Nestbeschmutzer Lehmann

5. August 2019, Nora Leutert

Lokalpatriotismus: Wie stark ist die Liebe zur Schaffhauser Heimat auf Facebook? Ein journalistisches Experiment.

Christoph Lehmann ist traurig. Und grantig, das sowieso. Aber im Moment vor allem traurig. In der Facebook-Gruppe Du bist ein Schaffhauser/in wenn du….. wurde ihm in den vergangenen Tagen gehörig aufs Maul gegeben. Dabei hat er nur sein Bedauern über die Verschandelung des Heimatkantons geäussert. Ein Shitstorm sondergleichen ist über Christoph Lehmann hereingebrochen. That escaleted quickly, das ist schnell eskaliert, stellten verschiedene Zaungäste des öffentlich ausgetragenen Streits fest. Wie konnte es nur so weit kommen, dass dieser Mann so sehr gescholten wurde?

Die Gruppen
Es ist emotionales, vermintes Gebiet, in das sich Christoph Lehmann begeben hat. Die Facebook-Gruppe Du bist ein Schaffhauser/in wenn du….. ist eine von vielen ihrer Art. In der Region gibt es einige andere, ähnlich benannte lokale Facebook-Gruppen, etwa für Diessenhofen, Feuerthalen, Thayngen oder für Neuhausen. Die digitalen Lokalgruppen dienen:

  1. Der Suche. Nach einer verschwundenen Katze, nach ehemaligen Klassenkameraden.
  2. Der Trauer. Um die schliessende Migi (Migros)-Filiale etwa.
  3. Der Information. Über alles.
  4. Der Empörung. Über das Gemeindepersonal beispielsweise. – «Interessant, wenn eine Privatperson nach dem Heckenschneiden nicht sofort aufräumt, kriegt Sie sicher Ärger. Wenn aber die Gemeindegärtnerei das Gleiche tut, kann der Abschnitt auch übers Wochenende auf der Strasse liegen bleiben.»
  5. Zu guter Letzt, und vor allem: Der Freude. Über das wunderschöne Schaffhauserland.
Beitrag in der Facebook-Gruppe «Du bisch en Neuhuuser, wenn de Rhyfall i Dim Herz ruuschet».

Der Lokalpatriotismus
All diese Ankerpunkte des menschlichen Zusammenlebens – gemeinsames Suchen und Trauern, geteiltes Wissen, Empörung und Freude – verbinden sich in diesen Facebook-Gruppen mit dem Heimatlichen. Die Gruppen sind ein geschützter Hafen des Lokalpatriotismus und ein Auffangbecken für digital verirrte Schaffhauser Seelen. Hier findet jede Bürgerin und jeder Bürger ein sicheres Plätzchen, eine vertraute heimische Community, die so vielfältig ist, dass es einen nur freuen kann. Denn, egal ob alt oder jung, die digitale Gemeinschaft wird durch die Liebe zu Schaffhausen zusammengehalten.

Die Antithese
Nur eine lokale Facebook-Gruppe stört das ungetrübte Bild eitel Sonnenscheins. In der Gemeinschaft Du bisch vo Thäynge, wenn: werden nicht nur Knorrli-Bilder geteilt – also schon auch –, aber nein, es werden auch mal in aller Öffentlichkeit Nachbarschaftsfehden ausgetragen. Es kommt vor, dass sich Gruppenmitglieder hier bis aufs Blut bekriegen, sodass regelmässig die Kommentarfunktion gesperrt werden muss. Statt lokalpatriotischem Zusammengehörigkeitsgefühl herrscht Häme. Leute beschimpfen sich wüst, bezeichnen die Beiträge der andern als «permanent gequirlte Scheisse» oder empfehlen sich, «d Schnurre nid so gross und dumm ufzrisse». Das Beispiel Thayngen lässt die Abgründe der lokalen Facebook-Gruppen erahnen. Sodass man sich fragt: Wie steht es im Ernstfall um die Liebe zur Heimat? Wie stark ist sie wirklich?

Der Feind
Christoph Lehmann ist neues Mitglied der Facebook-Gruppe Du bist ein Schaffhauser/in wenn du….. . Er hat 35 Facebook-Freunde. Alter: unbekannt. Profilbild: unmissverständliche Liebe zum Vaterland. Christoph Lehmann ist strammer Patriot, Griesgram, Reaktionär. Er ist unser Mann auf Facebook. Ein Alter Ego der AZ, um einen Beitrag in der Facebook-Gruppe Du bist ein Schaffhauser/in wenn du….. zu schreiben (siehe Bild).

Politische Agenda von Christoph Lehmann? Schwierig zu sagen. Lehmann lässt sich nicht in die Karten schauen. Er beleidigt das Schaffhauser Landschaftsbild («alläs zuepflaschtered mit blöck») ebenso wie den beliebten Event Stars in Town und zieht zudem noch den unpassenden und undurchsichtigen Vergleich von Schaffhausen mit Spreitenbach heran («chasch grad so guet uf Spreitebach go wohne oder so macht kan unterschied»). Christoph Lehmann ist vieles, aber vor allem eins: Ein Nestbeschmutzer.

Beitrag in der Facebook-Gruppe «Du bisch vo Thäynge, wenn».

Der Angriff
Christoph Lehmann geht am Freitag, 26. Juli, 15.02 Uhr live mit seinem Rundumschlag gegen Schaffhausen in der Gruppe Du bist ein Schaffhauser/in wenn du…...

Der Beitrag schlägt ein wie eine Bombe. Nach wenigen Sekunden kommt bereits die erste Reaktion von einem anderen Gruppenmitglied. «Mimimi», so der Kommentar. Übersetzt: Ich äffe dich nach in deiner Nörgelei, die echt unnötig ist.

Die hitzige Diskussion in der Kommentarspalte ist hiermit eröffnet. Nach wenigen Minuten stürzen sich bereits zahlreiche Kommentarlawinen unterhalb von Christoph Lehmanns Beitrag hinunter. Sie verurteilen unser Alter Ego und verteidigen Schaffhausen als wunderschönsten, idyllischsten, lebenswertesten Fleck, der sich sehr positiv entwickelt und der sehr, sehr viel zu bieten habe.

Auch wenn Christoph Lehmann wollte: er hätte die Diskussion schon nach einer Minute nicht mehr unter Kontrolle. Er versucht es aber gar nicht erst, sondern zieht sich nur mit resignierten Worten aus der Diskussion zurück. Denn diese ist längst ein Selbstläufer. Enorme Zustimmung (70 Likes) erntet ein besonders kreativer Kommentator: «okay und das muess etz ganz schaffhuse wüsse, dass dir das ufem Herzli liit? mis Büsi het mer gester uf de Teppich kotzed.. und das, obwohl 98% vom Huus us Laminat bestaht!!!!!»

Es entfacht sich unter diesem Kommentar ein scherzhaftes Nebengespräch über Teppichreiniger. Und über das Teppich-Reiniger-Kaufen im Deutschen. Und über das Verurteilt-Werden für das Teppich-Reiniger-Kaufen im Deutschen. Gute Stimmung entsteht, die sich zu einem unzerstörbaren Wir-Gefühl verdichtet. Die Kommentarlawine rollt immer weiter, Moderatoren schalten sich ein mit Bildern, welche den Diskussionsverlauf kommentieren (Comicmaus beim Kinopopcorn-Futtern).

Die Stunde der Opportunisten
Wie in jedem Klima von Chaos und Umbruch riechen auch hier die Opportunisten Lunte. Werbetreibende schleichen sich in die Diskussion ein. Clubbetreiber und Veranstalter Luciano die Fabrizio (Cuba Club, Flügelwest) schaltet Bilder für seine Events in den Kommentaren, was sehr begrüsst wird von den Gruppenmitgliedern.

Ein einig Volk
Christoph Lehmann kommt bis zum Ende der 146 Kommentare nicht aus der Schusslinie. Immer wieder gelangt die Forderung an ihn, er könne ja aus Schaffhausen verschwinden, wenn es ihm nicht passe. Das scheint vor allem auf den Vergleich Schaffhausens mit Spreitenbach zurückzugehen: ein Affront sondergleichen für die Schaffhauserinnen und Schaffhauser. Sowohl für links als auch für rechts. Denn es zeigt sich: Christoph Lehmann wird auch für seine politische Gesinnung gescholten: für seine mutmassliche Ausländerfeindlichkeit, für seinen Konservatismus.

Menschen unterschiedlicher politischer Couleur verschwestern und verbrüdern sich hier in der Liebe zur Heimatstadt und -region. Es werden ganze gesellschaftsphilosophische Essays geschrieben in den Facebook-Kommentaren, es entfalten sich kleine politische Debatten, wobei die Diskussion immer in einem freundschaftlichen Rahmen bleibt, angesichts des grösseren Feindes: des Nestbeschmutzers Lehmann.

Die Heimatliebe wird hier nicht als die kleine Schwester des Patriotismus angeschaut. Es geht um das ganz Nahe, Eigene, Selbst-Erfahrene, und nicht um mehr, so scheints. Lokalpatriotismus, das ist vorzeigbarer als Patriotismus.