«Einseitig und fiktiv»

25. Juli 2019, Mattias Greuter
Foto: Peter Leutert
Foto: Peter Leutert

Der ­Tages-Anzeiger kolportiert unkritisch die Filz-Theorie eines ver­zweifelten Vaters. Die Mutter ist schockiert.

Es ist eine traurige Geschichte, die der Tages-Anzeiger am 1. Juli 2019 publiziert: Ein geschiedener Vater darf seine Kinder nicht mehr sehen und ist verzweifelt. Sein Besuchsrecht wurde gestrichen, nachdem die Kinder aussagten, sie wollten ihren Vater nicht mehr sehen. Er glaubt, dies sei die Folge von monatelanger Manipulation durch die Mutter. Ausserdem erzählt er dem Tages-Anzeiger, die Kesb-Präsidentin sei befangen (https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/ein-leben-ohne-die-eigenen-kinder/story/20120078).

Der Fall, im Tages-Anzeiger prominent auf Seite 3 platziert und geschildert von der stellvertretenden Inland-Chefin und Medienjournalistin Claudia Blumer, spielt im Kanton Schaffhausen. Die Kesb-Präsidentin ist Christine Thommen, ihre Partei ist die SP. Die Behörden kommen im Artikel schlecht weg, der Vater gut. Seine Geschichte ist glaubwürdig, weil er der Zeitung «alle Unterlagen» überlassen habe. Doch die Geschichte hat eine andere Seite.

Die Mutter, die diese andere Seite erzählen könnte, hat auf die Anfragen des Tages-Anzeigers nicht reagiert. Laut ihrer Beschwerde fasste sie die Anfrage der Journalistin so auf, dass sie nur eine Stellungnahme zu Unterstellungen des Vaters hätte abgeben sollen.

Doch nachdem sie den fertigen Artikel liest, wendet sie sich an die AZ.

Beschwerde an den Ombudsmann
Die Mutter sagt, sie sei erschüttert darüber, dass diese «einseitige und zu grossen Teilen fiktive» Geschichte im renommierten Tages-Anzeiger erschienen sei. In einer Beschwerde an den Tamedia-Ombudsmann, die der AZ vorliegt, rügt sie 14 Aussagen des Artikels als nicht den Tatsachen entsprechend oder objektiv überprüfbar und falsch. Sie nimmt an, ihr Ex-Mann habe den Tages-Anzeiger selektiv mit Akten versorgt, und schickt Belege mit, die das aufzeigen sollen, was er verschweigt.

Keine Erwähnung findet im Tages-Anzeiger etwa, dass die Trennung erfolgte, nachdem die Mutter wegen häuslicher Gewalt die Polizei gerufen hatte. Ein der AZ vorliegender Strafbefehl belegt: Der Vater beschimpfte die Mutter und die eintreffende Polizei heftig, verletzte einen Polizisten mit einem Faustschlag und biss einen anderen Polizisten beim folgenden Gerangel in den Oberschenkel. Der Artikel «Tobender Mann beisst Polizisten ins Bein» ist noch immer auf der Website des Tages-Anzeigers zu finden (https://www.tagesanzeiger.ch/panorama/vermischtes/Tobender-Mann-beisst-Polizisten-ins-Bein/story/21835113). Aus dem Strafbefehl geht auch hervor, dass der Vater mehrmals gegen ein in der Folge verhängtes Rayon- und Kontaktverbot verstiess. Er verbrachte die Nacht im Gefängnis und wurde wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie wegen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen verurteilt. Das Verfahren wegen häuslicher Gewalt wurde hingegen eingestellt, weil die Mutter die Anzeige zurückzog. Sie sagt der AZ, ihr Mann habe gedroht, seinen Job zu kündigen und sie finanziell fertig zu machen.

Während des vierwöchigen Kontaktverbotes zog die Mutter mit den Kindern aus. Im ­Tages-Anzeiger aber steht zur Trennung nur: «Nach sieben Jahren trennen sich [der Vater] und seine Frau, er zieht aus.»

Ein SP-Filz soll am Werk sein
Der Vater hat seine Ex-Frau, Beistände und Kesb-Mitarbeitende seither immer wieder mit Klagen überzogen. Der AZ liegen mehrere Einstellungsverfügungen und Urteile vor: Er blitzte immer wieder bei der Staatsanwaltschaft ab, verlor vor Obergericht, verlor vor Bundesgericht. Der Tages-Anzeiger schreibt: «Er habe alles versucht, alle seine Möglichkeiten ausgeschöpft.» Doch mehrere von ihm angestrebte Verfahren sind noch hängig.

Um die Filz-Theorie des Vaters zu widerlegen, braucht es keine Akten, sondern nur ein Telefon.

Der Artikel von Claudia Blumer gibt zudem einen schwerwiegenden Filzvorwurf wieder: «[Der Vater] ist auch überzeugt, dass die Kesb-Präsidentin befangen ist, weil sie in der gleichen Partei ist wie seine Ex-Frau, der Anwalt der Ex-Frau und seine Ex-Schwiegereltern. In einer mittelgrossen Stadt, wo man sich kennt. Er glaubt, dass seine Beschwerden beim Obergericht deswegen abgelehnt wurden, weil auch die Obergerichtspräsidentin, die den Fall behandelte, in derselben Partei sitzt.»
Ein SP-Filz aus Mutter, Kesb-Präsidentin und Obergerichtspräsidentin soll sich verbündet haben, um die Kinder vom Vater fernzuhalten: Ein happiger Vorwurf, doch die Tages-Anzeiger-Journalistin verzichtet auf eine Überprüfung. Um ihn zu widerlegen, hätte sie keine Akten gebraucht, sondern nur ein Telefon.

Obergerichtspräsidentin Annette Dolge ist nicht Mitglied der SP, sondern der FDP. Die Mutter sagt, sie sei parteilos. Kesb-Präsidentin Christine Thommen trat 2017 aus der FDP aus und wurde 2018 SP-Mitglied.

«An den Haaren herbeigezogen»
Thommen wurde vom Tages-Anzeiger nicht kontaktiert. Gegenüber der AZ nimmt sie Stellung, soweit es das Amtsgeheimnis erlaubt. Dass die Beistände nichts gebracht hätten, wie im Artikel dargestellt, stimme nicht. Die Beschwerde der Mutter an den Tamedia-Ombudsmann liegt auch Thommen vor, und sie stützt diese Darstellung in Bezug auf die Arbeitsweise der Kesb: «Was die Arbeit der Kesb angeht, geben unsere Akten diesen Verlauf der Dinge wieder.» Zum Fall darf sich Thommen inhaltlich nicht äussern.

Wohl aber zum Filzvorwurf: «Ich kannte die Mutter nicht, bevor ich diesen Fall übernahm. Wir haben hier wie immer in Kindesschutzfällen einzig das Kindeswohl im Auge. Wir sind weder mit dem Vater noch mit der Mutter verbündet, sondern mit den Kindern – und Kinder sind in keiner Partei.» Die Vorwürfe des Vaters, sie sei befangen, seien «an den Haaren herbeigezogen». Mehrmals habe er diese Theorie auch vor Gericht vorgebracht, und das Gericht habe immer festgehalten, dass es keine Anhaltspunkte für eine Befangenheit gebe. Dies zeigen auch Entscheide, die der AZ vorliegen. Das Bundesgericht schreibt von «polemischen Ausführungen und Unterstellungen», die bereits das Obergericht «mangels greifbarer Anhaltspunkte» zurückgewiesen habe.

Anruf beim Vater. Er habe dem Tages-Anzeiger alle Akten gegeben, sagt er und bietet diese auch der AZ an. Er erhebt mehrere sehr private und nicht überprüfbare Vorwürfe gegen seine Ex-Frau und wiederholt seine Filz-Theorie, er spricht von einer «SP-Gangsterbande», von kriminellem Vorgehen der Kesb.

Er ist überzeugt, das Kesb-Präsidentin Christine Thommen bald des Amtes enthoben werde, es würden Untersuchungen gegen sie laufen und die Justizkommission habe Ermittlungen aufgenommen. Dies widerlegt Peter Scheck, SVP-Kantonsrat und Präsident der Justizkommission: «Das stimmt natürlich nicht, der Vater bringt hier einiges durcheinander.» Man habe sich die Sache kurz angeschaut und dem Vater dann zuständigkeitshalber mitgeteilt, er müsste sich an die Gerichte wenden.

«Verleumdung», «Kindesmissbrauch»
und eine kriminelle
«SP-Gangsterbande»

Der Vater erzählt der AZ seine Version der Geschichte, wie er sie auch dem Tages-Anzeiger erzählt hat: Die Mutter habe die Kinder so lange manipuliert, bis sie sagten, sie wollten ihn nicht mehr sehen. «Erst die Kohle, dann die Kinder», das sei der Plan seiner Ex-Frau gewesen, unterstützt von der Kesb. Er sieht sich als Opfer einer Verleumdungskampagne seiner Ex-Frau und droht der AZ mit einer Klage.
Der Vorwurf der häuslichen Gewalt: Verleumdung. Er hat sie deswegen mehrmals angezeigt, doch die Staatsanwaltschaft schickte ihm Einstellungs- und Nichtanhandnahmeverfügungen, die der AZ vorliegen.

Auch Verstoss gegen das Rayonverbot: Verleumdung, sagt der Vater, obwohl der AZ der entsprechende Strafbefehl vorliegt.

Er sagt, eine Beiständin und die zuständige Mitarbeiterin des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienstes (KJPD) könnten bestätigen: Was die Mutter mache, sei Kindesmissbrauch.

Der Vater hat der AZ den Namen der Beiständin genannt, die sich auf Anfrage Kesb-kritisch zeigt. (Korrigendum: Die Berufsbeistandschaft hat die AZ nach Publikation des Print-Artikels darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der vom Vater genannten Frau nicht um die Beiständin handelt.)

Der KJPD äussert sich nicht und weist auf die Schweigepflicht hin.

Der Vater schickt der AZ einen KJPD-Bericht, denn dieser zeige auf, dass die Kinder von der Mutter schwer beeinflusst und gefährdet seien. Doch der Bericht sagt dies nicht aus und ergreift keine Partei: Beiden Elternteilen liege das Wohl der Kinder äusserst am Herzen.

Die Mutter widerspricht gegenüber der AZ dem Vorwurf, sie habe die Kinder manipuliert. «Der Wunsch, den Vater nicht mehr zu sehen, ging von meinen Kindern aus», sagt sie. Sie habe zunächst aktiv darauf hingearbeitet, dass die Kinder ihren Vater weiterhin am Wochenende besuchten. Auf Vorschlag der Kesb wurde ein Kinderanwalt eingeschalten. Entsprechend dessen Antrag entschied das Obergericht, das Besuchsrecht zu sistieren: Derzeit würden Besuche beim Vater das Kindeswohl gefährden und auch die Beziehung zwischen Vater und Kindern verschlechtern.

«Ohne Anspruch auf Richtigkeit»
Der Artikel von Claudia Blumer stützt die Version des Vaters und nimmt keine kritische Hinterfragung vor, die auch ohne eine Stellungnahme der Mutter möglich gewesen wäre.

Claudia Blumer nimmt zunächst keine Stellung, weil die Beschwerde der Mutter beim Tamedia-Rechtsdienst und beim Ombudsmann hängig ist. Auf Nachfrage antwortet sie summarisch: «Die Motivation, diesen Artikel zu publizieren, war der Umstand, dass die Kinder ihren Vater nicht mehr sehen wollen und die Behörden kapitulieren müssen. Mein Ansinnen war es, herauszufinden und darzustellen, wie häufig so etwas vorkommt, was aus Sicht der Fachleute die Gründe dafür sind und welche Handlungsmöglichkeiten Behörden in solchen Fällen haben. Dieser Kern der Geschichte stimmt, er wird von niemandem verneint.» Gegenseitige Vorwürfe der Eltern habe sie bewusst weggelassen, weil sie sie nicht überprüfen könne.

Und dann schreibt Claudia Blumer diesen Satz, der überhaupt nicht zum Qualitätsanspruch des Tages-Anzeigers passen will: «Die Geschichte ist sinngemäss möglichst nahe an der Wirklichkeit erzählt, aber ohne Anspruch auf Detailtreue oder gar Richtigkeit der Angaben.»

Der Artikel endet mit einer Beschreibung der letzten Begegnung des Vaters mit seinen Kindern. «Sie weinten als er ihnen beim Abschied sagte, dass er sie liebe und vermisse und jeden Tag an sie denke. Dann ist er gegangen.» Auch hier gibt es eine andere Version: Laut der Mutter hielt er sich bei dieser Begegnung nicht an die Anweisungen der Beiständin, und es seien die Kinder gewesen, die den Vater baten, zu gehen.