Andri Beyeler gewann den diesjährigen Contempo-Preis. Endlich! Zu Besuch bei einem grossgeistigen Pedanten.
Es gab eine Zeit, es waren die Nullerjahre, da schnupperte Andri Beyeler die Luft des grossen Erfolgs. Einladung an die Autorentheatertage nach Hamburg, Hausautor am Nationaltheater Mannheim, Engagements am Staatstheater Stuttgart, Schreibwerkstätten in Wiesbaden, Leipzig, Wien. Er gewann den wichtigen Brüder-Grimm-Preis, den Deutschen Jugendtheaterpeis, die Kritiker überschlugen sich. Sein Kindertheaterstück Die Kuh Rosmarie hiess plötzlich A vaca Rosemeire, Krava RuŽica, De Koe Rozemarijn oder La Vache Rose-Marie und wurde in Brasilien und Indien aufgeführt.
Da tauchte also plötzlich dieser junge Mann aus Schaffhausen auf, Mitte 20, mitten im Studium, voller Sturm und Drang, mit einer ganz eigenen Sprache, einem eigenen Rhythmus – und alle waren hin und weg.
In solchen Momenten malt man sich zwangsläufig aus, wo das alles noch hinführen könnte, gibt sich den einen oder anderen Träumen hin. Doch meist kommt es am Ende ganz anders. Und dann gilt es erst einmal, das Loch zu überwinden, das sich vor einem aufgetan hat.
Ein Jahrzehnt zuvor, am 6. Juli 1996, titelten die Schaffhauser Nachrichten: «Alle 127 Maturanden haben die Prüfungen erfolgreich bestanden». Es folgte eine Liste mit den Namen der frischgebackenen Mittelschulabgänger, und in Klammern konnte man in ihre Zukunft sehen: Pharmazie, Germanistik, Wirtschaft, Maschinenbau, stand da. Bei Andri Beyeler stand «offen». Klar war für den 20-Jährigen nur, dass sein Leben nie auf Wohlstand ausgerichtet sein wird. Und was er mag: Sprache.
Seit den Anfängen des Jugendclubs Momoll 1993 stand Beyeler regelmässig als Schauspieler auf der Bühne. Schon als 10-Jähriger hatte er eigene Welten konstruiert, ein Land namens Nümga gegründet, alle fanden es toll, sogar die Eltern spielten mit. Doch das Theater, das ihn zwischenzeitlich gross machen sollte, lief damals noch eher nebenher. Wichtiger, weil freier, weil ohne starre Strukturen, war für den Teenager Andri die Musik.
An einer Projektwoche an der Kanti mit dem klingenden Namen «Pop meets Folklore» lernte Beyeler Samie Witzig kennen. Die beiden teilten ihre Faszination für die Hamburger Schule. Linke Bands wie Blumfeld brachten Anfang der 90er ein neues Selbstverständnis für die deutsche Sprache in die Popmusik. Sie kamen vom Punk, hatten aber – die Anspielung auf die Frankfurter Schule kam nicht von ungefähr – einen hohen intellektuellen Anspruch, fühlten sich wohl in Gesellschaftskritik und Postmoderne.
Beyeler und Witzig nannten sich fortan Christine lacht dazu und spielten einige Konzerte, eine kleine Tournee in der Deutschschweiz.
«Ich habe so getan, als würde ich singen und dazu Handorgel gespielt und Bedarfsgitarre», fasst Beyeler die rund drei Jahre zusammen. «Meine eigentliche Hauptleistung war, dass ich die Hybris hatte, auf diese Bühnen zu stehen und das Mikrofon in die Hand zu nehmen. Immerhin, meine Ansagen waren wohl nicht so schlecht.»
Samie Witzig lacht herzlich, als er das hört: «Andri ist ein Meister des Understatements.» Er sei durchaus ein sehr musikalischer Typ gewesen. Aber ja, in erster Linie habe Andri Texte geschrieben. «Er hatte einen extrem hellen Kopf. Ihm war schon immer sehr wichtig, sprachlich alles auf den Punkt zu bringen.» Entstanden sind Texte voller Sehnsüchte, Liebe, Traurigkeit und Existenzialismus.
Im Grunde ging es vielleicht weniger um die Musik als ums Erwachsenwerden. Und um die Mädchen, sagt Witzig, die sie mit ihrer geheimnisvollen Aura hätten betören wollen. Oft diskutierten die beiden stundenlang, über ein Problem, das Samie gerade hatte, und dessen Lösung Andri über ellenlange Exkurse in Kunst und Musik herleitete. Der Freund, sagt Witzig, sei sich und seinen Idealen immer treu geblieben. Habe sich nie verbiegen lassen, auch wenn das oft einfacher gewesen wäre.
Nischen statt Mainstream
Neben der Musik zeichnete Beyeler mit Inbrunst Comics. Hans-Peter Mullis habe damals im Fass eine Comic-Galerie ins Leben gerufen. Das sei grossartig gewesen, alle drei Wochen eine Ausstellung, «richtig gutes Zeugs!», Anke Feuchtenberger, Anna Sommer, aus Schaffhausen Roman Mäder, Remo Keller, Mark Paterson, Andri Beyeler. Eine Zeit lang habe er sogar ein wenig Geld dafür bekommen; in der Fraz, der Kulturbeilage der Schaffhauser AZ, erschienen zwischen 1997 und 1999 Beyeler-Comics.
«Ich war damals Teil einer Nicht-Mainstream-Kultur. Man las nicht Thomas Mann, hörte nicht Hitparade. Scherte sich nicht um Geld.» Und mit «war» meint Beyeler «bin». Damals wie heute sucht er sich Nischen, die andere nicht bespielen – oder gar nicht erst erkennen.
Seit Ende 2018 schreibt er in der AZ eine Kolumne über das Leben des Berner Druckers und Kommunisten Fritz Jordi. Das kam folgendermassen – und zeigt vielleicht ein wenig, wer Beyeler heute, mit 43 Jahren, ist.
Während der Vorbereitungen auf seine Abschlussprüfungen an der Universität begegnete Beyeler immer wieder Robert Trösch, einer wichtigen Figur des Arbeitertheaters der 30er-Jahre. Nach dem Lizenziat hatte Beyeler Mühe, ins Schreiben hineinzukommen – da war das besagte Loch –, und begann, um die Zeit totzuschlagen, zum besagten Schauspieler und Regisseur zu recherchieren.
Andri, bist du eigentlich Kommunist?
«Uuh … das würde ich nicht sagen. Stalin hat einem den Kommunismus schon ziemlich verdorben. Ich bin Sozialist. Oder um es in den Worten von Matto Kämpf zu sagen: Natürlich wählen wir links, wir sind ja nicht blöd.»
Dienst du der guten Sache?
«Ich hoffe es, ja. Meine Arbeit soll, etwas pathetisch gesagt, die Menschen bereichern. Und wenn sich die Leute einen Gedanken mehr machen oder zwei, und dadurch ein wenig schlauer werden, dann glaube ich, habe ich das erreicht.»
Jedenfalls fragte sich Beyeler nach dem Liz: Was heisst es eigentlich, «links» zu sein? Was bedeutet «Gegenkultur»?
So stiess er über Trösch und das Arbeitertheater auf die Zeitung der Volksbühne Zürich und gelangte über einen Reprint derselben zu
Fontana Martina, einer Zeitschrift mit siedlungstheoretischen und antifaschistischen Beiträgen. Dort wiederum fand Beyeler Holzschnitte eines Künstlers namens Clément Moreau, den er aus dem Comic-Magazin Strapazin kannte, das er bereits als Teenager im Bücherfass entdeckt hatte. Das Fontana Martina gab ein gewisser Fritz Jordi heraus. Also tippte Beyeler im Bundesarchiv auf gut Glück den Namen Fritz Jordi in den Computer ein. Seither lässt ihn der Mann nicht mehr los. Und die kleine ehemalige Arbeiterzeitung in Schaffhausen, entstanden in derselben Zeit wie die diversen «Blättli», die Jordi gegründet hatte, sei für die Aufarbeitung dieses Stoffes – trotz geringer Entlöhnung – genau das richtige Medium. «Ausserdem war ich schon immer ein grosser Zeitungs-Aficionado.»
Ist das nun falsche Bescheidenheit? Mitnichten. Eher zeigt die Episode Jordi, dass der Autor das Loch, vor dem er nach seinem Erfolg in den Nullerjahren stand, nun offenbar sachte überstiegen hat. Mit einer neu entdeckten Gelassenheit.
Plötzlich wieder da
Vor zwei Wochen gewann Andri Beyeler den Contempo-Preis. Endlich! Zweimal war er bereits nominiert, einmal als 19-Jähriger, einmal Mitte der Nullerjahre, als er durch die Decke ging. Doch damals stand ihm Slampoet Gabriel Vetter im Weg, der halt auch durch die Decke ging. Vielleicht ist es bezeichnend, dass es diesmal mit einem Text klappte, dan er ohne grosse Erwartungen erarbeitet hat, zusammen mit seiner Schwester, der Tänzerin Tina Beyeler, mit der er 2003 die Tanz-Theater-Gruppe Kumpane gegründet hatte.
Als nach dem grossen Beyeler-Hype der Erfolg plötzlich ausblieb, persönliche Schicksalsschläge hinzukamen und sich die Aufmerksamkeit der Szene anderen Autorinnen und Autoren zuwandte, versuchte Beyeler, weiterzumachen. Doch auch seine Arbeit selbst harzte.
Contempo-Laudator Jürg Schneckenburger, Schaffhauser Theater-Institution, ehemaliger Mentor und noch immer guter Freund Andri Beylers, betonte bei der Preisverleihung dessen Achtsamkeit: «Wir spüren den Rhythmus, diesen ganz eigenen Beyeler-Sprach-Klang. Und sofort ist uns klar: Da steckt Arbeit dahinter. Da ist einer, vermutlich murmelnd, vor seiner Tastatur gesessen, hat ausprobiert, nachgedacht, umgestellt, verdichtet – nochmal darüber geschlafen.» Nie, sagt Schneckenburger, habe er eine so präzise dramaturgische Analyse einer Prosavorlage lesen dürfen wie Beyelers Adaption von Orwells Farm der Tiere für das Sommertheater 2017.
Doch Beyeler sei auch stur, lasse sich von Regisseuren ungern reinreden. Einige hätten damals nicht mehr mit dem launischen Jungspund arbeiten wollen. Plötzlich war er ein Pedant, obwohl er nie kleingeistig war. Seine Schwester Tina sagt, sie habe manchmal stundenlang mit Andri um ein Wort gestritten: «Meist hatte er eigentlich Recht, konnte es aber nicht so richtig rüberbringen. Die Leichtigkeit ist ihm damals abhandengekommen.» Und jetzt, seit ein paar Jahren, sei sie wieder da, die Leichtigkeit – dank dieser neuen Gelassenheit.
Die Geschichte Spring doch! über ein Mädchen, das den Freunden aus einer Notlage heraus verkündet: «Ich gump hüt Nohmittag vom Dreimeter!» – und sich so in die missliche Lage bringt, das jetzt tatsächlich tun zu müssen, war für Beyeler wohl eine Art Befreiungsschlag. Simpel, entgegen den Szenetrends, ohne grosse Erwartungen.
Won i am andere Änd vo de Wise aacho bi,
leg i mis Tüechli ane
und gang diräkt under Tuschi,
chalt, chalt, chalt,
we immer,
chalt, chalt, chalt,
und denn schtohn i unne am Dreimeterbrätt.
Hoch,
irgendwie scho no hoch,
fascht no chli höcher eigetli,
tänk i.
Wenn d Mami chiem,
wenn etz nu d Mami chiem!
Wär zwor piinlich,
oder mega piinlich sogar,
wenn si mich doh vor allne
zerscht zäme schiisse würd
und denn devo schleipfe.
Aber es gäb allwäg au niemert,
wo da nid verschtiend.
Wenn d Mami futteret,
cha me nüt mache,
isch halt so.
Aber d Mami chunt nid.
Was ihm der Preis bedeute? «Ich kann mir mit dem Preisgeld das GA kaufen», sagt Beyeler, der nach wie vor in einer WG wohnt.
Jubelstürme wird es vom neuen Beyeler wohl nicht mehr geben – dafür war dieses Loch zu gross. Und doch freue ihn dieser Preis natürlich, und er erzählt nicht ohne einen gewissen Stolz, dass er ein Libretto geschrieben habe, das bald in der Staatsoper München aufgeführt werde. «Ich, als Hochkultur-Feind!» Beyeler lacht.