Was ist der Chläggi-Code? Unser Sonderkorrespondent aus Basel suchte Antworten am Schwingfest in Hallau.
Es hat ein bisschen etwas von einem Initiationsritual, wie dieser Junge sich da im Reigen der alten, knorrigen Männer eine Krumme zwischen die Lippen schiebt, das Ende anbrennt, pafft, das Zündholz wegwirft und ausspuckt. So wie es die andern, die Alten eben, auch tun. Sonntagmittag am Schwingfest in Hallau, die brütende Hitze steht unterm Festzelt.
«Magst denn schon rauchen, bist überhaupt schon konfirmiert?», fragt einer der Alten und haut dem Jungen jovial auf den Rücken, dass es kracht.
«Bin ausgetreten», sagt der Junge trocken und bläst Rauch aus dem Mundwinkel. Die Alten lachen. Prüfung bestanden.
«So gseht me eifach nid uus»
Kurz nach acht Uhr sitze ich am Badischen Bahnhof Basel im Zug nach Schaffhausen und denke schwitzend an Hallau, ans 124. Nordostschweizer Schwingfest. Denke ans Klettgau, oder ans «Chläggi», wie der Volksmund sagt. Aber da ist nichts, keine Assoziation, kein schon-mal-gehört. Gut, das Gerhard-Blocher-Video ist mir bekannt, aber ich kann mir auch vorstellen, dass es samt seinen legendären Zitate den Menschen vor Ort aus dem Hals heraushängt wie warmer Burgunder. Irgendwann ist auch mal genug. Oder?
«So gseht me eifach nid uus», antwortete Gerhard Blocher auf die Frage, warum ihm ein politischer Gegner nicht passe. Weltklasse.
Apropos aussehen: Was zieht man an, um ein Schwingfest zu besuchen? Mit dieser Frage und einer kurzen Hose, schwarzem Shirt, schwarzen Schuhen beginnt in Basel mein Tag. Wie sich herausstellen wird, ist das alles andere als trivial, denn ein Schwingfest im Chläggi ist nur für jene eine niederschwellige Veranstaltung, die sich auskennen. In Tat und Wahrheit sind da zahlreiche Codes, die es einzuhalten gilt. Codes in der Sprache, im Verhalten, beim Rauchen und Trinken, Codes, die sich im Tragen entsprechender Kleider niederschlagen. Der Code steht über allem und umgarnt diese Veranstaltung wie ein feiner roter Faden – wie das unausgesprochene Einverständnis, unter sich zu sein.
Oder wie es der OK-Präsident und Weinhändler René Regli später in seiner Rede am Festakt formulieren wird: «Schwingen ist Anstand, Demut und Sauberkeit. Man fühlt sich sicher, man trifft sich mit ähnlich Denkenden. Das macht diesen Sport so populär.»
Ein Merkmal des Chläggi-Codes sind also Verhaltensregeln, die auch dem Gerhard-Blocher-Zitat innewohnen. So sieht man einfach nicht aus. Das ist er, der Chläggi-Code.
Aber der Code ist ein Schwindler. Er offenbart hie und da feine Bruchlinien in der Idylle und den Grundmauern dieser Urschweizer Schwing-Tradition. Doch der Reihe nach.
Der Hallauer hat Humor, das sehe ich gleich, als ich von Erzingen über Wilchingen-Hallau kommend das Festgelände auf der Nässiwiese erreiche. Auf einem Warndreieck, das am Strassenrand den Verkehr entschleunigt, steht «Schneeräumung». Und das bei gefühlten 40 Grad. Ein Wettergag. Sehr gut.
Schwingen hat die Eigenart, statisch zu wirken und rasend zu sein
Vor dem Einlass zum Stadion geht’s durch das Sponsorenspalier, hier wird das Publikum von links wie rechts mit Werbematerial eingedeckt. Popcorn. Versicherungen. Stumpen. Und einen breitkrempigen Hut im Edelweiss-Look. Ich nehme den Hut und trete ins Stadion ein. Mein erstes Schwingfest. Gänsehaut.
Man macht sich ja als Laie und Gelegenheitsnörgler vor dem TV kein Bild davon, was Schwingen für eine Sportart ist. Bis man einmal in der Nähe des Sägemehls steht und sieht, welche Wucht, welche Power, welche Hebelkräfte da am Werk sind. Schwingen hat diese Eigenart, vollkommen statisch zu wirken und gleichzeitig rasend viel Bewegung abzusondern. Der kleinste Fehler reicht aus, und es wird Staub gefressen. Das macht aus Schwingerpaaren diese bis zum Bersten gespannten Konzentrations- und Energiebündel, die mal nach bereits zwei Sekunden explodieren oder sich bis zum Ablauf der sechs Minuten eines Gangs neutralisieren. Man kann das langweilig finden. Faszination ist angebrachter.
Und dann diese Schwingersyntax, zum Niederknien. Die Platzrichter rufen Dinge ins Mikrofon wie: «Auf Platz drei an der Arbeit sind der Käser Reto mit dem Schlegel Tobi.»
Mindestens so prosaisch liest sich auch die Beschreibung der Schwünge auf der Homepage des eidgenössischen Schwingerverbands, dort heisst es zum Beispiel über den «Bur»: «Hat der Schwinger seinen Gegner zu Boden gebracht, blockiert er mit Gurtgriff seinen Gegner mit dem Oberkörper, umfasst mit der linken Hand das rechte Knie des Gegners, reisst kurz auf, arbeitet sich vorn in den Spalt, fasst hinten Gurtgriff, hebt den Unterkörper des Gegners leicht hoch und überdrückt zum Resultat.»
Ein Regelwerk wie ein Gedicht.
Männergeschichten
Bei den Lebendpreisen treffe ich Edi Schellenberg, er steht da am Gehege und zeichnet mit flüchtigen Bewegungen Pius, den Siegermuni. Schellenberg ist ein ausgesprochen höflicher Herr, stellt sich heraus, mit einer Faszination für Bewegungsabläufe.
«Sehen Sie sich die Schwinger an, achten Sie auf ihre Hände», sagt er. «Man denkt, dass sind grobe Typen, aber ihre Hände arbeiten präzise wie die einer Geigerin», sagt er. «Ich zeichne gerne Hände, aber die Schwinger sind leider immer so schnell. Der Muni hält gottseidank still.»
Herr Schellenberg, was ist für Sie das Chläggi? «Ich bin auch erst vor sechs Jahren aus Schaffhausen zugezogen, aber eins kann ich Ihnen sagen: Die Hallauer kennen keine Pension. Mein Nachbar ist kürzlich mit 94 Jahren gestorben. Er hatte bis ins hohe Alter ein Elektromobil, aber nicht irgendeins, sondern eine Sonderanfertigung, die gerade so breit war, dass sie zwischen die Reben passte. Solcherart sind die Hallauer. Chrampfer bis zum Schluss.»
Das sieht man auch unterm Zelt, wo der Junge die Krumme raucht. Die Alten haben die Hände auf dem Tisch gelegt, und allenthalben fehlt irgendwo ein Stück. Da sind Fingernägel abhanden gekommen oder gleich der ganze Finger, abgerissen von Maschinen oder zerquetscht. Die Männer zeigen die Stummel herum wie Trophäen, und jeder erzählt seine Geschichte. Männergeschichten. Arbeiter- und Schmerzgeschichten.
Im Gabentempel ist die Stimmung heiter, «eine derart gut bestückte Auswahl hat es an einem Schwingfest in ganz Schaffhausen noch nie gegeben», sagt Martin Gugolz vom Gabenkomitee. Da sind Mountainbikes, Föhns, Weine, Liegestühle, Werkzeugkisten, Truhen. Haus- und Hof-Sachen eben. Auf den Gaben sind teilweise die Namen der Spender eingraviert, das fällt natürlich auf deren Ruf im Chläggi zurück. Es ist ein Geben und Nehmen. «Die Tradition will, dass jeder Schwinger sich mit einem handschriftlichen Brief bei dem Spender seiner Gabe bedankt», sagt Gugolz.
Und man würde in dem Augenblick gerne ein Album mit den gesammelten Dankesbriefen für die Gaben aufschlagen. Eine bessere Persönlichkeitsstudie der Schwingerszene hat es womöglich nie gegeben.
Verkaufte Tradition
Über der Nässiwiese wird es langsam Abend. Der Platzrichter bittet den Orlik Armon und den Schneider Domenic zum Schlussgang. Nach 4:42 Minuten gewinnt Orlik durch Kurz/Konter. Ich bestelle mir derweil ein Bier.
Das Schwingfest ist ein breitbeiniger Anlass, rau, nett, bodenständig. Aber beim genauen Hinschauen wird offenbar, dass hier, wie überall, wo das Banner der Tradition über allem weht, um die Wahrung des Scheins Schweizer Qualitäten gerungen wird. Bescheidenheit, Demut, solche Sachen. Da sind die Schwinger, die vor dem Wettkampf ihre blauen Sennenhemden über die Hightech-Funktionsshirts ziehen, für den Look. Da ist der Gabentempel im Wert von insgesamt über 100 000 Franken, aber die Schwinger bedanken sich handschriftlich. Da ist der Top-Schwinger Sämi Giger, der keine Sponsorenverträge abschliesst und darum grossen Respekt bei den Zuschauerinnen und Zuschauern geniesst – die wiederum alle mit Migros-gesponserten Krempenhüten im Schwinger-Look auf der Tribüne sitzen.
Die Kommerzialisierung der Tradition hat auch hier voll zugeschlagen, sorry, Hallau. Aber solange man dazu Krumme rauchen kann, geht’s eigentlich.
Daniel Faulhaber ist freier Journalist in Basel. Er schrieb u. a. für die Tageswoche.