Um «Ruhe und Ordnung» zu gewährleisten, dürfen Menschen wie Sana die Stadt nicht betreten. Doch er kann auch nicht nach Gambia zurück. Eine Geschichte aus der Sackgasse.
Die SMS kommt an einem späten Mittwochabend. «Please can I see you? This time I need your help.» Sana und ich hatten uns vor einem Jahr in einer anderen Geschichte kennengelernt, es ging um die Haftbedingungen im Schaffhauser Gefängnis, die von der Anti-Folter-Kommission kritisiert wurden. Sana, 32 Jahre alt, war damals gerade aus der Haft entlassen worden. Er sagte, man habe ihn eingesperrt, weil er illegal in der Schweiz sei.
Heute weiss ich: Die Geschichte damals und die Geschichte heute – es ist ein und dieselbe Geschichte. Sana, so sein Vorname, wurde offiziell nicht eingesperrt, weil er sich illegal in der Schweiz aufhält, sondern weil er die verbotene Zone betrat: die Stadt Schaffhausen. Genau wie jetzt wieder. Diesmal soll er für sein Vergehen, das Übertreten einer roten Linie auf einer Landkarte, ein halbes Jahr ins Gefängnis. Dabei, sagt er, sitze er eigentlich bereits seit sechs Jahren in einer Art Gefängnis.
Sana kam 1985 in einer Kleinstadt in Gambia zur Welt. Sein Vater war Früchtehändler, der Sohn besuchte nie eine Schule, dafür arbeitete er schon als Kind im kleinen Betrieb, fuhr regelmässig über die Grenze nach Senegal, um Früchte zu importieren. Die Familie besass ein Stück Land. Es war kein schlechtes Leben. So erzählt es Sana in seinem düsteren Zimmer im Durchgangszentrum Friedeck in Buch.
Eines Tages aber seien Gangster im Laden aufgetaucht, hätten Geld von seinem Vater erpressen wollen. Doch der habe sich geweigert zu zahlen. Die Gangster seien wieder gekommen, mit Macheten, hätten auf den Vater eingehackt. Überall Blut und Panik. Irgendwie habe er, Sana, plötzlich eine Pistole in der Hand gehalten. Und abgedrückt. Er spricht jetzt laut, im Stakkato, gestikuliert mit den Händen. Die Gangster seien weggerannt. Ausser einer – der sei liegen geblieben.
Ein Pass? Wofür auch …
Sana sagt, er habe fliehen müssen, sonst wäre er wohl aus Rache getötet worden. Sein Vater, zu dem er nach dem frühen Tod der Mutter ein enges Verhältnis hatte, habe ihn weggeschickt. Zuerst sei er ins Nachbardorf gegangen, dann nach Senegal, nach Mali, nach Libyen. Dort habe er ein Boot genommen nach Italien. Erstmals von Behörden kontrolliert wurde er 2012 in der Schweiz; ein kleiner, dunkelhäutiger, damals 27-jähriger Mann ohne Gepäck, der nicht weiss, wie ihm geschieht.
Er habe nie einen Pass gehabt, sagt Sana. Er habe nie einen gebraucht. Wenn man ihn fragt, wie er denn zu Hause in Gambia seine Identität habe beweisen können, schaut er einen verständnislos an. Man sehe doch an seinem Gesicht, dass er er sei. Staatlichkeit, Asylverfahren, Rekursfristen – noch heute scheint Sana heillos überfordert mit seiner Situation.
Sein Asylantrag wurde 2013 abgewiesen, doch ohne Pass konnte man ihn nicht zurückschaffen nach Gambia. Seither wohnt er in der Friedeck in Buch, oberer Kantonsteil, ein paar Bauernhäuser, ein paar Felder, 300 Einwohner. Pro Woche erhält er 21 Franken, manchmal darf er ein wenig arbeiten, über das Sozialamt, für ein paar Franken die Stunde. Die Bauern, denen er bei der Ernte hilft, sagen, er sei herzlich, motiviert, pünktlich, ein guter Feldarbeiter. Reguläre Arbeit ist ihm jedoch verboten. Ansonsten, sagt er, gebe es nichts zu tun, absolut nichts, seit Jahren. Auch Besuch komme keiner. Es sei unglaublich zermürbend.
Etwas Zerstreuung gäbe es einzig in Schaffhausen. Hier hat Sana Leute kennengelernt, hier hat er Freunde, hier kann er mal ausgehen am Abend, sehen, wie die Schweiz funktioniert. Hier kann er leben. Doch hier will man ihn nicht haben.
Volksdroge Marihuana
Die Verfügung, die dafür sorgt, dass Sana praktisch festsitzt in Buch, hat nicht ein Gericht erlassen, sondern das kantonale Migrationsamt. Das Rayonverbot nach Artikel 74 des Ausländergesetzes besagt, dass Sana das Betreten der Altstadt verboten ist, nur die Bahnhofstrasse ist erlaubt, zum Umsteigen in einen Bus oder Zug – wieder weg von Schaffhausen.
Eine solche sogenannte «Ausgrenzung» kann das Migrationsamt über Menschen verfügen, die keine Aufenthaltsbewilligung haben und «die öffentliche Sicherheit und Ordnung stören oder gefährden».
Gemäss Amtsleiter Beat Hartmann sind derzeit nur sechs der 97 abgewiesenen Asylsuchenden des Kantons vom Stadtgebiet ausgegrenzt. «Die anderen können sich normal verhalten.» Zu einzelnen Fällen kann sich Hartmann nicht äussern, er sagt aber, die Massnahme diene insbesondere der Bekämpfung des Drogenhandels.
Ein Blick in Sanas Strafregister, das er ohne zu zögern zur Verfügung stellt, zeigt tatsächlich mehrere Drogendelikte. «Nur kleine Mengen», sagt Sana. Im muslimischen Gambia ist Marihuana eine Volksdroge und hat einen ähnlichen Stellenwert wie hierzulande der Alkohol.
Der Strafregisterauszug zeigt aber auch, dass Sana 2014 erstmals wegen eines Drogendelikts gebüsst wurde, ein Jahr nachdem das Migrationsamt das Rayonverbot ausgesprochen hat.
Beat Hartmann erklärt, der Drogenhandel müsse nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden für eine Ausgrenzung: «Es braucht dafür keinen Strafbefehl, es reicht aus, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört oder gefährdet wird.» Und dafür wiederum würden auch geringfügige Verfehlungen ausreichen: «Bei Betäubungsmitteln sind wir streng.» Grundsätzlich aber könne sich jeder mal etwas zuschulden kommen lassen. Ausserdem würde die Ausgrenzung periodisch überprüft, und wenn sich jemand längere Zeit «wohl verhalten» habe, könne eine Ausgrenzung auch wieder aufgehoben werden.
23 Stunden in der Zelle
Sana hat sich nicht immer «wohl verhalten». Auch das zeigt das Strafregister. Einmal hatte er einen «Streit», wie er es nennt, mit einem anderen Bewohner im Durchgangszentrum. Man liest von einer einfachen Körperverletzung, mehreren Sachbeschädigungen, «Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte».
Nein, Sana ist kein Lamm, er weiss sich zu wehren. Hätte er das nicht gelernt, hätte er die lange Flucht wohl nicht überstanden. Vor allem aber, und das ist ihm immer wieder zum Verhängnis geworden, hält er sich nicht an die Ausgrenzung.
Beat Hartmann sagt, auch ausgegrenzte Migranten würden immer noch menschenwürdig behandelt. Sana sagt: «Look at my situation, it’s crazy!» Er steht in seinem düsteren, trostlosen Zimmer – ein altes Sofa, ein Tischchen mit Tabakwaren und einer kleinen Musikbox, eine sehr notdürftige Kochnische – und verwirft die Hände. «What should I do here? I’m a human being!» Ich bin doch ein Mensch!
Also ging er eben trotzdem immer wieder in die Stadt, traf andere Menschen. Und wurde dafür immer wieder gebüsst. Zuerst waren es bedingte Haftstrafen, irgendwann musste er sie absitzen. Dann wurde es ruhig um Sana. Bis er am späten Nachmittag des 10. März 2019 den Bus in die Stadt bestieg.
Kurz zuvor war sein geliebter Vater in Gambia gestorben, die Geschwister hatten sich verkracht. Eine schwierige Zeit für den mittlerweile 33-Jährigen, der hilflos in Buch festsitzt, zum Nichtstun verdammt. Er wollte sich zerstreuen, blieb bis in die Nacht in Schaffhausen, ging in einen Club. Und wartete anschliessend in einer Bar auf den ersten Bus, der morgens um 6 Uhr nach Buch zurückfahren sollte.
Doch um 5:30 Uhr betrat eine Polizeistreife die Bar. Der Strafbefehl ist ein Nackenschlag: Sechs Monate Gefängnis sind es diesmal, unbedingt, die Strafen werden immer höher. Als er zuletzt im Gefängnis war, sass er 23 Stunden pro Tag in einer Einzelzelle, drehte fast durch. Also tippt er eine SMS: «Please can I see you? This time I need your help.»
Sein Leben darf nicht leicht sein
Ich bin in dieser Geschichte befangen, keine gute Augangslage für einen journalistischen Artikel. Ich habe Sana geholfen, den Strafbefehl anzufechten, zumindest soll er die Rekursfrist nicht einfach planlos verstreichen lassen. Ich habe Termine bei Rechtsberatungsstellen organisiert – und immer ist er zu spät gekommen, er wirkt zwar nett, aber phlegmatisch. «I cannot go to jail», ich kann nicht wieder ins Gefängnis, sagte er immer wieder.
Und doch weiss ich nicht so recht, was ich glauben soll. Sana betont etwa, er habe nie Drogen verkauft. Gut möglich, dass das nicht stimmt. Das Strafregister jedenfalls besagt etwas anderes. In einem anderen Punkt kommen Zweifel auf an der Darstellung der Behörden.
Massnahmen wie das Rayonverbot nach Ausländergesetz sind nicht nur dazu da, «Ruhe und Ordnung» aufrechtzuerhalten. Man will den Menschen, deren Asylgesuch abgewiesen wurde und die sich nicht rechtmässig in der Schweiz aufhalten, das Leben nicht zu einfach machen. Gerade denen, die gegen ihre «Mitwirkungspflicht» verstossen. Ein- und Ausgrenzungen sollen auch Druck aufsetzen auf die Migrantinnen und Migranten und sie zur Mithilfe animieren, sich Ausweispapiere zu beschaffen. Sie sollen gehen. «Das ist der Unterton, ja», bestätigt auch Beat Hartmann vom Schaffhauser Migrationsamt.
Es geht bei Sanas Rayonverbot nicht nur um Drogen.
Damit suggerieren die Behörden, Sana könne Papiere beschaffen, er müsse nur wollen. Doch stimmt das auch?
Gambia ist keine verbrannte Erde
Das gambische Konsulat schreibt auf Anfrage, es würde schnell Ausreisepapiere ausstellen, wenn gambische Staatsbürger auf dem Konsulat einen entsprechenden Antrag stellten und ein paar einfache Fragen beantworten könnten. Auch das Staatssekretariat für Migration sagt, gambische Staatsangehörige würden durch den Konsul «meist mühelos und rasch identifiziert», danach würden Dokumente vor Ort ausgestellt und ausgehändigt.
Doch ist das tatsächlich so einfach?
Sana sagt, er wolle ja selbst nicht hierbleiben. «Wenn sie mich lassen würden und mich meine beiden Beine nach Afrika tragen, ich schwöre, ich würde sofort gehen!», sagt er. Auch wenn es für ihn wohl immer noch gefährlich sei in seinem Dorf. In Gambia lebt seine Exfrau, die irgendwann nicht mehr auf ihn warten konnte, zusammen mit der gemeinsamen Tochter, die Sana noch nie gesehen hat. Die Augen werden feucht, wenn er von ihnen erzählt. Vor zwei Jahren musste ausserdem der diktatorische Langzeitherrscher Yahya Jammeh die Macht im Land abgeben. Es gibt Hoffnung für die junge Demokratie. Gambia ist für Sana nicht einfach verbrannte Erde.
Sein Problem sei, dass er keinerlei Papiere besitze und auch die Geburtsurkunde in seiner Heimatstadt unauffindbar sei, jetzt, nach dem Tod des Vaters, sowieso. Er habe sehr wohl versucht, auf dem gambischen Konsulat Papiere zu bekommen. Die Fragen, die man ihm dort gestellt habe, habe er aber nicht beantworten können. Und sie hätten ihm gesagt, sein Dialekt passe nicht zu seiner Erzählung. «I am from Gambia! I should know that!» Wenn einer weiss, woher ich komme, dann ja wohl ich!
Beat Hartmann sagt, er habe immer wieder erlebt, dass abgewiesene Asylsuchende jahrelang keine Reisepapiere hätten auftreiben können und es dann plötzlich doch innert weniger Tage geklappt habe – etwa wenn die Menschen in ihr Heimatland reisen wollten, um einen Verstorbenen zu bestatten.
Vielleicht liegt die Wahrheit ja irgendwo in der Mitte. Man kann aber auch versuchen, sich ihr durch einen Umkehrschluss anzunähern: Warum geht Sana nicht einfach zurück nach Gambia, wenn es so einfach ist, wie die Behörden behaupten? Warum sollte ein junger Mann freiwillig jahrelang in einem abgeschiedenen Dorf vor sich hinvegetieren? Wieso sollte er hierbleiben, wo er weiss, dass man ihn ins Gefängnis wirft, wenn er mal wieder den Drang verspürt, nicht allein zu sein?
Was er jetzt tun wird? Warten. Wie immer. Bis irgendwann irgendetwas passiert.