Sie wuchs herrschaftlich auf und wurde eine der grössten Kommunistinnen der Schweiz: die Schaffhauser Industriellen-Tochter Mentona Moser.
Eine Delegation von Schaffhauser Sozialdemokraten steht in einem Wohnzimmer in Ostberlin, im Jahr 1967. An den Wänden hängen Bilder von Marx und Lenin. Auf dem Wohnzimmertischchen liegen politische Lektüren und die Tageszeitungen. In einem bequemen Schaukelstuhl sitzt eine hochbetagte Ehrenbürgerin der DDR. Den Schaukelstuhl hat sie von der Partei geschenkt bekommen, von der SED. Es ist die Schaffhauser Grosskapitalisten-Tochter Mentona Moser, die da sitzt und wohnt.
Die Schaffhauser Besucher überreichen Mentona Moser ein Päckli Schaffhauserzungen. Die 94-Jährige ist erstaunt, «Landsleute aus ihrer alten Vaterstadt» zu treffen, so wird sie nach Rückkehr von einem der Reisenden in der Schaffhauser AZ zitiert. Obwohl man ihre politischen Ansichten nicht teile, dürfe ihr die gebührende Achtung nicht verweigert werden, schreibt er.
In der DDR wurde Mentona Moser als Heldin gefeiert, in Schaffhausen wurde sie als Kommunistin geächtet und totgeschwiegen. Ihr Vater Heinrich Moser indessen nimmt als Uhrenfabrikant und Industriepionier seinen Platz als einer der bedeutendsten Stadtbürger in der kollektiven Erinnerung ein. Seine Tochter verbleibt trotz ihrer zahlreichen Verdienste nur als ein roter Fleck auf der Weste des Ehrenmannes.
Ein «unerhörter Auftritt»
Mentona Moser soll in ihrer eigenwilligen, ideenreichen und beharrlichen Art ganz nach dem Vater gekommen sein. Diesen hat sie nie kennen gelernt. Im Alter von 65 Jahren war Heinrich Moser eine zweite Ehe mit der erst 22-Jährigen Fanny von Sulzer-Wart eingegangen. Das Schloss Charlottenfels in Neuhausen am Rheinfall, das Moser für seine geliebte, erste Frau Charlotte erbaut hatte, war nach deren Tod an die gemeinsamen Kinder übergegangen, der Patron residierte aber mit seiner zweiten Frau weiterhin auf Charlottenfels. Mentona Moser wurde 1874 im Kurort Badenweiler geboren, wie zuvor bereits ihre zwei Jahre ältere Schwester Fanny. Vier Tage nach der Geburt Mentonas allerdings starb Heinrich Moser. Seine Witwe, die mit den zwei Töchtern hinterblieb, kehrte Schaffhausen daraufhin den Rücken. Denn es hielt sich in der Gesellschaft hartnäckig das Gerücht, dass sie ihren Mann vergiftet hätte, obwohl durch eine Autopsie widerlegt. Nach jahrelangen Aufenthalten an teuren Kurorten, kaufte die Witwe schliesslich das Schloss Au am Zürichsee. Dort gab sie grosse, illustre Gesellschaften – die Dame soll ihr Leben aber mit zunehmender Verbitterung zugebracht haben. Gegenüber ihrer jüngeren Tochter empfand sie Hass, wie sie später selbst zugeben sollte, und benachteiligte sie gegenüber der älteren Schwester.
Mentona Moser fühlte sich nach eigenen, späteren Angaben als das «hässliche kleine Entlein». In ihren Memoiren beschreibt sie, wie etwa am Geburtstag der Schwester der Blumen- und Gabentisch reich geschmückt war, sie an dem ihrigen hingegen jeweils leer ausging, und sie stets nur Rüge und Tadel erntete. Mentona war aber ein «Moserkopf». Und «‹Moserköpfe› waren in Schaffhausen sprichwörtlich», so schreibt Mentona Moser in ihren Memoiren. Sie habe im Stillen Kampf mit der Mutter gelebt und es sei nach einem weiteren «unerhörten Auftritt» ihrerseits gewesen, als sie in ein englisches Mädchenpensionat abgeschoben wurde.
Für Mentona bedeutete die Übersiedlung nach England Freiheit – und eine neue, eigene Lebensanschauung. Als sie bei Spaziergängen durch die Londoner Armenviertel das menschliche Elend beobachtete, nahm ihr Leben eine radikale Wendung. Sie bildete sich in sozialer Arbeit weiter, die sich zu dieser Zeit in England neu entwickelte, und arbeitete in den Londoner Slums. 1903 kehrte sie nach Zürich zurück, wo sie die moderne Sozialarbeit in der Schweiz massgeblich prägen sollte.
Zu wenig links
Innerhalb weniger Jahre brachte Mentona Moser Erstaunliches zustande in Zürich: Sie gründete unter anderem einen Blindenverein, beteiligte sich an der Gründung der ersten Fürsorgestelle für Tuberkulöse, sie war bei der Planung von Arbeitersiedlungen engagiert und bemühte sich um den Bau von Spielplätzen.1908 rief sie mit einer Mitstreiterin die Schule für soziale Arbeit Zürich ins Leben.
Ein Kapitel aus dem Leben diese bemerkenswerten Frau wurde dabei in der grossenteils männlichen Berichterstattung über sie oft ignoriert – und von dem DDR-Verlag, der ihre Memoiren als Erstes herausgab, zensiert: Bis zu ihrer Heirat 1909 lebte Mentona in Liebesbeziehungen mit Frauen.
Die Ehe schliesslich mit dem Sozialdemokraten Hermann Balsiger, aus der zwei Kinder hervorgingen, war nicht von langer Dauer. Ihren Mann empfand Mentona als zu wenig «links». Sie selbst vertrat zunehmend radikalere Positionen und beim Ausbruch der Russischen Revolution entbrannte sie in Leidenschaft. Als 1919 die Kommunistische Partei der Schweiz gegründet wurde, war sie Mitglied erster Stunde. Zwei Jahre später übernahm sie die oberste Leitung der Frauenabteilung und zog in die Parteizentrale ein. Dort kam sie auch in Kontakt mit Walther Bringolf, zu dem sie eine gute Beziehung pflegte. Anfänglich jedenfalls.
Mentona Moser war öfters in Schaffhausen zu Gast, um berufliche sowie politische Vorträge zu halten, etwa an Frauenversammlungen der Kommunistischen Partei Schaffhausen, auch zusammen mit Walther Bringolf. Und wenn der junge Bringolf seinerseits nach Zürich kam, soll sie ihm stets ausgeholfen und ihn beherbergt haben, so berichtet Mosers Enkel und Familienchronist Roger Nicholas Balsiger.
Nachdem ihre Mutter 1925 gestorben war, war Moser nämlich schlagartig eine vermögende Frau. Das machte sie in ihrer Überzeugung angreifbar – jedoch konnte sie sich nun, da sie sich nicht mehr um den Broterwerb kümmern musste, ganz ihrer politischen Mission widmen, für die sie einen Grossteil ihres Vermögens einsetzte. Beruflich war ihr ihre starke politische Meinungsmache immer wieder in die Quere gekommen. Auch bei der Führung der kommunistischen Frauenabteilung eckte sie mit ihrem diktatorischen Stil an, so dass sie wegen zu wenig Rückhalt aus dem Amt gedrängt wurde.
Die stramme Kommunistin liess sich jedoch nicht beirren. Es folgten Dienstaufenthalte für die Kommunistische Partei der Schweiz in der Sowjetunion. Später liess sich Moser in Berlin nieder, wo sie für den Rotfrontkämpferbund aktiv war. Im Jahr 1934 wurde aber sogar ihr der Boden in Berlin zu heiss, mittellos floh sie zurück in die Schweiz, wo sie weiterhin konspirative Aufgaben übernahm. Die Kriegsjahre verbrachte sie als Pensionärin im ehemals legendären, linken Zürcher Café Boy.
Linientreu bis zum Ende
Nach den Kriegsjahren zählte Mentona Moser auf die Unterstützung Walther Bringolfs in Schaffhausen. Ihr Sohn hatte sich auf ihr Anraten mit seiner Familie in Schaffhausen niedergelassen, wo er auf die zugesicherte, aktive Hilfe des Stadtpräsidenten bei der Arbeitssuche vertraute. Die Mosers wurden aber von Bringolf enttäuscht, berichtet der Enkel Roger Nicholas Balsiger. Hatte Mentona Moser politisch schon zuvor mit Bringolf gebrochen, der sich von den Kommunisten abgewandt hatte, so hatte sie für ihn nun gar nichts mehr übrig.
Mentona Moser selbst wiederum war in Schaffhausen als Kommunistin spätestens ab Ende 30er-Jahre verfemt. Moser scherte sich darum aber nicht. Sie entstieg dem Zug in Schaffhausen jeweils mit gereckter Faust und Rotfront-Rufen. Ihr Enkel berichtet, selbst 1951 noch habe sie über das Zugperron gerufen «Es lebe Stalin! Nieder mit der Kleinbourgeoisie», was der Schaffhauser Familie gelinde gesagt unangenehm war. Mentona Moser bewahrte ihre Linientreue zum Kommunismus bis zum Schluss. Auf Einladung der SED siedelte sie als 76-Jährige nach Ostberlin über, wo sie als Ehrenbürgerin ihren Lebensabend zubrachte.
Vielleicht hätten auch die Schaffhauser die mittellose Kommunistin im Alter unterstützt, hält Bringolf in seinen Erinnerungen fest und ergänzt: «Sie war aber zu stolz, sich an uns und vor allem an mich zu wenden.» So geriet die verrufene Revolutionärin in ihrer Vaterstadt zunehmend in Vergessenheit.
In ihrem Testament, das erst nach ihrem Staatsbegräbnis auf dem DDR-Ehrenfriedhof in Berlin gefunden wurde, soll sich Mentona Moser gewünscht haben, im Familiengrab auf dem Waldfriedhof in Schaffhausen beigesetzt zu werden. Die Kommunistin hatte früher schon in ihren Memoiren geradezu schwärmerisch-romantisch über ihre erste, einprägsame Begegnung mit ihrem Stiefbruder auf dem moserschen Familiensitz Charlottenfels im Jahr 1915 geschrieben: «Auf der Heimfahrt sprachen wir ununterbrochen von Charlottenfels und seinen Bewohnern, und ich hatte das Gefühl, jetzt erst zu wissen, wohin ich gehöre, nämlich dorthin.» Sie selbst dachte wohl lieber an ihre Vaterstadt zurück als diese an sie.
Frauen, die Schaffhausen bewegten
Dieser Artikel ist der 2. Teil der AZ-Serie über Frauen, die Schaffhausen geprägt haben – auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Lesen Sie hier die weiteren vier Porträts:
Teil 1: Fräulein Dr. Schudel, Anwalt
Teil 3: Filmreife Glamour-Ganovin
Teil 4: Die rote Lisbeth
Teil 5: D’Frau Mäjoor