«Wir werden schon frische Helden finden»

6. August 2019, Marlon Rusch
Bild: Peter Leutert
Bild: Peter Leutert

Identität sei ein rhetorischer Kniff, sagt der Historiker Valentin Groebner. Und das «echte» Alte am besten neu.

Der Wiener Mittelalterprofessor Valentin Groebner ist das Gegenteil dessen, was man sich landläufig unter einem Mittelalterprofessor vorstellt. Seine Forschung schlägt oft den Bogen in die Gegenwart. Immer wieder mischt er sich mit pointierten, humorvollen Kommentaren in aktuelle Debatten ein. Kürzlich erschien sein neues Buch «Retroland – Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen». Zur verabredeten Zeit wartet der 57-Jährige bereits gut gelaunt und braun gebrannt vor der Universität Luzern, wo er seit 2004 lehrt.

Herr Groebner, Sie sind gestern Abend von Guarda zurückgekehrt. Was haben Sie da gemacht? Sind Sie den Spuren von Schellenursli gefolgt?
Ich habe Urlaub gemacht, war bei Freunden in einer Ferienwohnung und bin in die Berge gegangen.

Zufall, dass Guarda ein Dorf ist, von dem man sagt, es sei dort «wie im Mittelalter»?
Eher 17. Jahrhundert als Mittelalter. Aber Guarda ist ein tolles Beispiel für eine «authentische Kulisse»: Etwas wirkt dann besonders echt, wenn es nicht alt ist, sondern neu gemacht, renoviert, restauriert, rekonstruiert. Nur das neu gemachte Alte ist in der Lage, die Fremdheit des Alten aufzulösen.

Wie meinen Sie das?
Wenn wir ein echtes altes Dorf sehen würden, komplett im Originalzustand von 1700, wären wir schockiert. Es wäre nicht pittoresk, es gäbe auch keine Geranien. Sondern Gestank, extreme Armut, sterbende Kinder. Die falsche Art von Vergangenheit. Damit wir uns selber in der Vergangenheit wiederfinden können, erst recht als politische Gemeinschaft, darf die Vergangenheit nicht fremd sein. Und schon gar nicht ambivalent, gewalttätig, schwierig. Sie muss einheitlich sein, und dafür sind Figuren, die die Ambivalenz entsorgen, das Heidi, der Schellenursli oder Wilhelm Tell, extrem gut.

Fürchten sich die Menschen vor dem Fremden in der Vergangenheit?
Ich glaube, nein. Die grosse Befürchtung in Bezug auf die Vergangenheit ist ja eher, dass das echte Alte kaputtgeht und weg ist, bevor man es besichtigen konnte. So richtig begründet ist das nicht. Mit der Wachstumsindustrie Tourismus wird immer mehr «echtes Altes» hingestellt. Man kann das im Engadin sehr schön sehen: Ein ziemlich grosser Teil der neu gebauten Ferienhäuser in Maloja sieht aus wie alte Engadinerhäuser, nicht nur in der Bauform, sie sind auch mit traditionellen Sgrafitti geschmückt. Aber es gibt Badezimmer und Fussbodenheizung.

Kennen Sie Stein am Rhein?
Ja, Stein am Rhein ist auch so eine Wunscherfüllung. So pittoresk, so sauber, so idyllisch. Es ist die nachgebaute Vergangenheit, die die Wünsche der Gegenwart erfüllen soll.

Wieso gibt es solche Orte? Wer baut sie?
Dahinter steckt eine grosse kollektive An­strengung, die im 19. Jahrhundert mit der Industrialisierung begann. Die Industrialisierung schaffte mit grosser Geschwindigkeit Altes ab. Was noch übrig war, wurde musealisiert und ausgebaut zur Gegenwelt, zur Komfortzone, zum Reduit vor dem Schrecken der Modernisierung. Der Boom neu gebauter mittelalterlicher Bauformen im 19. Jahrhundert ist dafür typisch. Wenn etwas sehr mittelalterlich aussieht, ist es meist aus den 1880er- oder den 1920er-Jahren. Das Landesmuseum in Zürich zum Beispiel sieht aus wie ein leicht vergrössertes Westschweizer Schloss aus dem 15. Jahrhundert. Aber es ist aus Stahlbeton – und deutlich jünger als der Hauptbahnhof daneben.

Warum tut man das?
Man will eine Vergangenheit, die den eigenen Bedürfnissen entspricht.

Für sich selber?
Ja.


Man bescheisst also nicht die anderen, sondern sich selbst?
Ich würde eher sagen: verführt.

Und Sie als Historiker sind der Spielverderber, der die Verführung dekonstruiert?
Das ist mein Beruf. Historiker fragen, aus welcher Zeit etwas stammt, wer es bezahlt hat, ob ein Text, ein Bild oder ein Bauwerk tatsächlich so alt ist, wie es behauptet. Historiker sind deswegen immer ein wenig Spielverderber. Nehmen wir den Schellenursli: Das Kinderbuch von Selina Chönz zeigt eine Vergangenheit, in der es offensichtlich keine Eisenbahn und keine Autos gibt. Aber die Leute fahren Ski. Das kann so nicht ganz stimmen (lacht). Kinderbücher funktionieren analog zu politischen Grosserzählungen. Die Vergangenheit wird als Idylle dargestellt, indem man sie von allem Unpassenden reinigt.

Sie sprechen von politischem Kalkül?
Intensive Bezüge auf die Vergangenheit sind für die Politik immer ein unsicheres Terrain. In der Schweiz gab es zwischen 1530 und 1848 in jedem Jahrhundert mindestens einen konfessionellen Bürgerkrieg, in dem die Katholiken und die Reformierten aufeinander losgingen. Das hat die Eidgenossenschaft stark geprägt, aber für die offiziellen Feiertagsversionen der eigenen Geschichte ist das natürlich nur schwer verdaulich.

Ist das Geschichtsklitterung?
Geschichte ist genau wie jede andere Wissenschaft immer in Bewegung. Wir haben heute andere Einsichten über die Geschichte der Eidgenossenschaft als die Kollegen in den 1950er-Jahren oder die Kollegen von 1890.

Was sieht man heute anders?
Heute haben wir gute Gründe zu glauben, dass die politischen Strukturen der heutigen Schweiz mit dem Mittelalter nichts zu tun haben. Und dass die Vorstellung einer Schweiz, die als Urschweiz am Ende des 13. Jahrhunderts entstand, so nicht stimmt. Die Eidgenossenschaft als politisches Gebilde entstand im 15. Jahrhundert, unter ganz anderen Bedingungen als früher angenommen, nicht als autochthone Selbsterfindung, sondern in engem Zusammenhang mit den grossen politischen Strukturveränderungen in den Nachbarländern. Diese alte Eidgenossenschaft ging nach 1798 unter. Und wurde im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts als moderner Bundesstaat neu gegründet. Stark zugespitzt könnte man sagen, dass die heutige Schweiz so alt ist wie Belgien. Was die Schweiz als sehr erfolgreichen modernen Industriestaat ausmacht, kommt nicht aus dem 13. oder 15. Jahrhundert, sondern aus dem 19.

Wieso hält sich die veraltete Vorstellung nach wie vor so gut? Weil uns das Bild so gut gefällt?
Ja, das sind sehr wirkungsvolle, positive Bilder. Meine Historikerkollegen aus dem 19. Jahrhundert konnten sehr gut schreiben und starke Geschichten erzählen – und starke Geschichten beruhen auf Vereinfachung. Ein Narrativ wird dadurch so wirkungsvoll, dass es widersprüchliche Elemente in einen simplen, neuen Plot verschmilzt. Und das haben die patriotischen Geschichtsforscher der 1860er-, 1880er-, 1890er-Jahre ziemlich gut gemacht. Mit grosser schriftstellerischer Verve.

Was entgegnen Sie jeweils?
Bei meinen öffentlichen Vorträgen beschweren sich manchmal ältere Herren aus dem Publikum, ich würde andere Dinge über das Schweizer Mittelalter erzählen, als sie in den 60er-Jahren in der Schule gelernt haben. «Wenn Sie zum Arzt gehen», antworte ich dann, «zum Urologen oder zum Herzspezialisten, möchten Sie dann nach dem medizinischen Forschungsstand der 1930er-Jahre behandelt werden?» Nur bei der Geschichte möchte man auf die vertrauten Erzählungen von früher nicht verzichten.

Warum wird man als Historiker so stark angefeindet, wenn man Kritik an der offensichtlich falschen Geschichtsrezeption übt?
Ich werde nicht angefeindet. Ein bestimmtes Ausmass an emotional geführter Debatte über die nationale Vergangenheit ist normal. Geschichte ist ein politisches Fach, sie kann gar nicht anders sein. Und die Historikerinnen sind, ob sie wollen oder nicht, die Nachfolgerinnen der Pfarrer, der Theologen des 19. Jahrhunderts, die damals die grossen Erzählungen gesetzt haben.

Aber den Historikern hört man heute nicht mehr zu.
Da wäre ich ein bisschen zurückhaltend. Die grossen Debatten um die Schweiz bei den Jubiläen von 1991 und 2015 waren selbstverständlich Debatten über historisches Erzählen, über die Legitimation durch Geschichte. Das ist in anderen Ländern auch so.

Nachdem Sie dem Tages-Anzeiger vor einem Jahr am 1. August ein Interview gegeben hatte, hat Christoph Blocher in seinen Gratis­zeitungen geschrieben, Sie würden «Schweizer Werte beseitigen». Sie werden von der SVP als Feind dargestellt.
Ich habe einen Schweizer Pass und bin stolz, in der Schweiz als Staatsbürger mitstimmen zu können. Ich habe hier lange genug als Ausländer gelebt. Aber mein Migrationshintergrund verbindet mich mit einem Drittel der Einwohner dieses Landes. Ich glaube nicht, dass ich ein besonders prominenter Feind bin.

Wir haben für unsere 2.-August-Ausgabe ein kleines Experiment gestartet und uns in den sozialen Medien abfällig über Schaffhausen geäussert. Das hat einen ziemlichen Shitstorm ausgelöst. Warum reagieren die Leute so heftig, wenn man ihre Heimat kritisiert?
Es reagieren ja nur die, die sich dadurch beleidigt fühlen, die meisten zucken einfach die Schultern, vermute ich. Aber allgemein gilt wohl, dass Gruppenzusammengehörigkeit dadurch funktioniert, dass man sich als Gruppe darauf einigt, wer nicht dazu gehören soll. Oder darf. Alle Protagonisten von nationaler Überlegenheit brauchen nichts so notwendig wie jene vermeintlichen Fremden, um überhaupt definieren zu können, wer sie selbst sind. Das ist ein sozialer Mechanismus.

Identität basiert immer auf Ausschluss von anderen?
Identität ist kein Wort, das ich verwenden würde. Das ist ein problematischer und sehr unklarer Begriff. Aber ein Zusammengehörigkeitsgefühl in Bezug auf politische Gruppen baut darauf, dass man sich auf gemeinsame Gegner einigt, die nicht dazugehören.

Und diese Gegner muss man selbst erschaffen, wenn sie nicht schon da sind.
Damit eine Bedrohung wirklich gut funktioniert, muss derjenige, der Schutz davor verspricht, sie selbst erzeugen. Das ist aber keine neue Einsicht (lacht).

Warum ist Identität ein problematischer Begriff?
Das Wort stammt ursprünglich aus theologischen Traktaten des Hochmittelalters – da ging es um Vervielfältigung. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde es zu diesem Superbegriff, den wir heute verwenden. Ein sehr schwammiges und widersprüchliches Wort. Identität steht für drei ganz verschiedene Dinge: 1. Ich bin ich, Selbstzuschreibung. 2. Du bist so, individuelle Fremdzuschreibung. 3. Wir alle sind gemeinsam so. Ich glaube, dass Identität das Erbe von älteren Kaugummiworten angetreten hat, von grossen, schwammigen Wörtern aus dem 18., 19., frühen 20. Jahrhundert, die man nicht mehr verwenden kann: Art, Wesen, Volksgeist. Viele, die heute so laut von der Schweizer Identität reden, hätten in den 30er-Jahren Volksgeist gesagt. Das Wort Identität sagt über den, der es verwendet, viel mehr als über das, was vermeintlich damit bezeichnet wird.

Was sagt es über den, der es verwendet?
Dass er einen Vergrösserungswunsch hat. Mit Identität kann man Dinge, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, zu einem ehrfurchtgebietenden grossen Ganzen aufblasen. Identität ist auch nicht rein zufällig eines der Lieblingswörter von Werbetextern.

Ist Identität ein Trick?
Ein rhetorischer Kniff. Es ist aber nicht das einzige Wort, das so verwendet wird. Irgendwann wird es als Zauberwort bröckeln, und dann kommt was Neues.

Was kommt dann?
Ich würde die smarten Jungs von der Werbung fragen, die sind schneller. Wir Historiker kommen immer zu spät, das ist unser Beruf. Wir behalten nur nachträglich recht. Deshalb haben wir es auch relativ einfach (lacht). Von der Zukunft verstehen wir nichts. Ich zumindest nicht.

Warum wird eigentlich überall dieselbe Debatte um Identität geführt?
Könnte das mit der Angst vor laufenden Veränderungen zu tun haben, mit der Deindustrialisierung von Europa? Angst vor Migration ist nicht der Grund dafür, glaube ich. Was wir als Einwanderung nach Mitteleuropa erleben, ist mit Ausnahme weniger zugespitzter Monate im Jahr 2015 eigentlich normal – der Normalfall der letzten 150 Jahre. Deswegen hat ja ein Drittel aller Schweizerinnen und Schweizer einen Elternteil, der im Ausland geboren ist. Und das ist in den umliegenden Ländern genauso. Wenn Sie im Wiener Telefonbuch blättern, sehen sie an den Nachnamen eineinhalb Jahrhunderte Einwanderung. Das ist eine Erfolgsgeschichte – und das Zürcher Telefonbuch liest sich ganz ähnlich. Na so eine Überraschung! (lacht)

Am 1. August reden wir aber nach wie vor von Wilhelm Tell. Sind daran wirklich nur die cleveren Historiker aus dem 19. Jahrhundert schuld?
Die Historiker, die 1890 geschrieben haben, die Wurzeln der Schweiz stammten aus dem 13. Jahrhundert, haben selbst nicht an die Existenz von Tell geglaubt. Denn über den gab es keine Belege in den Quellen. Erst in den 1930er-Jahren hat man ihn unter politischem Druck als Helden wieder hervorgeholt. Das Verhältnis zwischen Fiktion und Geschichte ist ein Verschiebebahnhof: Etwas, woran ältere Historiker nicht geglaubt
haben, kann ohne Weiteres von jüngeren Historikern wieder geglaubt werden, wenn sich die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. 1890 glaubten sie nicht an den Tell, aber an Winkelried. Vergessen Sie nicht: Geschichte ist ein grosser Malkasten mit vielen schönen Buntstiften. Je nach Kontext wird die eine Figur stärker betont oder die andere. Dass es eine Figur wie Winkelried nie gegeben hat, das war für die Kollegen der 1880er-Jahre unvorstellbar.

Die haben an Winkelried geglaubt, weil sie es nicht besser wussten?
Weil die Überlieferung für sie belastbar genug war. Dann kam in den 1980er-Jahren ein junger Schweizer Historiker namens Guy Marchal und schaute sich die Quellen genau an. Und stellte fest: Der Held wurde nachträglich installiert, fast 140 Jahre nach der Schlacht, in der er gefallen sein soll. Und zwar in einer ganz konkreten politischen Situation, in der man einen wie Winkelried brauchte.

Und welchen Stift zückt man am 1. August 2019 aus dem Malkasten?
Das weiss ich nicht. Man könnte dabei an die wechselnden Bewertungen einer Figur wie Paul Grüninger denken, der während des Zweiten Weltkriegs illegal Flüchtlinge ins Land gelassen hatte, deswegen verurteilt wurde und erst ganz zögerlich in den 80er- und 90er-Jahren rehabilitiert wurde – der könnte ein Held werden. Ein Held ist deswegen ein Held, weil er ein Problem löst, das seine Erzähler haben. Für die Probleme der Geschichtserzähler der 2020er-Jahre werden sich schon frische Heldinnen und Helden finden. Ich bin da zuversichtlich.