Plötzlich pensioniert

13. August 2019, Marlon Rusch
Ein Bild aus besseren Tagen: Ursula Hänggi 2016 in ihrem geliebten Schulzimmer. Foto: Peter Pfister

Ein Leben ohne Schule? Unvorstellbar.­ Jetzt muss Lehrerin Ursula Hänggi in Pension. Eine Welt bricht zusammen.

Ich erkenne sie sofort, obwohl wir uns 22 Jahre nicht gesehen haben. Sie sieht genauso aus wie damals, das Gesicht einer Frau in den frühen Vierzigern. Wie sie über die Jahrzehnte immer wieder neue 1.-Klässler bekam, schlüpfte offenbar auch die Lehrerin alle drei Jahre in eine neue Haut. Schule als Formaldehyd. 

Und genau das macht jetzt umso mehr Angst. Denn nach den Sommerferien werden keine neuen 1.-Klässler mehr kommen.

Als ich Ursula Hänggi vor einigen Wochen schrieb und sie fragte, ob ich ihr helfen könne, nach 43 Jahren das Schulzimmer zu räumen – ich würde gerne über sie schreiben, über sie und ihren Eintritt in den Ruhestand –, antwortete die 65-Jährige, für eine solche Geschichte sei sie das schlechteste aller Beispiele. Sie habe alles verdrängt: «Ich werde in einer Woche in ein Loch fallen und warten, bis ich wieder auftauche.» Wenn ich wolle, könnten wir uns schon treffen. Das Schulzimmer sei nach einem halben Jahr Räumung aber praktisch leer, vielleicht wäre ein Café der bessere Ort zum Reden.

Das klang drastisch, aber bis mir meine ehemalige Primarlehrerin gegenübersass, über drei Stunden lang erzählte und ihr Glas stilles Wasser dabei kaum anfasste, hatte ich keine Vorstellung vom Ausmass des Loches, in das sie mit Beginn der Sommerferien 2019 gefallen war. In das sie, wie sie sagt, gestossen wurde.

«Diese alles verschlingende Flamme»

Wer tief fällt, ist zuvor hoch geklettert. Als die AZ 2016 ein Porträt über sie schrieb – Hänggi feierte 40 Jahre im Schulhaus Steingut –, war Edi Looser, der Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Schaffhausen, voll des Lobes: Ursula Hänggi habe die Schule von heute geprägt wie einst Johann Heinrich Pestalozzi. Ein Ritterschlag. 

Es gab für Ursula Hänggi stets eine klare Hierarchie. An erster Stelle ihres Leben stand immer die Arbeit im Schulzimmer. Sie sagt, das sei ihr schon 1957 klar gewesen, als sie mit drei Jahren zum ersten Mal in den Kindergarten gebracht wurde. Und die Hingabe habe stetig zugenommen. In den vergangenen zehn Jahren war Hänggi vielleicht an vier, fünf Tagen nicht im Steingut. Ansonsten war sie dort. Immer. Sie gehörte wortwörtlich zum Inventar. Ferien? Fehlanzeige. Diese Schmetterlinge, die in ihrem Bauch aufflatterten, wenn sie eine neue Idee hatte, abends am Schreibtisch, als sie nach dem Unterricht täglich noch sechs, sieben Stunden vorbereitete, sie waren ihr Lebenserhaltungstrieb. Heute nennt Hänggi die Schule «diese alles verschlingende Flamme».

«Wenn ich durch eine fremde Stadt flaniere, ins Schaufenster eines Schuhladens blicke und dort zum Beispiel ein aufblasbares Deko-Krokodil sehe, macht mein Gehirn blitzschnell eine Triage: 1., 2. oder 3. Klasse, Mathe oder Deutsch … wo könnte ich das einsetzen? Das passiert ganz automatisch.»

Hänggi war die Avantgarde der Schaffhauser Schule. Seit einem Bildungsurlaub im Dänemark der 80er-Jahre war sie infiziert: selbstständiges Arbeiten, Bildungslandschaften statt Frontalunterricht. Als sie von ihren Anfängen erzählt, April 1976, Patriarchat, einzige Frau unter elf Kollegen, zehn Seiten Lehrplan für acht Schuljahre, streicht sie einen Punkt besonders heraus: «Wir hatten und haben Lehrmittelfreiheit!» Die offiziellen Schulbücher hat sie 40 Jahre nicht angefasst. 

Anfang der 90er, als ich zu Hänggi in die Unterstufe kam, standen da vier Computer. Immer wieder standen Schülerinnen bereits eine halbe Stunde vor dem Klingeln im Schulzimmer, um individuell zu arbeiten. Wir liebten den Werkstatt-Unterricht, wir liebten unsere Lehrerin. Hänggi selbst zitiert den neuseeländischen Pädagogen John Hattie, der sagt, in der Schule laufe alles über die Beziehungsebene.

«Ich war immer feige»

Längst hatte sich die Kunde von der aussergewöhnlichen Lehrerin verbreitet, regelmässig kamen Lehrerinnen und Lehrer aus der ganzen Schweiz auf Schulbesuch, um Hänggis Unterricht zu studieren. Die ehemalige Schulpräsidentin Silvia Pfeiffer sagte einmal zu ihr: «Das ist dein Schicksal, du bist einfach immer zehn Jahre voraus.»

Doch die Avantgarde ist eben oft missverstanden. Zur selben Zeit, als sie Schaffhausen auf der nationalen Bildungslandkarte verortete, entschied das Obergericht, dass ihre hohen Berufsausgaben nicht abzugsberechtigt seien, da die Schule für sie offensichtlich nicht nur Beruf, sondern auch Hobby sei.

Sie erzählt die Episode mit einem Lächeln. Daran, dass sie mit dem privaten Geld, das sie über die Jahre in ihr Schulzimmer steckte, heute ein Einfamilienhäuschen kaufen könnte, scheint sie kein bisschen zu interessieren. 

Das Gericht hatte nicht Unrecht. An den Wochenenden wuchtete Hänggi ihre PCs ins Auto und fuhr quer durch die Schweiz, um Weiterbildungskurse zu geben. Es dauerte nicht lange, da klopften Lehrmittelverlage an. Also schrieb sie eben nebenher noch Lehrmittel.

Einmal besuchte sie mit einer Kollegin eine Schulmesse. Diese sagte zu Hänggi: «Schau mal, die Frau, die dieses Buch geschrieben hat, die hat denselben Namen wie du.» Hänggi lächelte und sagte nichts. 

Weggefährten, die mit Bewunderung über sie sprechen, sagen im selben Atemzug, sie sei auch eine Individualistin gewesen. Sie habe nicht den Widerstand gesucht, um das System zu verändern, sie habe stets versucht, ihrer Klasse das Bestmögliche zu bieten. Hänggi selbst sagt: «Natürlich wäre ich gern ein Guru gewesen, aber ich war immer zu feige, mich hinzustellen.»  

Während andere markante Figuren, die für die Schule brannten, in die Politik gingen oder Aktivisten wurden, verschanzte sich Ursula Hänggi zwischen Primarschülern und der neusten Pädagogiksoftware im Steingut. Zur Schaffhauser Schulpolitik hat sie eine äusserst dezidierte Meinung, zu hören bekommt man diese aber nur im Zwiegespräch. 

Ursula, warum hast du dich 40 Jahre lang dermassen aufgeopfert? Worum ging es dir wirklich?

«Um mich», sagt sie schonungslos, «ich musste authentisch sein.»

Die Medizin hat sich ausführlich mit den Nebenwirkungen des Ruhestands auseinandergesetzt (siehe Box). Die Altersforscherin Ursula Lehr sagte in der Wochenzeitung Die Zeit, Befragungen hätten gezeigt, dass die Unzufriedenen oft das Gefühl hätten, sie müssten noch etwas zu Ende bringen, die Dinge zum Besseren wenden. Den Erfolgreichen hingegen falle das Loslassen leichter. 

Ursula Hänggi war sehr wohl erfolgreich, doch wurde ihre Bedeutung auch wertgeschätzt? «In meinem Schulzimmer, halb unter der Erde, konnte ich machen, was ich wollte. In diesem Keller sind dank der Narrenfreiheit Dinge entstanden, die geprägt haben, was im Kanton passiert», sagt sie. Man könnte aber auch sagen, man habe sie dort unten gern auch mal vergessen.

«Ich habe keinen Plan B»

Und nun hat man sie, nach einem Jahr Gnadenfrist, «zwangspensioniert». Sie selber wurde, mal wieder, nicht gefragt.

«Anfangs war ich einfach nur wütend», sagt sie, nun versuche sie, sich irgendwie neu zu orientieren. Kinder und Enkel gibt es nicht. Lehrerin und Mutter – das sei damals nicht einfach vereinbar gewesen.  Lange Zeit habe schon ein Konkubinat Anlass zur Kündigung geboten. Ihre späte Ehe, sagt Hänggi, klappe nur, weil ihr Mann immer akzeptiert habe, dass an erster Stelle die Schule stehe.

Die Frau hat der Schule alles geopfert. Der Lohn dafür sei seit Juli 2019 eine lähmende Müdigkeit, seien Tage im Bett, sei ein leeres Mailkonto, eine leere Agenda und die Gewissheit, dass niemand mehr etwas von ihr wissen wolle. Die Hochstrasse, wo das Steingut steht, umfahre sie grossräumig – «es ist zu früh».

Und dann ist da noch dieses grosse Unverständnis. Zehntausende Stunden hat sie in Arbeitsmaterialien investiert. Jetzt soll alles in den Schredder. «Aber wie schreddert man ein Gehirn?» Was macht man mit dem gesammelten Wissen von 43 Jahren Unterricht? In anderen Gesellschaften werden die Alten geachtet, gefragt, gehört. Hänggi muss den Schlüssel zum Schulhaus abgeben und die Parkkarte, der Rückzugsort: dahin. Ade messi. 

Was nun?

«Ich weiss es nicht, ich habe keinen Plan B», sagt sie. Sie könne nichts anderes als Schule geben, habe keine Hobbys. Sie habe ja auch nie Zeit gehabt, es habe in ihrem Schulzimmer immer Dringlicheres gegeben. Damit erübrigt sich auch die Frage, warum sie sehenden Auges in die Misere rutschte und nicht versuchte, sich auf den Ruhestand vorzubereiten.

Kürzlich sei die Anfrage gekommen, ob sie 14 Lektionen in einer anderen Gemeinde übernehmen könne. «Ich hatte sofort dieses Kribbeln im Bauch.» Aber es war die falsche Stufe. «Bei einer Unterstufenklasse hätte ich sofort Ja gesagt, obwohl ich ja weiss, dass es nur ein Defibrillator gewesen wäre und keine echte Hilfe.» Ihre Augen werden feucht.

Wirst du jetzt altern?

«Das Äussere zeigt sowieso nicht das Innenleben … Immerhin kann ich sagen: ich habe nichts falsch gemacht, ich bereue nichts. Das war meine Berufung, das war mein Leben.»



Folgen des Ruhestands

Es ist wissenschaftlich belegt, dass der Ruhestand eine Vielzahl an medizinischen Problemen verursachen kann. Nach dem Eintritt ins Rentenalter nimmt die Zahl von Alkoholismus, Depressionen und Suizid zu. Beziehungen gehen häufiger in die Brüche, die Gesundheit kann sich schlagartig verschlechtern. 

Zahlen des Berufsverbands der deutschen Betriebskranken­kassen besagen, dass 8,7 Prozent der Berufstätigen unter Depressionen leiden. Bei Pensionierten sei die Quote mit 16 Prozent fast doppelt so hoch.  Eine grosse Vergleichs­studie mit Daten aus elf Industrieländern bestätigt, dass eine frühe Rente der Gesundheit tendenziell schadet und die Lebensfreude reduziert.

Ulrich Hegerl, Direktor des Universitätsklinikums Leipzig, fasst­
das Problem bildlich zusammen: «Die Arbeit funktioniert für manche Menschen wie ein Korsett, fällt sie weg, gerät der Mensch in Schieflage.»