Filmreife Glamour-Ganovin

27. Juni 2019, Mattias Greuter
1982: Sidonie S. auf dem Weg zum Gericht. Archivfoto: Hansueli Gassmann

Eine clevere Buchhalterin ergaunert Millionen und führt ganz Schaffhausen hinters Licht: Der «Breitenauskandal» von 1981.

Über Nacht wird aus der bewunderten Grande Dame die verhasste Betrügerin, als der «Breitenauskandal» Anfang der Achtzigerjahre auffliegt. Die Geschichte der Hochstaplerin Sidonie S. handelt von High Society in der Provinz, von blinder Gutgläubigkeit der Betrogenen und von voyeuristischer Sensationslust.

Die Österreicherin Sidonie S. kommt 1968 nach Schaffhausen. Sie bringt ihre geschiedene Mutter, ihren dreijährigen Sohn und ihren Ehemann Hans-Jörg mit. Er will Opernsänger werden und jobbt ein wenig als Tankwart. Sidonie findet eine Stelle in der Verwaltung der Psychiatrischen Klinik Breitenau. Sie ist von Anfang an die Ernährerin der Familie – und liefert bald das Geld für einen rätselhaft opulenten Lebensstil.

Viel später wird sich zeigen: Schon vier Monate nach ihrer Einstellung beginnt Sidonie S., den Kanton auszunehmen wie eine Weihnachtsgans. Im ersten Jahr erbeutet sie 16 000 Franken, dann mit immer ausgefeilteren Tricks jedes Jahr etwas mehr, im letzten Jahr vor ihrer Demaskierung streicht sie über eine halbe Million ein.

Schickeria statt Bourgeoisie

Mitte der Siebzigerjahre greift in Schaffhausen neues Lebensgefühl um sich, das «Sidi» und ihr Gatte im Alleingang eingeschleppt haben sollen. Das Ehepaar gibt ausschweifende Partys für die beste Schaffhauser Gesellschaft und lädt grosszügig zu opulenten Diners ein. «Die schöne Sidonie», wie sie der Klatsch nennt, ist stets in Designerkleider gehüllt und trägt teuren Schmuck, ihr Mann bekommt im Jahrestakt einen neuen Sportwagen.

Man plant den Bau eines gehobenen Einfamilienhauses, spielt Tennis und geht in New York shoppen. Schaffhausen ist verzückt, buhlt um die Gunst des grosszügigen Paars und macht sich nur oberflächlich Gedanken darüber, woher das Geld kommen mag. Man munkelt von österreichischem Adel und Erbschaft, und «der Opernsänger», der in Wahrheit kaum Aufträge hat, erzählt gerne von erfundenen Auftritten mit grossen Gagen.

Tatsächlich erhält er von seiner Gattin 10 000 Franken pro Monat als Taschengeld – obwohl sie in der Breitenau nur gut 3000 Franken verdient.

Die Masche mit dem Klebeband

Der extravagante Lifestyle müsste eigentlich Argwohn wecken, doch geschickt nutzt Sidonie S. den Glamour als Instrument der Blendung. Noch gerissener sind ihre Machenschaften in der Breitenau.

Die tadellose Mitarbeiterin geniesst fast grenzenloses Vertrauen und verfügt über weitreichende Kompetenzen. Sie stellt die Salärlisten zusammen und füllt die Lohntüten – es ist ein Leichtes, die Gesamtsumme nach oben zu manipulieren und die Differenz einzustecken. Ihr Chef merkt elf Jahre lang nichts, genauso die Finanzkontrolle und die Rechnungsprüfungskommission des Parlaments.

Als 1980 der Computer Einzug hält, funktioniert der Trick nicht mehr: Das Rechnen übernimmt ein zentraler Rechner im Kantonsspital. Einige Wochen lang kann Sidonie S. nichts abschöpfen – die Grundlage des luxuriösen Lebensstils ist futsch.

Das Glück hilft ihr auf die Sprünge: Durch einen eigenen Fehler merkt sie, dass sie ehemalige Mitarbeitende im System als Lohnbezüger führen und den Computer überlisten kann. Ab jetzt fingiert sie mit gefälschten Belegen Monat für Monat eine vier- oder fünfstellige «Zulage» für eine nur noch gelegentlich arbeitende Hilfskraft. Damit dies nicht auffällt, manipuliert sie auch die Lohnliste mit einem cleveren Trick. Ein Beispiel: Wenn die Hilfskraft 400 Franken verdient hat, trägt sie 8400 Franken ein. Doch dort, wo die Acht gedruckt wird, bringt sie ein Stück Klebeband auf dem Papier an und entfernt es nach dem Druck wieder – und packt an jedem Zahltag die Tausendernoten in ihre Handtasche.

An einer Lappalie gescheitert

Breitenau-Chefarzt Oskar Wanner wird später zu Protokoll geben, er habe der Lohnbuchhalterin nie vertraut. Doch erst 1980 beauftragt er ihren direkten Vorgesetzten, der Sache auf den Grund zu gehen. Dieser sieht den Steuerausweis ein und findet hohe Gagen aus Opernauftritten Hans-Jörgs. Diese Hochstapelei selbst gegenüber dem Steueramt zerstreut den Verdacht vorerst. Erst der Chefbeamte später erneut sucht, nimmt er auch die Kaffeekasse unter die Lupe – und siehe da: Es fehlen gut rund 1000 Franken.

Ein Pappenstiel. Doch der Verdacht reicht aus, um die Finanzkommission ins Spiel zu bringen. Kurz vor Weihnachten 1981 entdeckt diese endlich die riesigen «Zulagen» und kommt dem Trick auf die Schliche.

Sidonie S. kriegt Wind von der Ermittlung. Sie hinterlässt auf dem Schreibtisch des Chefarztes einen Brief, der ein teilweises Geständnis enthält – und eine Suiziddrohung. Sie flieht nach Deutschland, es ergeht ein internationaler Haftbefehl, die Presse wird informiert. Tags darauf, an Heiligabend, stellt sich das Ehepaar S. der Polizei.

Am Pranger

Der Fall bedient die Neugierde der Öffentlichkeit und die Sensationslust der Presse vortrefflich. Bereits zwei Wochen nach Bekanntwerden der Veruntreuungen wird der volle Name der Schuldigen abgedruckt. Alle Schaffhauser Zeitungen sezieren nicht nur die Details des spektakulären Delikts, sondern auch das Privatleben des Ehepaars.

Der Bock kündigt zum grossen Ärger von Gerichtspräsident Werner Brandenberger einen «Schauprozess» an und lässt nicht unerwähnt, dass Sidonie S. bei ihrer Verhaftung darauf bestanden hatte, «ein Fläschchen Champagner» mit in die Zelle zu nehmen. Derweil hat die Finanzkontrolle das wahre Ausmass der Veruntreuungen ermitteln können: 2,6 Millionen Franken.

Am dreitägigen Prozess im Juli 1982 ist die Tribüne rappelvoll mit Schaulustigen und Medienleuten. Die Schaffhauser Journalistin Susie Ilg, die für den Tagesanzeiger berichtet und den Fall später in ihrem Buch «Moneten, Morde, Mannesehr’» (erhältlich bei der AZ) aufarbeiten wird, berichtet, Gerichtspräsident Brandenberger habe den Verlautbarungen der «selbstgerechten Empörung» und «unflätigen Beschimpfungen» aus dem Publikum mehrmals Einhalt gebieten müssen.

Sidonie S., angeklagt wegen Veruntreuung und über hundertfacher Urkundenfälschung, ist geständig: «Ich weiss, was ich tat.» Nur die 1000 Franken aus der Kaffeekasse, die ihr zum Verhängnis geworden waren, will sie nicht abgezweigt haben.

Ihr Mann Hans-Jörg spielt den Unwissenden: Seine Frau habe sich immer um das Geld gekümmert, er habe ihr einfach geglaubt, dass sie geerbt habe und mit Gold handle. Das Gericht kauft ihm so viel Naivität nicht ab. Hans-Jörg S. wird schuldig gesprochen, kommt allerdings mit einer bedingten Haftstrafe davon.

Das Einfamilienhaus im Trenschen wird nie fertiggebaut. Archivfoto: Max Baumann

Sidonie S. aber, die grösste Hochstaplerin der Schaffhauser Geschichte, wird zu vier Jahren Gefängnis verurteilt und von der Polizei abgeführt. Ihre Haftstrafe sitzt sie in Hindelbank ab und wird in Schaffhausen nie mehr gesehen.

Zurück bleibt eine verdutzte Gesellschaft, die sich kleinlaut eingestehen muss, von einer geradezu verehrten Frau von Welt hinters Licht geführt worden zu sein. Die Schuld daran, dass sich eine Beamtin 13 Jahre lang die Tasche füllen und gleichzeitig öffentlich prassen konnte, ohne aufzufliegen, wird hin- und hergeschoben. Es resultieren griffigere Kontrollmassnahmen, aber beim Kanton wird nie jemand für die gravierenden Aufsichtsmängel zur Rechenschaft gezogen. Einen Grossteil des Geldes wird der Kanton nie mehr wiedersehen, die letzten Inkassoversuche scheitern Mitte der Neunzigerjahre.

Viel gewonnen – alles verloren

Sidonie S., Hochstaplerin und Millionenbetrügerin, war schlauer als der Kanton. Doch ihre Geschichte hat auch eine andere Seite, eine tragische.

Als mittelloses Scheidungskind muss sie schwerkrank die Ausbildung abbrechen, anstatt Jura zu studieren. Noch als Minderjährige bringt sie einen Sohn zur Welt. Der Vater, Hans-Jörg, lässt sie zwei Jahre lang sitzen, bevor er sie heiratet. In Schaffhausen ist sie, obwohl gesundheitlich angeschlagen, allein dafür verantwortlich, Mann, Sohn und Mutter durchzubringen. Der erfolglose Opernsänger gibt das Geld mit beiden Händen aus und «bedankt» sich mit zahlreichen Seitensprüngen für sein opulentes Taschengeld.

Obwohl ihre Arbeit in der Breitenau hoch geschätzt wurde, scheiterte Sidonie S. bei Lohnverhandlungen – vor Gericht gibt sie an, ein Mann wäre sicher besser bezahlt worden. Sie stellt ihre Veruntreuungen auch als Rache an ihrem Chef dar. Irgendwann wird das Kassieren zum Spiel, Sidonie S. wirft sogar tausenderweise Geld ins Klo. Aufhören kann sie längst nicht mehr. Auf ihre Suiziddrohung angesprochen, sagt sie vor Gericht aus, keinen Ausweg mehr gesehen zu haben.

Sidonie S. handelte skrupellos und ausserordentlich gerissen. Sie ist aber auch eine Frau, die widrige Umstände zu ihren Gunsten nutzte und sich von ganz unten nach ganz oben kämpfte – bevor sie alles verlor. Nach ihrer Haft in Hindelbank tritt ein zehnjähriger Landesverweis in Kraft. Sie kehrt nach Österreich zurück, wo sich ihre Spur verliert. Ein Gerichtsurteil im Zusammenhang mit Inkassoversuchen des Kantons Schaffhausen weist sie 1995 als «derzeit arbeitslos» aus.

Sidonie S. handelte skrupellos und ausserordentlich gerissen. Sie ist aber auch eine Frau, die widrige Umstände zu ihren Gunsten nutzte und sich von ganz unten nach ganz oben kämpfte – bevor sie alles verlor. Nach ihrer Haft in Hindelbank tritt ein zehnjähriger Landesverweis in Kraft. Sie kehrt nach Österreich zurück, wo sich ihre Spur verliert. Ein Gerichtsurteil im Zusammenhang mit Inkassoversuchen des Kantons Schaffhausen weist sie 1995 als «derzeit arbeitslos» aus.

Frauen, die Schaffhausen bewegten

Dieser Artikel ist der 3. Teil der AZ-Serie über Frauen, die Schaffhausen geprägt haben – auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Lesen Sie hier die weiteren vier Porträts:


Teil 1: Fräulein Dr. Schudel, Anwalt
Teil 2: Die Revolutionärin
Teil 4: Die rote Lisbeth
Teil 5: D’Frau Mäjoor