Der Serienmörder unter uns

15. August 2019, Romina Loliva
Im Nachgang zum Prozess gehen im November 1996 rund 1 500 Personen für einen Schweigemarsch auf die Strasse. © Max Baumann / Stadtarchiv
Im Nachgang zum Prozess gehen im November 1996 rund 1 500 Personen für einen Schweigemarsch auf die Strasse. © Max Baumann / Stadtarchiv

1993 stirbt ein Kind. Kurz darauf wird der Mörder gefasst. Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass er getötet hat. Der Fall Roland Kübler.

Neuparadies, ein Ortsteil der heutigen Gemeinde Schlatt, trägt die Idylle nicht nur im Namen. Im Norden liegen Rhein und Schaarenwald, im Süden das Zürcher Weinland. Das Wasser bestimmt hier seit je das Leben der Leute. Schlatterbach, Mühli- und Petribach schlängeln sich durch die Landschaft. Die Petriwiese gehört zu den schönsten Badeplätzen der Region, der Wald ist ein Naturjuwel. Ein Ort, wo es sich gut leben lässt, wo man nichts zu befürchten hat.

Dann verschwindet ein Kind. Es geschieht am 4. August 1993, an einem Mittwoch. Ein Dreizehjähriger fährt mit seinem Velo zum Mühlibach, um zu fischen. Sein Haus liegt nur einen Katzensprung entfernt. Um 17 Uhr fährt er los und kommt nicht mehr zurück. Dass ein Junge wegbleibt, passiert immer wieder. Manche vergessen die Zeit, manche reissen aus, andere haben einen Unfall. Die meisten tauchen wieder auf. Nur Dario nicht. Die Polizei schlägt Alarm. Rund 130 Personen suchen Tag und Nacht nach dem Knaben. Sie kommen aus dem Thurgau, Schaffhausen, aus Zürich und aus Deutschland. Eine Armee-Einheit schliesst sich ihnen an. Geschlafen wird in Schichten, gesucht auf den Knien. Jeder Stein wird umgedreht. Helikopter kreisen über dem Rhein, Hunde suchen die Felder ab.

Dario

Der Verdacht, dass dem Jungen etwas Schlimmes passiert sein könnte, wächst. Sein Gesicht und sein Name sind in jeder Zeitung. Er lächelt verschmitzt in die Kamera, als würde er gerade noch was sagen wollen. Die dunkelblonden Haare trägt er schulterlang. Fernsehen und Radio berichten live, die Polizei geht jedem Hinweis nach. Hellseher und Rutengänger bieten ihre Dienste an, Elternvereine und Schulbehörden kommen zusammen.

Zwei Tage später dann die traurige Gewissheit. Dario wird in einem Maisfeld bei Dörflingen gefunden. Der leblose Körper liegt genau an der Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland. Auf ihn wurde eingestochen, seine Leiche ist verstümmelt und geschändet. Die Idylle, die mit seinem Verschwinden zu bröckeln begonnnen hatte, reisst endgültig ein. Und Dario wird zum Kind jeder Mutter und jedes Vaters in Schaffhausen. Denn vom Täter fehlt jede Spur. Die Angst erfasst die Stadt und die Dörfer rundherum. Schulwege, Ausflüge, Spaziergänge sind nun eine Gefahr. Velos werden in den Kellern abgestellt, Spielplätze sind verwaist. Nachbarn werden beäugt, Autokennzeichen aufgeschrieben. Geh niemals mit einem Fremden mit, heisst es jetzt bei jedem Abschied, komm ja nicht zu spät, trödle nicht auf der Strasse. Der Ruf nach Schutz wird immer lauter. Aufklärung, Präsenz, Kontrolle: Der Staat soll handeln.

Peter Neukomm, der seit zehn Jahren im Stadtrat sitzt und seit vier Jahren Stadtpräsident ist, war einer von denen, die handeln mussten. 26 Jahre sind vergangen, aber Neukomm sieht noch so aus wie damals. Ein langes, schlankes Gesicht, krauses Haar, das ihm leicht über die Stirn fällt. Nur der Schnauz hat den Jahrtausendwechsel nicht überlebt. Am Abend des 6. August 1993 war er als junger Untersuchungsrichter der Erste nach dem stationierten Ortspolizisten am Fundort der Leiche. «Weil ich in Buchthalen wohne, war ich noch vor der Polizei dort», erinnert er sich. Fälle mit Kindern seien immer speziell, sagt der Stadtpräsident, «aber ein solcher Mord geht durch Mark und Bein». Da liegt ein Bub, der nie erwachsen werden wird, da sind Eltern, die nie Trost finden werden, und eine Gesellschaft, die Antworten will. Und da ist ein Täter, irgendwo da draussen, einer, der erneut zuschlagen könnte, der gefasst werden muss. Wie geht man damit um?

«Die Nächte waren kurz, die Belastung gross», erzählt Neukomm. «Der Druck, möglichst schnell Resultate zu liefern, war enorm.» Verwertbare Spuren seien kaum gefunden worden, um den Tathergang zu rekonstruieren, habe man alles Erdenkliche untersucht. Fehler durfte man sich keine erlauben.

Nach der Autopsie sei klar gewesen, dass Dario nicht am Fundort getötet worden war. Das Wasser in seiner Lunge deutete klar auf ein Gewässer hin. Der Mühlibach bei Neuparadies wurde ausgebaggert, Mikroben aus dem Wasser sichergestellt, etliche Personen befragt. Bekannte Delinquenten, das Umfeld, die Familie: Um den Täterkreis einzuengen, geht man nach dem Ausschlussprinzip vor. «Wir mussten jeder Theorie nachgehen. Auch wenn sie abwegig erschien», sagt Peter Neukomm. Wie etwa, dass die Mafia mit dem Mord zu tun haben könnte, weil die Familie italienischer Herkunft war. Oder dass es der stadtbekannte Störenfried Erich Schlatter gewesen sein könnte, weil er seinen Wohnwagen in der Nähe des Fundortes abgestellt hatte. Nur führten die Ermittlungen ins Leere. Frust und Hilfslosigkeit gehören für die Untersuchungsbehörden zum Beruf, bei Dario brachten sie aber auch gestandene Polizisten an ihre Grenzen.

Vier Monate später, in der Provinz Calvados in der Normandie, wird ein Mann festgenommen. Er hatte einen 21-Jährigen Autostopper mit einem Messer schwer verletzt und sitzt nun in Untersuchungshaft. Sein Name ist Roland Kübler, Psychiatriepfleger aus Schaffhausen. Er sei nach Frankreich gereist, um sich das Leben zu nehmen, gibt er den Behörden zu Protokoll. Interpol schaltet sich ein, und die Nachricht aus Frankreich erreicht die Schweiz. Aufgrund von Parallelen zwischen den Delikten, habe man schnell Kübler verdächtigt, der Mörder von Dario zu sein, erzählt Neukomm. Der damals 35-Jährige gesteht rasch und wird ausgeliefert. In Schaffhausen atmen alle auf. Der Mörder ist gefasst. Schweizweit berichten alle Zeitungen. Nur dieses Mal sind es sein Gesicht und sein Name, die von den Titelseiten prangen. Der Blick ist schonungslos und zeigt den Mann in Grossaufnahme, nennt seinen vollen Namen. Das «Monster» kann keine Gnade erwarten, und die Gesellschaft hat das Recht zu erfahren, wer er ist.

Wenn ein Kind ermordet wird, passiert etwas mit den Menschen. Trauer und Wut werden kollektiv. Und man will wissen, was passiert ist. Auf diesen Standpunkt stellt sich auch die Staatsanwaltschaft, die als Erste den Mörder beim Namen nennt. «Das war eine schwierige Abwägung», sagt Peter Neukomm, lange habe man darüber diskutiert, «das Interesse der Bevölkerung nach Klarheit überwog aber.» Dass Kübler selbst eine Familie habe, Eltern und ein Kind, das sei den Behörden natürlich bewusst gewesen, aber in Schaffhausen, wo die Verhältnisse so klein sind, sei es nur eine Frage der Zeit, bis Namen rauskämen. «Wir standen vor der Entscheidung: Transparent zu kommunizieren oder Indiskretionen zuzulassen. Wir entschieden uns fürs Erste, denn es hätte ja sein können, dass noch mehr ans Licht kommt.»

Stefan

Die Geschichte wird ihm recht geben. Während den Ermittlungen gesteht Kübler einen weiteren Mord. Dieser liegt rund zehn Jahre weiter zurück. 1982 wurde der 14-jährige Stefan im Freudental tot aufgefunden. Der Junge aus Büttenhardt ist in der Mittagspause mit dem Velo auf dem Heimweg, als Kübler mit seinem Auto vorbeifährt, anhält und den Knaben wortlos überfällt. Er nötigt ihn, schlägt ihn brutal zusammen und erwürgt ihn. Der Vater, der die Leiche als Erster findet, wird lange verdächtigt. Profiler aus den USA sind von seiner Schuld überzeugt, aber der Mord kann ihm nicht nachgewiesen werden. Dass er es gewesen sein könnte, bleibt in Schaffhausen ein hartnäckiges Gerücht. Bis zum Geständnis von Roland Kübler. Ausserdem erkennt ein weiterer Mann aus Schaffhausen Kübler aus der Zeitung und bezeugt, Opfer einer versuchten sexuellen Nötigung gewesen zu sein und nur knapp mit dem Leben davongekommen zu sein.

Roland Kübler selbst bleibt ein Rätsel. Der ehemalige Psychiatriepfleger ist ein Durchschnittstyp. Von alten Bekannten wird er als unauffällig, anständig und unscheinbar beschrieben. Etwas eigenbrötlerisch vielleicht, meistens für sich. Freunde hatte er kaum, dafür die Angewohnheit, «Buch zu führen»: Er habe sich immer aufgeschrieben, was er gemacht habe, um sich dessen zu vergewissern, heisst es.

Vor Gericht, 1996, wird Kübler über seine schwierige Jugend sprechen, über seine Tabletten- und Alkoholsucht, die er auf den Versuch, seiner pädophilen Neigung zu begegnen, zurückführt. Von der gescheiterten Ehe und von mehreren Selbstmordversuchen. Seine Opfer seien immer nur zufällige Begegnungen gewesen, die einen starken sexuellen Drang ausgelöst hätten, Stimmen hätten ihm befohlen, die Kinder zu töten. Sein Gewaltpotenzial und seine psychische Verfassung werden zum Streitpunkt im Gerichtssaal. Für den einen Gutachter ist Roland Kübler berechnend und jederzeit willens- und urteilsfähig, ein Mann, der nur darauf aus sei, seine Triebe zu befriedigen. Der andere attestiert Kübler eine Psychose, unter welcher es ihm nicht möglich gewesen sei, die Kontrolle zu behalten. Für Kübler macht das aber keinen Unterschied. Dass er nicht freikommen wird, weiss er schon vor dem Urteil. Vielleicht hofft er es sogar. Auf jeden Fall wird er später sagen, dass es ihm lieber sei, im Gefängnis zu bleiben, als er zum zweiten Mal vor Gericht steht. Denn die Geschichte ist nicht vorbei.

Simon

Werner Brandenberger, früherer Strafverteidiger und Kantonsgerichtspräsident, heute 80-jährig, trägt die Haare immer noch lang, die Brille fast mit dem Gesicht verschmolzen, aber der Blick noch wach. Er holt sein Plädoyer hervor, als Erinnerungsstütze. Der Anwalt war nicht der Erste, der für die Verteidigung von Kübler angefragt wurde, aber der Einzige, der zugesagt hatte. Viele wollten sich die Finger nicht verbrennen, einige lehnten aus Gewissensgründen ab. Brandenberger war aber der Meinung, dass auch Roland Kübler die bestmögliche Verteidigung zustand. «Damals», erzählt er, «gab es Leute, die nach der Todesstrafe gerufen haben. Und es ernst meinten», die Öffentlichkeit sei «erdrückend» gewesen zu der Zeit. Tägliche Berichte in den Zeitungen, Demonstrationen auf der Strasse, Schaulustige stellten sich in die Schlange, um in den Gerichtssaal zu kommen.

Gedenkstätte beim Mühlebach, die anlässlich des Prozesses im November 1996 eingerichtet wurde. © Peter Pfister
Gedenkstätte beim Mühlebach, die anlässlich des Prozesses im November 1996 eingerichtet wurde. © Peter Pfister

Und er, der Mann, der den «Unmensch» Kübler verteidigen soll. Wie macht man das? «Ich war im klassischen Verteidigerdilemma.» Einerseits habe Brandenberger für seinen Mandanten das Beste herausholen wollen, aber auch erkannt, dass unabhängig von der Frage der Schuldfähigkeit dieser zum Schutz der Gesellschaft für immer verwahrt werden müsste. «Das ist die härteste Strafe, die unser Rechtssystem vorsieht. Als Verteidiger nicht dagegen zu plädieren, ist schwierig», erklärt Brandenberger. Nur bei der Schuldfrage habe er eine andere Auffassung vertreten: Zurechnungsfähig sei Kübler aber bei der Tat nicht gewesen, die Hinweise auf massive psychische Störungen seien nicht von der Hand zu weisen gewesen. Ob er, ganz der Anwalt, dies auch glaubt, sei nicht relevant, meint er. Denn das Anwaltsgeheimnis gilt bis heute.

Auch die Menschen wollen urteilen. Werner Brandenberger, der schon viele Verbrecher gesehen hat, erklärt es so: «Die Gesellschaft braucht einen Schuldigen. So wissen wir, dass wir auf der richtigen Seite stehen; zumindest glauben wir das.» Und so ist die Verhandlung ausserhalb des Gerichts längstens abgeschlossen. Die Leute zünden Kerzen an, marschieren still. Kinder schwenken Laternen, für Dario, für Stefan, für die Unschuld.Im Prozess ist die Sachlage auch deutlich. Roland Kübler wird zu lebenslanger Haft und Verwahrung verurteilt. Die Sonderabteilung der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf wird sein neues Zuhause. Dort soll er für immer bleiben, weggesperrt und für den Rest der Welt ungefährlich. Die Welt macht aber nicht vor den Gefängnismauern Halt. Am 27. Januar 2008, einem Sonntagabend, lockt Roland Kübler den 25-jährigen Mithäftling Simon in seine Zelle, sediert ihn mit einem Medikamentenmix, fesselt und missbraucht ihn. Als das Opfer zu sich kommt und um Hilfe schreit, drückt ihm Kübler die Kehle zu, bis zum Tod. Der junge Mann stand kurz vor der Haftentlassung.

Wieder verurteilt das Gericht Kübler zu lebenslanger Haft und verhängt wieder eine Verwahrung. Für die Angehörigen des Opfers ist das wichtig, Kübler scheint sich damit arrangiert zu haben. Er lasse seine Hepatitis-C-Erkrankung absichtlich nicht behandeln, sagt er, und hoffe, bald daran zu sterben.

Dass er ein drittes Mal morden konnte, versteht die Gesellschaft nicht. Wieder will die Öffentlichkeit wissen, wie konnte das passieren? Die Empörung ist gross. Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass man die Tat nicht hätte vorhersehen können. Kübler wird schliesslich nach Lenzburg verlegt. Danach wird es ruhig um ihn. 2017 ist er nur noch eine Randnotiz: Der Kindermörder aus Schaffhausen stirbt an seiner Krankheit in der Haft. Die Emotionen zu bewegen, vermag er nicht mehr. Vielleicht nur, dass man froh sein, dass sie nun zu Ende ist, die grässliche Geschichte.

Bis am 26. Juli 2019. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei Konstanz suchen nach Hinweisen zu einem Vermisstenfall aus dem Jahr 1984. Damals will der 17 Jahre alte Joachim von Tengen nach Singen per Anhalter fahren. In zwei anonymen Briefen wird Roland Kübler beschuldigt, ihn mitgenommen, umgebracht und in einem Wald bei Schaffhausen abgelegt zu haben. Ob er es tatsächlich gewesen ist, bleibt vorläufig ungewiss. Gestehen kann er nicht mehr.