler gewesen, sagen andere.
In der Versuchsanlage bei Alchemist Müller werden wir später sehen, was nur schon das maschinelle und das manuelle Aufrollen des Teigs für Unterschiede mit sich bringt. Mehr Druck, mehr Zug, mehr Kompaktheit? Klingt einleuchtend. «Schill hat gezogen wie wahnsinnig», sagt jedenfalls André Müller. Er habe den Teig richtiggehend gequält. Doch wieso?
Frau Schill erzählt, 24 Stunden hätten damals nicht gereicht, um all die Gipfel zu produzieren, die man hätte ausliefern sollen. Ihr Mann stand also unter permanentem Stress, aus der kleinen Backstube alles rauszuholen, was sie hergab. Und diese Eile ist Gift für jeden Gipfel.
Mit Alchemist Müller produziere ich verschiedenste Teiglinge, die einen mit Pflanzenfett, die anderen mit Butter, mal mit viel, mal mit wenig Fett, mal maschinell, mal manuell gerollt, gerade Formen, gezogene und gebogene. Später wollen wir sie im Etagen- und im Rotationsofen backen, mit der Hitze spielen. Doch zuerst müssen die Rohlinge in den 34 Grad warmen Gärschrank, wo sie eine bestimmte Zeit lang schonend aufgehen. Ich lerne: Langsame Gärung ist das A und O für die Haltbarkeit.
Doch Schill hatte in seiner kleinen, heissen Backstube mit dem kleinen Ofen keinerlei Zeit und Raum, standardisiert gären zu lassen. Mehrere Bäckermeister sagen: Wenn er in seinem Ofen Platz hatte für ein Blech, hat er eines reingeschoben, egal, wie weit die Teiglinge waren.
Damit kommen wir zum Herzstück einer jeden Bäckerei: dem Ofen. Die Schamottsteine in Schills Ofen seien sein Heiligtum gewesen, erinnert sich Frau Schill. Jeder Ofen, lerne ich, ist ein Organismus. Er hat seine starken und schwachen Zonen, seine Launen und Tücken. Ein Bäcker kennt seinen Ofen. Und der einzige, der Schills Ofen kannte, war Schill selbst.
Jonas Schönberger vom Fass erinnert sich, dass Schills Bleche ganz dünn gewesen seien, jahrzehntelang von den Schamottsteinen abgenutzt. Vielleicht zeigten sie deshalb in fremden Öfen nicht die gewünschten Resultate?
Mein Kopf raucht längst wie André Müllers Etagenofen. Das Dutzend Unbekannte der Schill-Gleichung hat sich in der Backstube nicht verringert. Im Gegenteil. Doch nun warten finale Hinweise. Unsere Testreihe kommt aus dem Ofen.
«Alles ist widersprüchlich»
Da liegen sie also, schön aufgereiht, verschieden gebräunt. Wir beissen ab. Und bleiben ratlos. André Müller sagt: «Die aus dem heissen Ofen gefallen mir besser», beisst erneut ab, überlegt. «Der Teig, den wir am meisten gequält haben, ist am schönsten geworden.» Weitere Krümel fallen auf den Backstubenboden. «Schau, hier, bei dem quillt das Fett am schönsten. Das ist der mit der meisten Butter.» Dann aber muss selbst der Alchemist zugeben: «Alles ist widersprüchlich.»
Klar scheint, was auch Frau Schill bestätigt: Ernst Schill hat sehr viel Butter verwendet. Sein Gipfel war also eher teuer in der Produktion. Hat die Butter in letzter Konsequenz das Konkursamt auf den Plan gerufen? Klar ist auch: Die Kompaktheit von Schill haben wir meilenweit verfehlt. «Wir hätten wohl radikaler von der Norm abweichen müssen», sagt Müller. Ich sage: Wir sind gescheitert.
Doch wäre es überhaupt möglich gewesen, Schill zu kopieren? Kopieren bedeutet, sich möglichst genau der Referenz anzunähern. Schills Referenz aber ist fluid wie geschmolzene Vorzugsbutter. Wie soll man sich etwas annähern, das einem permanent durch die Finger rinnt?
Ich denke nochmals an meinen Vater und sein Fahrrad. Wieso ist er wohl nur so selten nach Neuhausen geradelt? Wieso hat der «Schill-Gipfel» seine geheimnisvolle Aura bis heute erhalten? Vielleicht wussten meine Eltern, dass sie den Genuss limitieren mussten, um die Mystik zu erhalten.
Vielleicht hätte auch eine nachträgliche Dechiffrierung des Schill-Gipfels seinen Zauber für immer zerstört. Möge Ernst Schill als der in Erinnerung bleiben, der er zweifellos war – ein grosser Künstler der Backstube.
Gerüchte im Check
Da es schliesslich nicht zum Gipfeli-Blindtest kam, die eingangs erwähnten Gerüchte aber nicht einfach so stehengelassen werden können, machte ich eine kleine tour de four, schaute mir neben dem Müller Beck auch andere Backstuben an und sprach neben André Müller auch mit den Geschäftsführern der Bäckereien Reber und Ermatinger.
Der Tenor ist einhellig: Die Bäckereien backen ihre Buttergipfeli mit Butter. Gipfeli vom Vortag werden aus dem Verkehr gezogen, entweder zu Paniermehl verarbeitet oder gratis an gemeinnützige Organisationen weitergegeben. Und ja, die Bäckereien produzieren ihre Gipfeli selber nach eigener Rezeptur. Den Verdacht, sie würden vorgefertigte Teiglinge ankaufen, quittierten die hiesigen Bäckermeister mit Entrüstung.