Ein Unfall hat Kujtim in den Rollstuhl gebracht – und ihn vielleicht gerettet.
Am 4. Oktober 2014, es war frühmorgens um halb fünf, fuhr ein Volvo V40 2.0 T in der Beringer Enge viel zu schnell auf eine Kurve zu. Der junge Fahrer hatte weder einen Führerschein noch einen klaren Kopf. Und jetzt war ihm auch noch die Kontrolle über den Volvo abhandengekommen. Die Fliehkräfte rissen den Wagen von der Fahrbahn und schleuderten ihn in eine Hausfassade.
Diese Geschichte kommt Ihnen vielleicht bekannt vor. Vor drei Monaten erzählte die AZ ausführlich den Fall des jungen Fahrers, die Geschichte eines Wiederholungstäters (www.shaz.ch/2019/04/01/immer-weiter-immer-weiter-immer-weiter). Der Unfall brachte ihn nicht nur ins Gefängnis, sondern auch auf diverse Operationstische. Die halsbrecherische Fahrt aber hat noch ein zweites junges Leben aus der Bahn geworfen.
Auf dem Beifahrersitz des Unfallwagens sass Kujtim, ein Kumpel des Fahrers. Die Gerichte sehen es als erwiesen an, dass der Fahrer Kujtim in den Wagen gezwungen hat, bevor er den Zündschlüssel drehte und der wilde Ritt seinen Anfang nahm. Während der Fahrer beim Aufprall durch die Frontscheibe katapultiert wurde, blieb Kujtim im Auto eingeklemmt. Die Ärzte sollten später eine fortlaufende Tetraplegie ab dem 5. Wirbelkörper diagnostizieren. Querschnittlähmung.
Fünf Jahre später, Juni 2019, Besuch in einem unbewohnt wirkenden Häuschen mit kleinem Garten in Büsingen. Die
Familie, die hier lebt, kam nicht aus freien Stücken her. Doch seit fünf Jahren ist sowieso alles anders als geplant.
Der lange Junge, der mit dünner Stimme durch die Tür sagt, man solle doch bitte hereinkommen, sitzt im Rollstuhl, das Gesicht vernarbt, die Beine bewegungslos, die Arme von Lähmungen stark eingeschränkt. Er bittet den Besuch, ihm aus den Therapiehandschuhen zu helfen. Die Finger, sie wollen nicht so, wie der Kopf befiehlt.
Er ist etwas verlegen, den Termin mit der Zeitung hat er vergessen; seit er 20 Tabletten pro Tag schlucke, sei sein Gedächtnis ein Sieb. Das sei jetzt ärgerlich, er habe sich vorbereiten wollen, sich zurechtlegen, was er erzählen wolle. Nichtsdestotrotz redet Kujtim die folgenden zwei Stunden ohne Punkt und Komma. Und erschlägt einen fast mit seinem Elan. Vor Gericht wurde in Kujtims Abwesenheit das Bild eines tragischen Unfallopfers gezeichnet, eines gebrochenen Mannes, der alles verloren hat. Der junge Mann hier scheint gerade ganz ohne Hände Bäume ausreissen zu wollen.
Spricht man mit Verwandten, Therapeutinnen, Bekannten über Kujtim, fällt immer das eine Wort: Kämpfer. Trotz allem habe er nie aufgegeben. Dabei ist seine ganze Biographie ein einziger Knick.
Auf der schiefen Bahn
1999, Kujtim war gerade sechs Jahre alt, fielen serbische Soldaten in das kleine Dorf ein, in dem er aufwuchs. Der Kosovokrieg war eskaliert. Die Familie musste fliehen, urplötzlich, Mutter, Tochter und Sohn rannten um ihr Leben, es blieb keine Zeit, Kujtims Schwester Schuhe anzuziehen. Sie schafften es über die Grenze nach Albanien. Einer Tante hätten Soldaten auf der Flucht beinahe die Hand abgehackt, um an den Ehering zu kommen, der nicht vom Finger gleiten wollte.
Die Familie ging nach Deutschland, wo der Vater bereits lebte. Kujtim lernte einen Vater kennen, der selbst gezeichnet war vom Krieg, der zu dieser Zeit viele Verwandte und Freunde verlor, dessen Kopf mehr in der alten Heimat war, wo er versuchte, die zerstörten Häuser seiner Brüder wiederaufzubauen, als in Büsingen bei der eigenen Familie. Eine schwierige Kindheit. «Es war nicht leicht», sagt Kujtim. Früh musste er lernen, auf den eigenen Beinen zu stehen.
In der Schule in Büsingen hätten sie ihn blutig geprügelt, ihn, den Kosovaren. Freunde habe er nur wenige gefunden, mit neun Jahren sei er von zuhause ausgebüxt, habe zurückgehen wollen in den Kosovo. Schliesslich habe er irgendwo am Rhein unter freiem Himmel geschlafen. Später habe er sich im elterlichen Keller ein Refugium geschaffen, Sandsäcke aufgehängt. Das raue Umfeld verlangte nach einem gestählten Körper.
Irgendwann fand Kujtim Anschluss, bei den coolen Jungs, «ich war kein Engel», sagt er heute. Blödsinn habe er gemacht, Prügeleien in Discos, Drogen. Bilder aus jener Zeit zeigen einen athletischen Teenager, kantiges Gesicht, stechender Blick, die Shirts spannen sich über Muskelbergen, auf dem Oberarm prangt ein Doppeladler. Ein junger Mann mit einem Zuviel an unberechenbarem Testosteron.
Bei einem weiteren Besuch erzählt Kujtim, dass er für den Blödsinn mehrmals im Knast war. Einmal für eineinhalb Jahre, zusammen mit seinen Jungs habe er andere Dealer ausgenommen. Die Polizei durchsuchte das Haus der Familie – fand Dinge, die er nicht haben sollte.
«Gott hat mir eine Lektion erteilt. Der Unfall hat mich gelehrt, die Dinge mehr zu schätzen. »
Kujtim
Dazwischen: Hilfsarbeiten. Rumgetrieben habe er sich in Schaffhausen, aber arbeiten durfte er wegen seines Visums nur in Deutschland. Zuletzt jobbte er bei Georg Fischer in Singen für 12 Euro die Stunde. Lange am Stück arbeitete er nie – was sich für Kujtim noch bitterlich rächen sollte.
«Ich war auf der schiefen Bahn, der Unfall hat mich weggeholt», sagt er einmal in einem Redeschwall. «Gott hat mir eine Lektion erteilt. Der Unfall hat mich gelehrt, die Dinge mehr zu schätzen. Ich hoffe, ich habe nun gebüsst.» Die pathetische Heilsgeschichte, eine von zwei Erzählweisen seines Lebens.
Die andere zeichnet das Bild eines jungen Mannes, der zerstört wurde. Zuerst vom Krieg, dann vom Zufall – und schliesslich vom Staat.
Selber schuld?
Nach dem Unfall lag Kujtim zwei Monate lang im Koma, danach vier Monate an einer Beatmungsmaschine. Der Körper war anfangs vom Hals abwärts gelähmt. Bis der junge Mann seinen rechten Arm wieder bewegen konnte, dauerte es ein halbes Jahr. «Ich dachte, ich sei lebendig begraben.» Noch heute sind auch die inneren Organe von den Lähmungen betroffen, die Atemhilfsmuskulatur, die Lunge, die Bronchien wollen nicht richtig, die Blase auch nicht. Und die Lähmungen führten zu chronischen Infektionen, immer wieder Nierensteine, hohes Fieber. Jahrelang siechte der junge, agile Mann vor sich hin. 2016 sei er ein zweites Mal fast gestorben, eine Lungenentzündung sei so stark gewesen, dass ihm die Ärzte grünen Schleim aus der Lunge pumpen mussten. Irgendwann sei nur noch Blut gekommen. «Es ist nicht menschlich, was ich durchgemacht habe», sagt er. Schmerzen, immer wieder grosse Schmerzen.
Die Versicherung aber lässt ihn hängen. Da der Fahrer des Wagens den Rechtsstreit wegen fahrlässiger Körperverletzung wiederholt verzögerte – er hat sich bis heute nicht für den Unfall entschuldigt –, weigere sich die Versicherung, für die Kosten aufzukommen. Kujtim sagt, sie hätten ihm gesagt, er sei selber schuld, dass er in den Wagen gestiegen sei. Eine andere Versicherung zahle nicht, weil er noch keine zwei Jahre gearbeitet und eingezahlt habe. Auch diese Versicherung habe ihm die Schuld zugeschoben. «Als ob ich mit 16 gewusst hätte, dass ich jetzt erstmal ohne Unterbruch arbeiten müsse, weil ich in einigen Jahren im Rollstuhl landen werde.» Kujtims Schwester sagt, die Familie fühle sich vernachlässigt vom deutschen Staat.
Einmal, als man Kujtim wegen eines Infektes stationär behandeln musste, transportierte man ihn in eine Klinik nach Dresden. Das sei günstiger als eine Klinik in der Region. Dass die Familie 700 Kilometer fahren musste, um ihn zu besuchen, habe niemanden interessiert.
Wenn der junge Mann über seine Familie spricht, spürt man erstmals Hilflosigkeit. Kujtims Selbstbild ist das eines Mannes, der Probleme anpackt, auch jetzt nach dem Unfall. Es ist sein Verständnis als ältester Sohn, als stolzer Mann, der gern erzählt, wie er mit dem Geld, das er als Teenager auf der Strasse erbeutete, heimlich die Rechnungen seiner Eltern beglichen habe. Schlimmer noch als sein eigenes Schicksal scheint es ihn zu belasten, dass er heute anderen zur Last fällt.
Die Familie musste das Haus verkaufen, das sie jahrelang bewohnte, und zog vor einem Jahr in das Häuschen mit kleinem Garten. Hier hat Kujtim im Untergeschoss eine eigene, kleine Wohnung mit ebenerdigem Ausgang – ein kleines bisschen Privatsphäre.
«Nach dem Unfall musste ich
Kujtim
vieles neu lernen. Alles kam mir plötzlich so spannend vor!»
Seine Finger haben Mühe, ein Wasserglas zu halten, er muss angezogen gewerden, braucht Rundumbetreuung. «Und ich habe kein Einkommen.» Er ist gefangen in seinem Körper und glaubt, er vermassle seiner ganzen Familie das Leben. Denn er hat viel Zeit nachzudenken, seit Jahren ist er oft allein: «So sieht mein Leben aus, zocken auf der Konsole», sagt er einmal, nachdem er ins Haus gebeten hat. «Dabei müsste ich ja eigentlich froh sein. Im Kosovo wäre ich wohl schon längst tot. Lieber ein schlechter Tag auf als ein guter unter der Erde.»
«Ich spüre den Wind an meinen Beinen»
Doch es gibt auch den anderen Kujtim. Den, dem Gott eine zweite Chance gegeben hat. Einen jungen Mann, der mit seinem Charme eine Rehaklinik im Sturm erobern kann, auch wenn er der ist, den es am übelsten erwischt hat. Der in Paraplegikertherapien den anderen Patienten Mut macht. Der sagt, er komme gut an bei Frauen, auch jetzt im Rollstuhl. Einen jungen Mann, der über die Jahre gelernt hat, in seine Vergangenheit zu reisen und dort neue Kraft zu tanken. Der während dem Erzählen immer wieder nach oben schaut, innehält, sich erinnert und schmunzeln muss. Der Dinge sagt wie: «Manchmal, wenn die Leute irgendwelche Dinge bereden, denke ich still bei mir: Wenn ihr wüsstet …» Oder: «Nach dem Unfall musste ich vieles von Grund auf neu lernen. Alles kam mir auf einmal so spannend vor!»
Verantwortlich für den Elan dürfte eine zweite ärztliche Diagnose sein: Der Nervenstrang im Rücken wurde beim Unfall nicht durchtrennt, sondern gequetscht. Inkomplette Querschnittlähmung. Die Ärzte sagten heute: Alles ist möglich.
«Ich spüre den Wind an meinen Beinen», sagt Kujtim und betont den Satz wie ein Wunder. Doch seine Genesung brauche Training. Und zwar mehr als die Stunde mit der Therapeutin, die ihn zweimal die Woche besuche. Er schwärmt vom Paraplegiker-Zentrum in Nottwil, von neuartigen Laufrobotern, von einer Privattherapeutin.
Da die Versicherung solche Therapien aber nicht bezahle, versuche er jetzt, selber Geld zu verdienen. Er designe coole Hip-Hop-Klamotten, die er übers Internet vertreiben wolle. (shop.spreadshirt.de/real-qualitat). Bis jetzt sei das Geschäft noch nicht so gut angelaufen, aber das könne ja noch kommen. Sein Label nennt er «Real». Real, echt, wie er selbst.
Doch ist Kujtims grosse Stärke vielleicht gleichzeitig auch sein Problem?
Keine Hilfe erwünscht
«Ich zeige keine Schwäche, ich bin kein Opfer», sagt er immer wieder. «Ich will kein Mitleid und schaue, dass ich selber wieder aus meiner Situation rauskomme.» Das Wort, das genauso häufig fällt wie Kämpfer, wenn man mit Kujtims Bekannten spricht, ist «stur».
Wunder kriegen wir keine hin.
Therapeutin
Seine Therapeutin sagt, Kujtim mache sich sehr gut. Es sei bewundernswert, wie er seine vielen Tiefs durchlaufen habe. Doch er sei unfähig, Hilfe anzunehmen. «Er will unbedingt allein da durch. Und damit tut er sich keinen Gefallen.» Und sie warnt davor, sich allzu grosse Hoffnungen zu machen. Die grössten Therapiefortschritte mache man kurz nach dem Unfall. Bei Kujtim sind bereits fünf Jahre vergangen. «Wunder kriegen wir keine hin.» Sie sagt, dass er darauf hoffen müsse, dass es irgendwann neue Operationstechniken gebe.
Kujtim selbst jedoch ist überzeugt, dass er wieder auf die Beine kommt. Sein Ziel sei, wieder zu boxen, wie früher. Daran arbeite er jeden Tag. Neben seinem Bett hat er Geräte aufbauen lassen für den Muskelaufbau. Wenn er daran sitze, den Gangsterrapper 50 Cent im Ohr oder den Soundtrack zu Rocky, dann fühle er sich frei wie früher, vor dem Unfall.
«2020 komme ich nach Schaffhausen, dann gehen wir was trinken», sagt er zum Abschied.