Das Comeback

23. Mai 2019, Marlon Rusch
Markus Häberli tritt aus seinem Schneckenhaus. Foto: Peter Pfister
Markus Häberli tritt aus seinem Schneckenhaus. Foto: Peter Pfister

Über die vergangenen zwölf Jahre mutierte Markus Häberli mehr und mehr zum Einsiedler. Jetzt ist der Künstler wieder da – dank viel Kaffee mit einem 80-jährigen Rechtsanwalt.

Vielleicht war ein Flugzeugabsturz der Auslöser für Markus Häberlis Rückzug. 2001 zeigte der Künstler Arbeiten im Allerheiligen, eine grosse Einzelausstellung. Häberli war damals Sprachrohr und aktives Mitglied einer Szene, die die angestaubte Schaffhauser Kunstwelt seit den frühen 80er-Jahren umkrempelte; ein kritischer, aktivistischer Künstler mit unkonventionellen Ideen, ein engagierter Provokateur. Nach der Ausstellung wollte ihn eine renommierte Galeristin unter Vertrag nehmen. «Die Welt wäre für mich wahrscheinlich eine andere geworden», sagt Häberli heute, 18 Jahre später, in seinem wohnlichen Atelier. Doch die Frau stieg in ein Flugzeug – und stieg nie wieder aus.

In der Folge verschwand Markus Häberli sukzessive von der Bildfläche. 2007 baute er zusammen mit seiner Partnerin im Gewerbegebiet im Merishausertal ein Haus, jede Vorhangleiste hängte er selber auf. Der grüne Kubus wurde zum Schneckenhaus, in das sich Häberli seither immer mehr zurückzog. Ade, Kunstbühne.

Der Künstler arbeitete zwar weiter, füllte Laufmeter um Laufmeter in seinem Archiv, abertausende Skizzen, eine Art visuelles Tagebuch, hunderte Kilogramm Papier, er füllte zuerst sein Atelier, dann ein externes Lager mit kleinsten Zeichnungen, metergrossen Bildern, Fotografien, Videos, Objekten. Daneben las er Buch um Buch um Buch, baute eine riesige Bibliothek auf, spannte unablässig neue Fäden in sein künstlerisch-philosophisches Netz.

Kuratorin Tina Grütter schrieb einst, Häberli sehe Kreativität – in Anlehnung an Josef Beuys – «als Aufruf zur Veränderung der Welt». Doch der Welt blieb Häberlis Schaffen zuletzt fast gänzlich verborgen. Ein Dutzend Jahre lang stellte er nicht aus. Bis jetzt.

Das Frühwerk in der Mulde

Vielleicht war die Zerstörung seines Frühwerks der Auslöser für Markus Häberlis heutiges Comeback. Als 1986 das Schicksal zuschlug, war der Künstler zusammen mit Carlo Domeniconi und Kurt Bruckner für den ersten Schaffhauser Manor-Kunstpreis vorgeschlagen. Er hatte gerade ein neues Atelier bezogen, in der ehemaligen Backstube des Dolder 2, lange bevor es das Dolder 2 war. Dem Handschlag mit dem Vermieter folgte ein Missverständnis. Offenbar wurde der Raum parallel auch noch an einen portugiesischen Kulturverein vermietet. Ausserdem wurde diesem mitgeteilt, falls sich noch Ramsch im Raum befinde, müsse dieser halt abgeführt werden. So landete Häberlis Werk in der Mulde (den Manor-Kunstpreis gewann er trotzdem) –­ und der Künstler selbst im Büro eines ihm bis dato unbekannten Rechtsanwalts: Werner Brandenberger.

Eine Entschädigung brachte Markus Häberli die Begegnung nicht ein – aber eine Freundschaft, die sich als viel wertvoller erweisen sollte.

Irgendwann einmal, vor ein paar Jahren, rief Häberli den fast 80-jährigen Brandenberger an und lud ihn ein zu sich ins Merishausertal; sie verabredeten sich an einem Mittwochmorgen, 10 Uhr, zum Kaffee. Noch bevor der Kaffee kalt war, war klar: aus dem Treffen wird ein Ritual. Mittwochmorgen, 10 Uhr, Kaffee, Werner und Markus, der «Alte» setzte sich in den Eames Lounge Chair, der «erst fast Alte» auf den Eames Ottoman. Das Setting ist immer dasselbe, das Gespräch aber kennt keine Grenzen. Sie reden über Gelesenes, über Unverstandenes, über Philosophie und Gesellschaft. Oder wie der Alte es formuliert: «Von A wie Aalsterben bis Z wie Zynismus; P wie Politik kommt selten vor, W wie Wer treibt’s mit Wem noch seltener, K wie Kunst regelmässig, ebenso K wie Kontingenz.»

Auch der frühere Strafverteidiger und noch frühere Kantonsgerichtspräsident Werner Brandenberger war lange Jahre eine öffentliche Person, phasenweise war er jede Woche in der Zeitung, tat sich nach dem Richteramt immer wieder auch als politischer Kommentator hervor. Seit seiner Pensionierung liest und schreibt er unablässig, füllt zuhause Kiste um Kiste mit Geschichten, Notizen, Gedankensplittern. Abseits der Öffentlichkeit. Seit seinem Abgang versuche er, den seinem ehemaligen Beruf inhärenten Zynismus loszuwerden. Die Umwandlung in Ironie sei ihm bis heute misslungen. Er arbeite aber daran.

Zwei Denker am Stadtrand

Eines Mittwochmorgens sagte der Alte zum erst fast Alten: «Alle machen Projekte. Machen wir doch auch mal ein Projekt.» Heute kommentiert Brandenberger seinen damaligen Ausspruch lakonisch mit: «Alterstorheit». Für Häberli war es der Initiationsmoment seines Comebacks.

Man muss wissen: der erst fast Alte ist ein äusserst zurückhaltender Mann. Dass er die vergangenen zwölf Jahre nicht ausstellte, liegt auch daran, dass er sich nie darum bemüht hat. Anbiederung war ihm schon immer der grösste Graus. Auch wenn er als junger Künstler stattdessen eben auf dem Bau knütteln und seine schäbigen Wohnungen mangels ordentlichem Brennmaterial mit den lackierten Holzzwischenwänden heizen musste, auch wenn sie ihm halt mal wieder das Telefon abstellten; ganz zu schweigen von der damaligen Partnerin und den beiden Söhnen …

«Zum Leidwesen von vielen», sagt er ernst, habe er für Geld nie Kunst machen können. Nach der Kunsti arbeitete er bis vor wenigen Jahren immer wieder als Zeichnungslehrer – das war wohl der Kompromiss. All die «Bildli-Maler», die dann auch noch kleinformatige Serien produzierten, nur damit sie sie besser verkaufen können, würden ihn anwidern. Und ist man erstmal ein paar Jahre weg vom Fenster, wird dieses immer schwerer erreichbar. Doch dann kam ja der Alte mit seiner Alterstorheit.

Es ist rührend zu beobachten, mit welch tiefer Zuneigung die beiden Männer miteinander umgehen, Markus und Werner, wie wohlwollend sie anderer Meinung sind, wie sarkastisch die Spitzen sind, die sie immer wieder gegeneinander abschiessen, und wie sie sich gleichzeitig einhundertprozentig ernst nehmen. Man kommt um die Floskel Männerfreundschaft fast nicht herum.

Der «Alte» und der «erst fast Alte» in ihrer Ausstellung. Foto: Peter Pfister
Der «Alte» und der «erst fast Alte» in ihrer Ausstellung. Foto: Peter Pfister

Der erst fast Alte sagte also Ja zur Idee des «Projekts» und bereitete fortan am Mittwochmorgen jeweils ein Arbeitssetting vor, immer dasselbe: Ein eineinhalb Meter breites Papierband läuft von der Decke nach unten und legt sich, tischtuchgleich, über eine Holzplatte, in die ein Loch eingelassen ist, gross genug, damit ein nicht mehr ganz schlanker Mann hineinpasst. Wenn der Alte kam, 10 Uhr, setzte sich der erst fast Alte jeweils ins Loch und machte sich auf einem Drehstuhl sitzend von innen heraus am Papier zu schaffen, während der Alte am Tisch Platz nahm und sich ebenfalls an die Arbeit machte. Carte blanche, jeder für sich, Zeichnung und Text. Irgendwann war das Papier voll und lief weiter, Markus Häberli schnitt ein neues Loch. So entstanden in zwei Jahren zwanzig Meter.

Die Schnecke und der Hund

Der Künstler im Loch – Markus Häberli hat sich nicht neu erfunden. Das Motiv tauchte schon 1987 auf, als er auf Schloss Haldenstein aus einem Loch im Tisch einen Text von Alexander dem Grossen las. «Aufs Tapet bringen» hiess die Performance. Es ging um den gordischen Knoten, dem Häberli die Frage nach dem richtigen Binden einer Krawatte gegenüberstellte. Wobei es eigentlich um das Performen an sich ging. Knoten, ein anderes Thema, das immer wieder auftaucht, etwa in Häberlis unzähligen Pflanzenstudien, seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit der Naturphilosophie, seit er die Schriften des deutschen Philosophen Gernot Böhme gelesen hat.

Die Kunstprofessorin Sabine Gebhardt schrieb 2001, jede einzelne Arbeit seit Markus Häberlis Frühwerk in den 70er-­Jahren sei «mit dem gesamten Schaffen wie ein textiles Gewebe über inhaltliche und formale Bezüge verknüpft». Das künstlerisch-­philosophische Netz, Häberlis Kosmos.

In der Performance AussenInnenZeit im Konventhaus, die seit gestern Mittwoch bis am Samstag täglich einmal aufgeführt wird, führt Werner Brandenberger seinen Neufundländer durch die eine Tür hinaus, einmal ums Gebäude am Platz herum, und durch die andere Tür wieder ins Konventhaus hinein. In gegenläufiger Richtung bewegt sich eine klassische Musikerin, die Geige spielt zu Radierungen von Markus Häberli. Eine Referenz zu seinen älteren Performances mit Musik? Der Hund des Alten bekommt auf den Rücken eine Art Satteltasche aufgeschnallt, die den überdimensionierten Abguss eines Schneckenhauses trägt. Gehäuse, vielleicht das Kernthema des Künstlers. Neben der Performance sind im Konventhaus diverse kleinere Arbeiten aus Häberlis Kosmos zu sehen. «Ich hätte Material für 20 Ausstellungen», sagt er. Und den Drive will er jetzt auch nutzen. Im September ist bereits die nächste Ausstellung geplant, im Kranz in Ramsen.

Werner wird er auch weiterhin treffen, keine Frage. Mittwochmorgen, 10 Uhr, der Alte im Eames Lounge Chair und der erst fast Alte auf dem Ottoman.

«AussenInnenZeit» wird am Donnerstag (23. Mai) um 18 Uhr, am Freitag (24. Mai) um 19 Uhr und am Samstag (25. Mai) um 20 Uhr im Konventhaus aufgeführt.