Dörflingen: Die Gemeindeschreiberin wird krank und muss gehen. Während Pentti Aellig dem Mobbingvorwurf widerspricht, reicht die ganze Kanzlei die Kündigung ein.
Eines Morgens fährt Pentti Aellig in die Gemeindekanzlei von Dörflingen. Er trägt den Bürostuhl der Gemeindeschreiberin eigenhändig in den oberen Stock. Als sie zur Arbeit erscheint, weist er sie an, ihren Computer nach oben zu bringen – er verbannt sie vom Schalter. Die Schreiberin wird krank, sie leidet an Angstzuständen und fühlt sich isoliert. Nur ein halbes Jahr vorher hat Aellig ihr ein sehr gutes Zwischenzeugnis ausgestellt und den Lohn erhöht. Was ist passiert?
Alles beginnt, nachdem der Gemeindeschreiberin U. S.* im Mai 2018 auf eigenen Wunsch eine Stellvertreterin zur Seite gestellt wird. U. S. bemerkt, dass Aellig mehrere Besprechungen mit der Neuen führt, ohne sie zu informieren, auch das Probezeitgespräch.
U. S. ist verunsichert und sucht das Gespräch mit Aellig. Dieser spricht jedoch zuerst mit der Stellvertreterin und passt die Aufgabenzuteilung mehrmals an.
Bald ist Gemeindeschreiberin U. S. nicht mehr an Gemeinderatssitzungen dabei und wird von wichtigen Informationen abgeschnitten. U. S. fühlt sich beobachtet, hat schlaflose Nächte und Angst, zur Arbeit zu gehen. Angst, dass Aellig sie loswerden will.
U. S. erfährt, dass der Gemeinderat an einer ausserordentlichen Sitzung über die Kanzlei gesprochen hat. Als sie eine Gemeinderätin fragt, ob ihre Entlassung besprochen wurde, erhält sie die Antwort: «Alles ist möglich.»
Mehrere Stimmen im Dorf sind sich sicher: Pentti Aellig und der Gemeinderat wollten U. S. entlassen. Aellig bestreitet diese Darstellung: «Ihre Annahme trifft nicht zu.» Eine Kündigung wäre kaum durchsetzbar gewesen: Erforderlich wären unter anderem zwei Abmahnungen – U. S. hat noch nie eine erhalten.
«Ich lebte während Monaten in Angst.» – U. S
Eine versuchte Abmahnung kommt, als U. S. einen Fehler macht: Im August informiert sie Pentti Aellig über ihren anstehenden Urlaub. Die Stellvertretung ist kanzleiintern längst besprochen und geregelt, doch Aellig schreibt zurück, seine Genehmigung sei notwendig. U. S. entschuldigt sich und ersucht offiziell um die Genehmigung. Der Gemeindepräsident händigt ihr bei der folgenden Besprechung eine Abmahnung aus – U. S. unterschreibt sie nicht, weil sie auf den Urlaub verzichtet hat, nachdem Aellig nicht auf das verspätete Gesuch eingegangen ist. Aellig teilt ihr ausserdem mit, dass sie ihren Arbeitsplatz in den ersten Stock des Gemeindehauses verlegen müsse.
Am nächsten Arbeitstag später findet die Szene mit dem Bürostuhl statt. U. S. ist nicht mehr für die Bedienung der Bevölkerung am Schalter zuständig, ein Gespräch zu dritt hat nie stattgefunden. Damit konfrontiert, schreibt Aellig der AZ: «Die Gemeinde hat diverse protokollierte Einzelgespräche geführt.»
Sehr gutes Arbeitszeugnis
Rückblende: Seit U.S. 2016 das Amt der Gemeindeschreiberin übernommen hat, ist sie sehr beliebt im Dorf. Acht Jahre lang hatte sie die gleiche Funktion in Guntmadingen inne, für vier Jahre leitete sie die Sozialhilfestelle von Diessenhofen – beste Qualifikationen, ein Glücksfall für die 1000-Seelen-Gemeinde im Reiat. U. S. ihrerseits schätzt sich glücklich, im Alter von 60 Jahren eine neue Stelle gefunden zu haben.
Mitarbeiterinnen und Einwohner äussern sich durchwegs positiv über das neue Gesicht am Schalter der Gemeindekanzlei. Sie gilt als offen, herzlich und hilfsbereit: «Wenn sie im Büro war, half sie einem weiter, auch ausserhalb der amtlichen Öffnungszeiten», sagt ein Dörflinger. «Wenn die Vorhänge offen waren, konnte man vorbeischauen, auch mal abends.»
Auch das Verhältnis mit Aellig, dem Chef, ist in den ersten zweieinhalb Jahren gut, laut U. S. sogar freundlich. Er habe sie oft gelobt und einmal im Scherz gesagt: «Ich werde Sie nie entlassen können, sonst werde ich nicht wiedergewählt.»
Im Februar 2018 findet ein Qualifikationsgespräch zwischen Aellig und U. S. statt. Der Gemeinderat stellt ihr ein sehr gutes Zwischenzeugnis aus, unterschrieben von Präsident Aellig: Kundenorientiert arbeite sie, sei hilfsbereit und zeichne sich durch grossen Einsatz aus, «auch in sehr arbeitsintensiven Phasen» zeige sie sich stets als «freundliche, kommunikative und teamorientierte Mitarbeiterin». U. S. erhält eine kräftige Lohnerhöhung.
«Isoliert und Hilflos»
Ein halbes Jahr nach dem Qualifikationsgespräch sitzt U. S. in ihrem neuen Büro, das bislang eher eine Abstellkammer für altes Mobiliar war. «Ich fühlte mich abgeschoben, isoliert und hilflos», erinnert sich U. S., «diese Zeit war schlimm. Ich glaubte, beim ersten Fehltritt verliere ich den Job.» Sie treibt eine Stehlampe auf, denn ansonsten ist eine Glühbirne an der Decke die einzige Beleuchtung.
«Ich lebte monatelang in Angst», erinnert sich U. S. heute. Als die AZ sie kontaktiert, will sie zuerst keine Auskunft geben. Als klar wird, dass der AZ aus Gesprächen mit der Bevölkerung grosse Teile der Geschichte bekannt sind, erklärt sie sich zu einem Gespräch bereit. Dies nur, wie sie ausdrücklich sagt, damit der Artikel den Tatsachen entspreche.
Heute gehe es ihr gut, sagt U. S., «jede Woche etwas besser». Sie hinterlässt nicht den Eindruck eines Opfers, sondern einer Frau, die sich nicht leicht einschüchtern lässt und einiges einstecken kann.
U. S. wägt sorgfältig ab, welche Fragen sie beantworten darf, denn sie ist weiterhin an das Amtsgeheimnis und eine Treuepflicht gegenüber der Gemeinde Dörflingen gebunden. Deshalb basiert die Rekonstruktion der Ereignisse nur teilweise auf ihren Aussagen, ergänzt durch Gespräche mit Dörflingerinnen und Dörflingern, die anonym bleiben möchten.
U. S. sucht sich Hilfe: Sie spricht mit der Staatskanzlei und vertraut sich auf deren Empfehlung befreundeten Einwohnerinnen an. Der Hausarzt vermittelt sie an einen Personalcoach. Sie beginnt eine Therapie bei einer Psychologin und wendet sich später auch an die Fachstelle Mobbing und Belästigung. Dort rät man ihr, ein Tagebuch zu führen.
Nach einer Woche in der «Abstellkammer» hat U. S. Urlaub, doch sie wird am ersten Tag krank. Der Hausarzt schreibt sie für zehn Tage arbeitsunfähig.
Noch einmal nimmt U. S. die Arbeit auf. Sie hat Angst, dass langes Fehlen gegen sie verwendet werden könnte, und kooperiert weiterhin mit den Weisungen Aelligs. Überrascht und besorgt nimmt sie zur Kenntnis, dass sie bereits nach vier Tagen Krankheit bei der Taggeldversicherung angemeldet wurde. Ausserdem erfährt sie in den Unterlagen der Versicherung, dass ihr Pensum reduziert wurde – ohne Mitteilung an sie, während ihrer Krankheit.
«Eine ganz üble Sache»
Bei einer letzten Sitzung mit zwei Mitgliedern des Gemeinderates erscheint Pentti Aellig nicht. Man schlägt ihr eine Frühpensionierung zu unattraktiven Konditionen vor. Am nächsten Tag wird U. S. von der Praxis ihrer Psychologin ab Mitte September 2018 arbeitsunfähig geschrieben – sie wird nie mehr an den Arbeitsplatz zurückkehren.
Mehrere Stimmen aus dem Dorf sind überzeugt, dass ein klärendes Gespräch zu dritt die Situation völlig entschärft hätte. Substanzielle Vorwürfe an U. S. sind nicht bekannt. Am Stammtisch erzählt man sich, Aellig habe U. S. einfach loswerden wollen – «Eine ganz üble Sache», sagt jemand. Mit Namen äussern möchte sich niemand.
Aellig bestreitet, dass er U. S. loswerden oder entlassen wollte: «Die Gemeindeschreiberin erschien überraschend seit September 2018 wegen Krankheit nicht mehr zur Arbeit und kommunizierte ab diesem Datum nicht mehr direkt mit uns, sondern nur über Juristen.»
Seit der Krankschreibung von U. S. im September hat sich Pentti Aellig nie bei ihr nach ihrer Gesundheit erkundigt. Die Fachstelle Mobbing und Belästigung handelte für U. S. mit dem Anwalt der Gemeinde eine Vertragsauflösung aus.
Im März wurde eine Vereinbarung von beiden Seiten unterzeichnet: Das Arbeitsverhältnis wird aufgelöst. U. S. erhält eine Pauschalentschädigung von 22 000 Franken. Im Gegenzug akzeptierte sie das schriftliche Einverständnis, dass weder die Arbeitgeberin noch die Arbeitnehmerin für die Arbeitsunfähigkeit ein Verschulden tragen. Der Vertrag hält aber auch fest, dass es sich um eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit handle. Das heisst im Klartext: An diesem Arbeitsplatz konnte U. S. nicht mehr arbeiten, aber niemand ist schuld.
Die Gemeinde hat nach eigenen Angaben für Anwalt und Entschädigung rund 50 000 Franken ausgegeben. Für U. S. entstanden Kosten von über 15 000 Franken.
Nur an diesem Arbeitsplatz krank
Die Psychologin, welche die Arbeitsunfähigkeit attestiert hat, erklärt mit dem Einverständnis von U. S. deren Gesundheitszustand im September, kurz nach dem Tag «Bürostuhl».
Die Patientin habe grosse Angst und ein Gefühl von Kontrollverlust gehabt. Die Psychologin stellt Selbstzweifel, Schlafprobleme, Konzentrationsschwächen und Gedankenkreisen fest: Symptome, die zu einer Depression passen. Körperliche Ursachen werden ebenso abgeklärt und ausgeschlossen wie mögliche andere mögliche Quellen für psychische Probleme. Die Schlussfolgerung: Es handelt sich um eine reaktive Depression als Folge von anhaltender, schwerer Belastung. Mit anderen Worten: «Ohne diese Belastung am Arbeitsplatz wäre Frau S. eine gesunde Frau – die Symptome und die Ursache sind eindeutig.»
«Dysfunktionale Führungsstruktur» – Vertrauensarzt der Versicherung
Der Vertrauensarzt der Arbeitgeberversicherung von Dörflingen, bei der U. S. als «Schaden» gemeldet wurde, kommt ebenfalls zum gleichen Schluss: Am Leidensdruck besteht kein Zweifel, «aus therapeutisch-rehabilitativen Gründen unter den aktuellen Arbeitsverhältnissen (dysfunktionale Führungsstruktur)» wird «Unzumutbarkeit der Rückkehr» und vollständige Arbeitsunfähigkeit festgestellt, wobei «unter arbeitsoptimierten (adaptierten) Verhältnissen» eine volle Arbeitsfähigkeit vorliegen würde. Das ist Versicherungsdeutsch für: In einem anderen Job wäre U. S. gesund.
Pentti Aellig informiert die Gemeinde zurückhaltend über die Situation – auch aus rechtlichen Gründen. An der letzten Gemeindeversammlung und in der «Dörflinger Info» klärt er darüber auf, dass das Arbeitsverhältnis aufgelöst werde und man vereinbart habe, dass keine Seite eine Schuld trage. In der «Dörflinger Info» teilt Aellig schon im Februar 2018 allen Einwohnerinnen und Einwohnern mit, U. S. sei seit September «krankheitsbedingt abwesend» – ohne Rücksprache mit U. S. und noch bevor sie die Vereinbarung über die Vertragsauflösung erhalten hat.
Die Anstellung von U. S. endet am 31. Juli. Sie muss sich im Alter von 63 Jahren eine neue Stelle suchen oder arbeitslos werden.
Die ganze Kanzlei geht
Pentti Aellig widerspricht allen Vorwürfen, sofern er sich dazu äussert: «Es gab den Vorwurf des Mobbings, der sich aber nicht konkretisierte, wie auch die Fachstelle Mobbing und Belästigung bestätigte.» Auf die meisten Punkte geht Aellig nicht einzeln ein, sondern verweist auf die Vereinbarung, wonach «für die Aufhebung des Arbeitsverhältnisses weder Arbeitgeberin noch Arbeitnehmerin ein Verschulden tragen». Und: «Die Arbeitgeberin wird aus rechtlichen und vertraulichen Gründen keine weiteren Aussagen über die Auflösung des Arbeitsverhältnisses machen.»
Auf einige Nachfragen – es geht um den Vorwurf, er habe keine Bereitschaft gezeigt, die Situation zu entschärfen und Gespräche mit der Stellvertreterin geführt, über die er U. S. nicht informierte – antwortet er: «Ich hätte diese Fragen sehr gerne beantwortet. Aber die abgeschlossene Vereinbarung verpflichtet uns explizit, darüber Stillschweigen zu bewahren.»
«Es gab den Vowurf des Mobbings, der sich aber nicht konkretisiserte.» – Pentti Aellig
Aellig drückt seine Hoffnung aus, dass die AZ «aus Fairnessgründen mit Aussagen von nichtbeteiligten Drittpersonen journalistisch korrekt umgehen». Die Fairness, sie kommt bei Pentti Aellig ab und zu vor und will nicht richtig zur Geschichte der Gemeindeschreiberin passen. In seiner (vorläufigen) Abschiedskolumne in den SN vom 13. Mai zeigt er auf, wie gut er sich trotz unterschiedlichen Ansichten mit verschiedenen Kontrahenten verständigen konnte: ein Mann, der das Gespräch sucht.
An der Gemeindeversammlung vom 15. Mai fragt eine Einwohnerin, was die «üble Sache» die Steuerzahlenden gekostet habe. Als Pentti Aellig nachfragt, was sie damit meine, nimmt sie das Wort in den Mund, das viele nur denken: «Mobbing». Der Gemeindepräsident unterbricht sie und sagt kühl: «Wir haben eine Vereinbarung, wonach beide Seiten keine Schuld trifft. Wenn Sie das Wort Mobbing hier verwenden, müssen wir eine Klage wegen Ehrverletzung in Erwägung ziehen.»
Zwei Tage vor dem Erscheinen dieses Artikels twittert Pentti Aellig mit dem Hashtag #Fairness: «Zwei Personen wurden wegen übler Nachrede gegen Präsident und Vizepräsidentin des Dörflinger Gemeinderates rechtskräftig verurteilt.»
Am gleichen Tag schreibt die Gemeinde zwei Stellen aus. Pentti Aellig bestätigt, dass sowohl die stellvertretende Gemeindeschreiberin als auch die Zentralverwalterin gekündigt haben. Zusammen mit dem Ende der Anstellung von U. S. heisst das: Die gesamte Gemeindekanzlei geht und muss neu aufgebaut werden.
U. S. steht nicht zur Verfügung. Es geht ihr besser, und sie hat eine neue Stelle bei einer Schaffhauser Gemeinde in Aussicht.
*Name der Redaktion bekannt.