Hedwig Schudel eröffnete 1951 als erste Anwältin eine Kanzlei in Schaffhausen. Erst sympathisierte sie mit Faschisten, später wählte sie grün. Immer setzte sie sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter ein.
Wie oft waren sie gegen den Stacheldraht aus Schnäuzen und Geheimratsecken gerannt? Und sie versuchten es wieder. Im Februar 1959 erstmals an der Urne, als die Schweizer Männer über das Frauenstimmrecht entschieden. «Die Frau», schrieb Hedwig Schudel in einem Leserbrief, «darf sich heute ihrer Verantwortung auch für das öffentliche Leben nicht entziehen. Diejenigen Männer und Frauen aber, die glauben, dass damit das ‹Wesen der Frau› Schaden leide, unterschätzen den Tiefgang der weiblichen Natur.» Gegen das Argument der Männer hatte sie keine Chance. «Warum ich nein sage: Einmal, weil die Staatsgeschäfte Sache des Mannes sind», hiess es in einem anderen Leserbrief. Mit 67 Prozent Nein-Stimmen wurde das Frauenstimmrecht verworfen.
Hedwig Schudel war seinerzeit 53 Jahre alt. Eine stramme Patriotin. Freundin bürgerlicher Ordnung. Und überzeugt von der Gleichwertigkeit von Mann und Frau. 1951 eröffnete sie, als erste Frau, eine Anwaltskanzlei in Schaffhausen. Als sie 1971 in Pension ging, tat sie das mit der Genugtuung, zur Einführung des Frauenstimmrechts beigetragen zu haben.
Grossbürgerliche Familie
Hedwig Schudel stammte aus einer Juristenfamilie (über die Frauen ist nur ein Satz überliefert, wir kommen gleich darauf). Ihr Grossvater, Georg Schudel, war Bezirksrichter in Schleitheim – und das als Begginger. Ausserdem war er politisch aktiv, als Begginger Gemeindepräsident und als Kantonsrat.
Der Vater von Hedwig Schudel hiess Hans mit Vornamen, Jahrgang 1875. Der langjährige Schaffhauser Ständerat Kurt Bächtold, ein Bekannter des Vaters und lose mit der Familie verwandt, schrieb in einem Nachruf auf ihn: «In zarten Jahren befiel den Knaben die Kinderlähmung und hinterliess eine körperliche Behinderung [er hinkte an einem Bein].» Er habe sich dennoch gegen sieben Geschwister durchsetzen können und sei «bei Wind und Wetter» nach Schleitheim in die Realschule gelaufen.
Hans sei nach Bern gegangen, um Jus zu studieren, schrieb Autor H. G., der den Vater vom Militär kannte, im Nachruf der AZ. «Aber die ersten Jahre war sein Refugium das Museum, [wo jemand] eine glänzend florierende Bierwirtschaft aufgetan hatte.» Immerhin: «Bei Zeiten wendete sich Hans Schudel dem Ernst des Lebens zu.» Um 1900 eröffnete er eine Anwaltskanzlei in Schaffhausen, die sehr gut lief, denn er verlangte kein überrissenes Honorar. Konnte einer seiner meist ärmeren Mandanten eine Busse nicht bezahlen, zückte er schon mal sein Portemonnaie und beglich die Schuld.
Bald sei er zu einem der populärsten Anwälte der Gegend geworden, schrieb Kurt Bächtold, «als väterlicher Berater vieler kleiner Leute, denen er gerne einen Prozess ersparte».
Hans Schudel heiratete eine Arbenz (Vorname unbekannt), deren Familie eine Bijouterie in der Altstadt betrieb. Sie kauften sich eine schöne Villa an der Nordstrasse 22, über der Stadt thronend, vierzehn Zimmer, über 1000 Quadratmeter Umschwung, Springbrunnen, kannst du nichts sagen. Der hinkende Begginger Schudel war im Schaffhauser Grossbürgertum angekommen.
Ab 1906 sass er während zwanzig Jahren als Vertreter des Freisinns im Kantonsrat. Mit ungefähr 65, um 1940, schloss Hans Schudel seine Kanzlei und zog sich aus dem öffentlichen Leben zurück. 1950 starb er.
Seine Mutter, Hedwigs Grossmutter, so die einzige Information über die weibliche Seite der Familie, «stammte vom Reiath und pflegte eine schlichte und häusliche Frömmigkeit».
Trotz Schaffhauser Grossbürgertum, auf einem Porträt des gut genährten Vaters Hans zeigte sich Begginger Stolz, ordentlicher Nacken und markante Nasenflügel, und dies zog sich weiter, im Gesicht Hedwig Schudels.
Sie kam 1906 zur Welt und hatte zwei jüngere Schwestern: Gertrud (1909–1978), die als Einzige heiratete, und Elisabeth (1911–2006), eine nachdenkliche Doktorin der Geschichte, die als Lehrerin arbeitete.
1932 oder 1933 nahmen sie, ohne Begleitung, eine Reise nach Russland vor; im Land des Bolschewismus interessierte sie vor allem Vor-Revolutionäres, die grossen Literaten. Hedwig und Elisabeth machten die Autoprüfung, und Mitte der Dreissigerjahre bestiegen die beiden, zusammen mit dem Vater, das Matterhorn.
Der Sprache voraus
Als erste Frau des Kantons Schaffhausen studierte Hedwig Schudel Jura. 1929 schloss sie mit dem Doktortitel ab, und 1934 erwarb sie das Anwaltspatent – beruflicher Gleichstellung war sie Jahrzehnte voraus, auch sprachlich. In Zeitungsartikeln war der Zusatz zu lesen: Fräulein Dr. Hedwig Schudel, Rechtsanwalt.
Sie brauchte ein wenig, um sich im Leben zu orientieren, und verirrte sich zunächst. Im Studium lernte sie Rolf Henne kennen, den Gründer der Nationalen Front. Den rechten Arm zum Hitlergruss gehoben, mit Stahlrute und Uniform durch die Altstadt marschierend, schwebte ihm die Schweiz als «Satellitenstaat» in Hitlers «neuem Europa» vor. Schudel, die sich als junge Juristin in der Depression der Dreissigerjahre schwertat mit der Arbeitssuche, wurde von Rolf Henne ermuntert, mitzumachen. Sie redigierte die «Frauenseite» im Front-Organ Grenzbote. Und sie sammelte Geld für bedürftige Front-Familien, 3 200 Franken im Jahr 1934, 9 300 1936.
«Wir haben nie an irgendwelche Verbindungen mit Deutschland gedacht», sagte sie viele Jahre später, als sie vom Schaffhauser Historiker Matthias Wipf befragt wurde, der zum Frontismus forschte. «Vielmehr haben wir in einer losen Gruppe von Frauen genäht und gestrickt.» 1938 wandte sie sich von den Frontisten ab.
Ihre Berufung fand sie während des Zweiten Weltkriegs als Leiterin des militärischen Frauenhilfsdiensts (zunächst unabhängig, später in die Armee integriert). «Chef FHD» lautete ihr Dienstgrad, ihre Uniform bestand aus Jupe, Krawatte und Kampfstiefeln, Patriotismus als Qualitätsware. Von Bern aus ratterte sie mit ihrem Jeep durch die halbe Schweiz. Warum sollen Ambulanzen nicht von Frauen gesteuert werden?, fragte sie 1950. Ausserdem Telefonbedienung, Buchhaltung, Brieftaubenpflege, kochen, nähen: Der Frauendienst in der Armee trage «zur Erfüllung seiner vaterländischen Aufgabe» bei. Sie vertrat die für bürgerliche Frauen typische Emanzipation der kleinen Schritte: Stück für Stück Richtung Gleichberechtigung, nur vorsichtig, nur nicht zu viel.
1951 kehrte Schudel nach Schaffhausen zurück und eröffnete eine Kanzlei. Weil sich nur wenige von einer Frau juristisch vertreten lassen wollten, musste sie nebenher als Gerichtsschreiberin arbeiten. 1953 gründete sie die Rechtsberatungsstelle der Frauenzentrale, die sie bis 1972 führte. Allein 1954 sei sie von mehr als hundert Frauen aufgesucht worden, hiess es im Jahresbericht. Sie nahm auch Einsitz in diversen Gremien, ob in der Programmkommission des Radio Beromünster, bei der Obdachlosenhilfe (die sie zeitweise leitete) oder als erste Kirchenrätin Schaffhausens 1967, fast immer war sie die einzige Frau.
Der General
«Wir nannten sie ‹den General›», erinnert sich ihr Neffe Andreas Hess, 1946 geboren und studierter Theologe. «Meine Tante war eine Respektsperson, resolut. Hat nicht lange um Entscheidungen herumgedruckst.» Hess wohnte lange Zeit, bis zu ihrem Tod im Jahr 2003, mit ihr in der Nordstrasse-Villa. Jetzt lebt er in einer Blockwohnung auf der Breite. Als er sich durch Fotobände gräbt, erzählt er, dass Tante Hedwig nicht ganz zufrieden gewesen sei mit ihrem Leben, denn sie habe sich Kinder gewünscht.
Hess zeichnet Tante Hedwig als autoritätsbedürftige Frau mit bürgerlicher Moral, kein Parteimitglied, aber zeitlebens treue NZZ-Abonnentin. Und sie habe eine grosse soziale Ader gehabt, meint der Neffe: Stipendien für arme Kinder, Stiftungsrätin eines Mädchenheims, grosszügige Tante, wobei man nie demütig habe Danke sagen müssen. «So hielt sie es. Sie war wohlhabend, zeigte es aber nicht.»
Erinnerungen kommen hoch, er muss lachen, weil sie diese eine Begegnung so sehr zum Lachen gebracht hat, dass sie immer wieder davon erzählte: Kam eine junge, schwangere Frau zu ihr – sie vertrat oft einfache Frauen mit Vaterschaftsklagen, es ging um Alimentenzahlungen und so fort –, kam also eine Frau zu ihr. Fragte Hedwig Schudel: «Und, wer ist der Vater?» Sagte die Frau: «Frau Doktor Schudel, dafür waren wir zu wenig intim!» Sie habe dann, fährt der Neffe fort, eine politische Öffnung durchlebt. Die Unruhen um 1968 seien kein Schock für sie gewesen, und später habe sie bei Wahlen die Grünen bevorzugt.
Tatsächlich, 1990, da war Tante Hedwig bereits 84, sprach sie sich für den Ausstieg aus der Atomenergie aus. In einem Leserbrief schrieb sie: «Ich bin nicht in der Lage, zu beurteilen, wie schwer sich der Ausfall der Kernenergie z. B. in unserer Wirtschaft auswirken wird. […] Aber mir scheint, dass eine Technik, die die Mondlandung ermöglicht hat, auch Wege finden sollte, Atomenergie zu ersetzen.»
Als der Neffe die Fotobände mitsamt Erinnerungen wieder versorgt, zitiert er die Wilchinger Schriftstellerin Ruth Blum: «Wen Gott lieb hat, dem schenkt er eine ledige Tante.»
Frauen, die Schaffhausen bewegten
Dieser Artikel ist der 1. Teil der AZ-Serie über Frauen, die Schaffhausen geprägt haben – auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Lesen Sie hier die weiteren vier Porträts:
Teil 2: Die Revolutionärin
Teil 3: Filmreife Glamour-Ganovin
Teil 4: Die rote Lisbeth
Teil 5: D’Frau Mäjoor