Auf dem linken Auge blind

16. August 2019, Kevin Brühlmann
Es fehlt die Warnung «Che Guevara tötet».
Es fehlt die Warnung «Che Guevara tötet».

Was fasziniert Linke an Che Guevara und kommunistischen Regimes? Unsere Suche führt vom Bauerndorf Ramsen zu kurdischen Milizen.

Mit siebzehn oder achtzehn muss man tun, was ein guter Teenager tun muss. Versuchen, wie auch immer, cool zu sein.

Ich kaufte mir ein rotes T-Shirt; vorne war Ernesto «Che» Guevaras Kopf abgebildet, auf dem Rücken ein Zitat von ihm (den genauen Wortlaut habe ich vergessen, es enthielt aber die Begriffe «muerte», «revolución» und «sangre»).

Mit einem Freund, er trug eine Che-Tasche, besuchte ich eine Party. Dort trafen wir auf eine Frau, die wir aufregend fanden und die sehr schön von Drogen erzählen konnte. Als sie unseren Che-Merchandise bemerkte, fragte sie, warum wir den gut fänden, dieses Arschloch habe Tausende Menschen umgebracht.

Wir blickten uns fragend an; schliesslich sagte mein Freund, dass es um Ches Ideale ginge, um einen Mann, der bereit gewesen sei, dafür alles zu geben.

Die Frau blickte uns verächtlich an. Ich selbst blieb stumm, die Frage überforderte mich. Zwar war ich bloss ein Kantonsschüler vom Land, konfirmiert und konform, aber doch, «dass jedermann sündig ist, wusste man schon immer», wie der Soziologe Niklas Luhmann einmal schrieb.

Das Guevara-Shirt entsorgte ich bald einmal. Die Frage der Frau aber (und noch mehr ihr verächtlicher Blick) blieb: Wie kann man bloss?

«Unproblematische Ideologie»

Anfang Juli 2019 musste ich wieder an jenen Blick denken. Die Alternative Liste Schaffhausen stellte ein Foto online, das die Apparatschiks der Sowjetunion begeistert hätte: Anna Naeff, 27, und Thomas Leuzinger, 35, beide kandidieren für den Nationalrat, halten Hammer und Sichel in der Hand und überkreuzen sie in der Luft. Sie, die Studierten, sind als Bäuerin und Arbeiter verkleidet.

Es handelte sich um ein Making of des Wahlplakats (das Foto wurde mittlerweile gelöscht).

Gegenüber den Schaffhauser Nachrichten rechtfertigten sich Naeff und Leuzinger. Es sei «ein Spielen mit Symbolen einer Ideologie und nicht eines Regimes». Und dann dieser Satz: «Die Ideologie ist unproblematisch, da sie explizit für Gleichheit unter den Menschen und Demokratie steht.»

Dann könne man ja auch das Hakenkreuz ganz unproblematisch verwenden, wandte der SN-Journalist ein. Nein, so die Antwort der AL: «Faschistische Symbole stehen explizit für Ausgrenzung und Hass gegen Minderheiten.»

Warum hat man ausgerechnet das Logo der Sowjetunion ausgewählt, einen Einparteienstaat, wo Millionen getötet, verhungert, gefoltert; wo Minderheiten verfolgt und Kritiker in den Gulag gesteckt wurden?

«Hammer und Sichel stehen für Arbeiterinnen und Arbeiter in Industrie und Landwirtschaft. Das Symbol ist bei Weitem nicht auf die UdSSR beschränkt», erklärt Thomas Leuzinger am Telefon. «Das war ein Spass am Rande des Wahlplakat-Shootings. Als Linker wirst du schnell als Kommunist abgestempelt, damit wollten wir spielen. Aber ich kenne niemanden, der mit solchen Regimes sympathisiert.»

Kurz gesagt, Hakenkreuze sind des Teufels, Hammer und Sichel dagegen in Ordnung. Die Logik dahinter ist eine moralische: Die Ziele der Sowjets waren, im Gegensatz zu denjenigen der Nazis, rein.

Woher kommt diese Logik?

Terror-Sympathien der 68er

Mit dem Bus fahre ich nach Ramsen, zu Angelo Gnädinger. Der 68-Jährige grüsst barfuss in seinem ehemaligen Elternhaus am Dorfrand. Er kocht Kaffee in der Bialetti-Kanne, serviert Kekse, und wir setzen uns in den gepflegten Garten. Als Vertreter der 68er-Generation trat er 1973 der Schaffhauser SP bei; später verliess der studierte Jurist die Region und machte international Karriere, bis zum Generaldirektor beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes.

Wie die Traktoren vorbeiknattern und artig gegrüsst werden, reist Gnädinger ein halbes Jahrhundert zurück, in die Zeit, als er politisiert wurde.

Er erzählt, wie er die Gesellschaft verändern wollte, in der Aufbruchstimmung von 1968; eine gerechte Welt sollte es werden, klassenlos, selbstbestimmt. Bald einmal habe sich jedoch Ernüchterung breitgemacht, Frustration auch, weil sich nichts geändert habe. Es stellte sich die Frage: Was nun? «Einerseits gab es den langen Marsch durch die Institutionen», sagt Gnädinger. «Andererseits war die Flucht in die Radikalität eine reale Option für mich. Darüber dachte ich ab und zu nach.»

Ob der Anschluss an eine Terrorzelle wie der Roten Armee Fraktion vorstellbar gewesen wäre, frage ich ihn (die RAF war zwischen 1970 und 1993 für 34 Tote verantwortlich).

«Wenn mich jemand in einem falschen Moment angesprochen hätte, hätte sicher ein gewisses Risiko bestanden», erwidert Gnädinger. Dann erzählt er eine Anekdote.

Er hatte einen Studentenjob bei der Post. In der Nacht vom 5. auf den 6. Dezember 1972 sass er in der Zentrale in Schaffhausen und sortierte Briefe. Das Radio lief. In Echtzeit bekam er ein Attentat der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September an den Olympischen Spielen in München mit. Die Terroristen hatten elf israelische Sportler als Geiseln genommen und verlangten die Freilassung von 232 inhaftierten Palästinensern und der RAF-Köpfe Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Während Gnädinger sortierte, versuchte die Polizei, die Geiseln zu retten. Es kam zu Schiessereien, Polizisten wurden getötet, schliesslich endete die Aktion in einem Fiasko. Um 02.40 Uhr wurde den Medien mitgeteilt, dass alle israelischen Geiseln tot seien. «Recht geschieht’s ihnen!», rief Angelo Gnädinger aus.

«Es entfuhr mir einfach», sagt er, wie er ein wenig betreten in seinem Garten sitzt. «Ich bin selber über mich erschrocken, und den Rest erledigten meine Arbeitskollegen. Sie nahmen mich – zu Recht – in die Pflicht.» Er habe sich daraufhin für den Marsch durch die Institutionen entschieden und sei der SP beigetreten.

Silvia Grossenbacher entschied sich ebenfalls dafür, die Gesellschaft von «innen heraus» zu reformieren. Grossenbacher, 66 Jahre alt, hatte 1973 die Schaffhauser Sektion der Progressiven Organisationen der Schweiz mitbegründet, kurz POCH, eine Partei nach marxistisch-leninistischem Vorbild. Einerseits relativ straffe Führung und strenge Theorieschulung, andererseits ein gewisser Kult um das Proletariat.

Später schlug Grossenbacher eine Karriere beim Bund ein. Während 25 Jahren, bis zu ihrer Pensionierung im Jahr 2016, arbeitete sie bei der Koordinationsstelle für Bildungsforschung, zuletzt als Vizedirektorin.

Sie empfängt mich am Aargauer Ende der Welt, am Bahnhof in Unterkulm; es hagelt Katzen. Nachdem sie die Bialetti-Kanne auf den Herd gesetzt hat, setzen wir uns an den Stubentisch ihres Hauses.

Grossenbacher führt in den Kopf ihres fünfzig Jahre jüngeren Ichs, in die Anfänge ihrer politischen Karriere. «In der Schweiz waren wir bei Weitem nicht in einer revolutionären Situation, in der sich ein bewaffneter Kampf aufdrängen würde, so meine damalige Überlegung», erklärt sie, «also hätte es nur Terror sein können, der Unschuldige trifft, wie bei der RAF. Dadurch konnte man sicher nicht die Unterstützung der Leute gewinnen. Natürlich fand man manchmal, dem Schleyer und Konsorten geschieht’s recht.» (Hanns Martin Schleyer, deutscher Arbeitgeberpräsident und früherer SS-Offizier, wurde 1977 von der RAF entführt und ermordet.)

«Natürlich war ich Fan von Che Guevara», sagt Grossenbacher. «Aber bei uns in der Schweiz hätte ich das völlig daneben gefunden.» Gewalt habe sie in einem Dritt-Welt-Land nachvollziehen können, wo es tatsächlich um einen Umsturz gegangen sei. «Wir hatten auch keinen Kontakt zu Terroristen. Eine Unterbringung bei uns hätten wir haushoch abgelehnt. Grenzfälle waren für mich die Zerstörung von Infrastruktur. So jemanden hätten wir vielleicht für eine Nacht bei uns versteckt. Aber sicher niemanden, der Menschen tötet.»

Später, so Grossenbacher, habe man auch internationale Kontakte gepflegt, zur Frente Polisario (eine sozialistische Organisation, politisch und militärisch, in der Westsahara) und zum ANC (African National Congress, der sich gegen Südafrikas Apartheid-Regime engagierte, vereinzelt auch militärisch).

Die Antifaschismusfalle

Marxismus, das ist der rote Faden. Es ist paradox: Die 68er, die alles neu machen wollten, beriefen sich auf einen theoretischen Urgrossvater, auf Karl Marx, dessen Kapital 1867 erschienen war.

Noam Chomsky, das schlechte Gewissen der USA, schrieb einmal: «Marx’ Ermahnung» sei, dass «die eigentliche Aufgabe darin besteht, die Welt zu verändern». In der Tat, die Anziehungskraft des Marxismus beruht gar nicht so sehr auf den verqueren Satzstellungen im Kapital, sondern vielmehr in der Dynamik zur Veränderung, die er propagiert.

Denn der Marxismus ist, grob gesagt, eine Art säkulare Heilsgeschichte: Die Geschichte läuft geradlinig auf einen Endzustand zu, auf das Paradies, wo alle gleich sind. Dass sich kommunistische Regimes auf diese Utopie beriefen, liess Linke auf dem linken Auge erblinden. Sie sind in die «Antifaschismusfalle» getappt, wie der deutsche Historiker Wolfgang Kraushaar, Kriegsdienstverweigerer und 68er, schreibt: Viele Linke hätten etwa zum Stalinismus geschwiegen, durchaus wider besseren Wissens, aus Angst, denjenigen Munition zu liefern, die man für die eigentliche Gefahr hielt.

«Weil die Linke blind war für den totalitären Charakter [des Marxismus], hat sie eine Glaubwürdigkeitslücke hinterlassen», schliesst Kraushaar. Mit dem «totalitären Charakter» spricht er die ungelöste Frage im Marxismus an: Was tun, wenn nicht alle mitmachen? Wenn jemand mit der neuen Gesellschaftsordnung nicht einverstanden ist? Wegsperren?

Jedenfalls, die Krankheit «Antifaschismusfalle» macht auf dem linken Auge blind. Als weiteres Symptom kann akute Sowjetnostalgie auftreten. Davon hat sich die Linke nie so recht erholt, wie mir scheint.

Heute, wo unser System praktisch alternativlos erscheint, bieten Befreiungsbewegungen einen unermesslichen Projektionsraum für unerfüllte Wünsche.
Vernünftig sein mit den Juso

Im einstigen Biotop der 68er-Generation, in der Fass-Beiz in Schaffhausen, treffe ich zwei Vertreter der Jungsozialisten, Nino Zubler, 25, und Stefan Lacher, 26. Für ihr Alter reden sie viel zu vernünftig.

Lacher sagt: «Wenn mir ein SVPler vorwerfen würde, ich wolle den Kapitalismus überwinden, wäre das keine Beleidigung.» Darauf Zubler: «Ich bin ein Vertreter der sozialen Marktwirtschaft.» Lacher: «Lieber ein realer Erfolg als eine konfuse Idee.» Und wieder Zubler: «Mit Kompromissen ist man halt systemerhaltend. Ich glaube, dass auch die Wirtschaft selber einen Teil beitragen kann, zum Beispiel bei der Energiewende. Man muss nur die richtigen Anreize schaffen.»

Was halten sie vom Hammer-und-Sichel-Foto der AL?

«Wenn man sich gegen rechtsextremistische Hetze ausspricht, darf man das nicht machen», sagt Stefan Lacher.

Man müsse aber schon differenzieren, sagt Nino Zubler. «Marxistische Theorie und Praxis wie der Stalinismus sind nicht dasselbe.»

«Wie bei allen Theorien, Radikales ist gefährlich», meint Lacher. «Wenn irgendein Schüler Hammer und Sichel an seinen Rucksack pinnt, ist das nicht so schlimm, aber eine Partei wie die AL darf sich das nicht erlauben.»

Ob sie das bei einem Hakenkreuz-Pin auch so sehen würden, frage ich.
Beide schweigen. Nach einer kurzen Weile schütteln sie ihren Kopf. «Die einseitige Empörung sollte man überdenken», sagt Zubler.

«Bildungsreise» in Kurdistan

Am 9. Juli 2019 hatte Andi Kunz Besuch einer Delegation der PYD, einer sozialistischen Partei von Kurdinnen und Kurden, die den Norden Syriens regiert. Kunz, Gründungsmitglied der AL und Leiter des Schaffhauser Sozialamts, dokumentierte dies mit einem Foto auf Facebook. Das Bild zeigt eine gut gelaunte Gruppe beim Essen. Dazu schrieb Kunz: «Ein spannender Austausch.»

Die PYD sieht sich als progressive Kraft. Zum Beispiel fordert sie die Gleichberechtigung der Geschlechter; in von ihr kontrollierten Gebieten werden Führungsämter je von einer Frau und einem Mann besetzt. Die PYD geriet allerdings auch in die Kritik. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch bemängelte in einem Bericht von 2014, dass die PYD Menschenrechte verletze, durch unverhältnismässige Gefängnisstrafen, unfaire Gerichtsverfahren und den Einsatz von Kindersoldaten. Denn die Partei hat auch einen bewaffneten Arm, die YPG, zu Deutsch «Volksverteidigungseinheiten».

Überdies ist die PYD eine Tochterpartei der PKK, der Arbeiterpartei Kurdistans, einer militanten Organisation, die für die Autonomie von kurdischen Gebieten in Syrien, der Türkei, im Iran und im Irak kämpft. Ziel ist kein neuer Nationalstaat, sondern der Aufbau von kommunalen Basisdemokratien; «Demokratischer Konföderalismus» so der Eigenbegriff. Die PKK gilt als stärkste Opposition des autoritären türkischen Staatschefs Erdogan und als Kämpferin gegen den Islamischen Staat. In den meisten EU-Ländern wird die PKK als Terrororganisation eingestuft und ist verboten, nicht jedoch in der Schweiz.

Bereits im März war Andi Kunz in kurdisches Gebiet im Nahen Osten gereist, wie zahlreiche Fotos auf Facebook zeigen. Worum ging es dabei? Traf er Vertreter von kurdischen Parteien? Auf ein E-Mail reagiert Andi Kunz nicht. Auf Nachfrage per SMS antwortet er, dass er «weder Zeit noch Lust» habe auf ein Gespräch.

Dafür spricht ein anderer, Thomas Leuzinger, der Nationalratskandidat der AL. Er hat Kunz begleitet (wie im Übrigen auch AZ-Redaktor Mattias Greuter). Es habe sich dabei um eine «persönliche Bildungsreise» gehandelt, sagt Leuzinger, man habe diverse «Hilfsorganisationen, Gewerkschaften und Parteien» getroffen sowie ein Flüchtlingslager, Städte und Museen besucht. «Man liest täglich darüber und weiss nichts, wir wollten uns vor Ort ein Bild machen. Die politische Vernetzung stand nie im Vordergrund. Die AL ist voll regional.»

Lenin-Pin als Mahnmal

Vor ein paar Jahren war ich in Lettland in den Ferien. Auf einem Markt gab es allerlei Absurditäten, von Fingerringen mit SS-Emblem bis zu Uniformen der Roten Armee. Bei einem zittrigen alten Mann kaufte ich einen Lenin-Pin, golden, mit rotem Hintergrund.

Unter Lenin starben viele Menschen; politische Gegner liess er im Rahmen des «Roten Terrors» verfolgen, in Lager internieren oder umbringen. Ja, ich bin in die Falle getappt, mit Vorsatz gewissermassen.

Schliesslich, wie mir scheint, geht es um die Frage der Gewalt. Nicht zufällig wurde gerade ein Satz von Theodor W. Adorno – dem grossen deutschen Soziologen, der die Welt in Schachtelsätze packte – zum Lebensmotto vieler Linker: «Es gibt kein richtiges Leben im falschen.» Daran schliesst eben jene Frage an: Soll man Gewalt anwenden, um die Gegenwart zu verändern, wenn doch das ganze System an sich gewalttätig ist?

Auch Adorno tappte zwar in die Antifaschismusfalle – zum Stalinismus hörte man von ihm kein kritisches Wort. Dennoch lohnt es sich, sich an ihn zu halten. Adorno war ein entschiedener Gegner von Gewalt. Stattdessen propagierte er Verweigerung und zivilen Ungehorsam.

Den Lenin-Pin werde ich behalten, als Mahnmal meiner Ignoranz.