Heimlich abgehört

16. April 2019, Kevin Brühlmann
Symbolbild: Peter Pfister
Symbolbild: Peter Pfister

Bespitzelung des Personals und ein Strafregister: Der Leiter des Thaynger Altersheims setzt auf dubiose Führungsmethoden.

An einem Dienstagabend im Herbst 2017 fährt eine Handvoll Angestellter des Altersheims Thayngen ins Restaurant «Rosenegg» nach Rielasingen. Bei einem Essen will man einen langjährigen Kollegen verabschieden, der sich mit der Heimleitung überworfen und gekündigt hat. In privatem Rahmen reden die Angestellten auch über ihre Arbeit, etwa über den Heimleiter oder das neue Inventar.

Am nächsten Tag wird eine dieser Angestellten zum Heimleiter zitiert. Als sie bei ihm ist, nimmt er ein Dokument in die Hand und liest daraus vor. Es sind Aussagen, die sie am Abend zuvor während der privaten Abschiedsfeier gemacht hat. Die Angestellte ist schockiert; die Aussagen stimmen peinlich genau – etwa, dass sie sagte, das neue Geschirr sei nicht zumutbar. Also fragt sie den Heimleiter, woher er die Aussagen habe. Nach einigem Hin und Her gibt er zu, dass eine weitere Angestellte, die beim Abschiedsessen dabei war, das Gespräch im Restaurant unbemerkt dokumentierte und an ihn weitergab.

Er drängt sie, das Protokoll mit den belastenden Aussagen zu unterschreiben. Sie weigert sich, worauf sie eine Abmahnung kassiert. Später wird die Angestellte entlassen. Die Spitzelin hingegen, damals einfache Mitarbeiterin, hat heute eine Kaderposition inne.
Ein Heimleiter, der seine Angestellten privat überwachen lässt? Der ihm zugeneigte Mitarbeitende als Spitzel beauftragt? Der das Ausspionieren mit Beförderungen belohnt?

Das klingt verrückt, nach DDR-Methoden. Doch genau so erzählt es die abgehörte Angestellte gegenüber der AZ. Belegt wird diese Version durch ein Dokument. Darin gesteht die Spitzelin, dass sie das Gespräch ihrer Arbeitskolleginnen und -kollegen dokumentierte und weitergab (offen bleibt, ob das Wortprotokoll auf einer Handy-Tonaufnahme oder auf Weitererzählen basiert).

Die Angestellte ist nicht die Einzige, die von Bespitzelungen berichtet. Rund ein Dutzend aktueller und ehemaliger Angestellter hat sich bei der AZ gemeldet, «um über die Zustände im Heim» zu reden. Die grösstenteils langjährigen Mitarbeitenden sind, mit einer Ausnahme, aus freien Stücken auf die Zeitung zugekommen. Die AZ berichtete bereits mehrmals kritisch über das Heim.

Alle Angestellten sprachen von einer «Notsituation» im Heim, von «Kontrollwahn» des Heimleiters und einem «katastrophalen Arbeitsklima».


78 von 100 weg

Der Heimleiter, er heisst Stefan Dennler, tritt seine Stelle im August 2016 an. Gemeindepräsident Philippe Brühlmann, der fürs Altersheim zuständig ist, beauftragt Dennler, «aufzuräumen». Denn kurz zuvor hatte eine externe Qualitätsanalyse ergeben, dass das Heim mehrere Dutzend Mängel aufweise.

Die Mitarbeitenden bekommen Dennler erst an seinem ersten Arbeitstag zu Gesicht. Eine Pflegerin erinnert sich: «Es war heiss, ein Augusttag. Herr Dennler trug einen Anzug und schwitzte stark. Ich bot ihm ein Glas Wasser an. Doch er herrschte mich nur an: ‹Welche Funktion haben Sie hier?›» Ein anderer Pfleger sagt: «Ich fand es merkwürdig, dass er eine Napoleon-Figur in seinem Büro aufstellte. Mit der Zeit verstand ich, weshalb.»

Schon nach wenigen Wochen beginnt ein Personal-Exodus. Die Angestellten, die heute noch da sind, nehmen es mit Galgenhumor. Die Begrüssung unter den Dagebliebenen lautet so: «Oh, du bist immer noch hier?»

Im Zeitraum zwischen jenem August 2016 und Ende Januar 2019 verliessen 51 der insgesamt 100 Angestellten den Betrieb. Dies zumindest ist die Zahl, die Gemeindepräsident Brühlmann gegenüber der AZ nennt. Als Begründung für die Abgänge sagte der SVP-Politiker wiederholt, dass die allermeisten Angestellten Veränderungen akzeptieren würden «und einige eben nicht».

In einem internen Dokument, das für den Gemeinderat bestimmt ist, werden im gleichen Zeitraum sogar 78 Abgänge aufgeführt, davon allein 48 in der Pflege. Neben dem Austrittsdatum sind auch die Gründe für die Kündigungen aufgeführt (die meisten gingen von sich aus). Dort werden mehrheitlich Fehler der Angestellten angegeben: «Kann mit Situation in Demenzabteilung nicht umgehen», «gegenseitiges Missvertrauen [sic], schlechte Arbeitsleistung», «Wollte nicht mehr in der Nacht arbeiten» oder «Ungenügende Arbeitsleistung sowie Missbruch [sic] Vertrauen».

Die Angestellten, die sich bei der AZ gemeldet haben, schütteln den Kopf. Nachdem sie alle jahrelang gute bis sehr gute Qualifikationen erhalten hatten, wurden sie in den letzten zweieinhalb Jahren zum Teil massiv schlechter bewertet. Drei Viertel von ihnen haben mittlerweile gekündigt. Sie haben problemlos eine neue Stelle in einem anderen Altersheim gefunden.

Sie alle sagen, sie hätten gerne weiterhin in Thayngen gearbeitet, doch sie hätten es nicht mehr ausgehalten. Warum nicht?

1. Kontrollsytem
«Der Kontrollwahn ist enorm», sagen mehrere Angestellte. Sie berichten davon, wie Heimleiter Dennler an Türen lausche. Oder wie er mit dem Handy herumlaufe und Fotos von Fehlern der Angestellten mache, zum Beispiel von Taschen, die nicht versorgt wurden. Er führe eine Art «Strafregister», worin er sämtliche Verfehlungen mit Datum dokumentiere. Dabei greife er auf ein System von Informantinnen und Informanten zurück, wie zum Beispiel bei der Bespitzelung des privaten Abschiedsessens.

Eine Pflegerin erzählt: «Er warf mir vor, ich hätte Medikamente vom Boden aufgelesen und einer Bewohnerin gegeben. Abgesehen davon, dass das nicht stimmt, war er an diesem Tag gar nicht vor Ort. Als Quelle kommt höchstens das Reinigungspersonal infrage, das damals auf demselben Stock arbeitete.»

2. Niedrige Löhne
Mindestens zwei Pflegehilfen absolvierten eine Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit. Nach erfolgreicher Abschlussprüfung erhielten sie jedoch nicht – wie früher üblich – den vollen Lohn als Fachkraft, sondern weiterhin den Ansatz für Pflegehilfen. Dies, obschon die Funktion im Stellenbeschrieb nach der Ausbildung auf «FaGe / FaBe» angepasst wurde (einer dieser Stellenbeschriebe liegt der AZ vor). Beschwerden wurden vom Gemeinderat abgewiesen; die Löhne wurden bis heute nicht angepasst. Bei den Verhandlungen habe sich Dennler «aggressiv wie eine englische Bulldogge» verhalten, so eine Angestellte.

3. Personalnot
«Wir sind in einer Notsituation», sagen mehrere Pfleger und Pflegerinnen. Der Personalmangel sei akut. «Man weiss nie, ob am nächsten Tag genug Personal da ist.» Pro Tag seien zwei bis vier externe Pflegende anwesend, die tageweise von der Zürcher Personalvermittlungsfirma Joker AG kämen. Die Externen verdienten deutlich mehr, ausserdem tauchten sie teilweise gar nicht auf. «Manchmal kommt es auch vor, dass nur Joker-Personal auf einer Station arbeitet – dabei kennen sie die Namen der Bewohner gar nicht», sagen die Pflegenden. Auch neue Lernende seien seit zwei Jahren nicht mehr eingestellt worden.

4. Verdacht auf Bevorzugung
Nach Stefan Dennlers Stellenantritt verliess das gesamte Kader – Pflege, Hausdienst, Service und Küche – nach und nach das Heim. Die Stellen seien mit Leuten besetzt worden, die Dennler von früher kenne, sagen mehrere Angestellte. Grosse Unzufriedenheit herrscht insbesondere mit dem neuen Leiter der Pflegeabteilung. Dennler habe ihn Anfang 2017 quasi im Alleingang eingestellt, sagen Personen, die Einblick in den Prozess hatten, «obwohl sein Bewerbungsdossier fast leer war». Heikel auch, dass kurz darauf die Schwester des Pflegeleiters eine Kaderposition antrat, obschon sie seit Jahren nicht mehr in der Pflege gearbeitet hatte.

5. Kein Rückhalt in der Politik
Die Aufsicht über das Altersheim haben der Gemeinderat um Präsident und Heimreferent Philippe Brühlmann sowie die Kommission für Gesundheit und Alter – deren Präsident Brühlmann ist. Da Stefan Dennler das volle Vertrauen des Gemeindepräsidenten geniesst, laufen Beschwerden von Angestellten oft ins Leere, etwa bei den erwähnten Lohnverhandlungen. «Wir wissen nicht mehr, an wen wir uns wenden sollen», sagen diverse Mitarbeitende.

Auf der anderen Seite forderte Stefan Dennler mehrmals schriftlich die Absetzung von zwei Kommissionsmitgliedern. Denn Werner Hakios (FDP) und Paul Zuber (SP) hatten unbequeme Fragen gestellt. Dennlers Angriffe blieben jeweils ohne Folge für ihn.

Wie Recherchen der AZ zeigen, schrieb das Altersheim im Jahr 2018 einen Verlust von 1,4 Millionen Franken – eine halbe Million mehr, als budgetiert war. Dies wird die Gemeinde im Mai bei der Rechnungspräsentation bekannt geben. Gemeindepräsident Brühlmann will diese Zahl nicht kommentieren.


Freundlicher Herr Dennler

Die AZ schickte Stefan Dennler einen langen Katalog mit den erwähnten Vorwürfen – Kontrollsystem, niedrige Löhne, Personalnot, Kaderauswechslung, Mehrkosten – und bat ihn um eine Stellungnahme. Per Telefon schlug Dennler vor, die Fragen in einem Gespräch zu klären, und lud die AZ an einem Dienstagabend um halb sechs Uhr zu sich ins Altersheim.

Ein ausgesprochen freundlicher Stefan Dennler, ein Mann Mitte 40 mit Dreitagebart und Gel im Haar, empfängt uns. Er möchte lieber nicht, dass die Unterhaltung aufgezeichnet werde, sagt er. Zunächst hebt er die Wichtigkeit des Journalismus hervor. «Ich», sagt er, «respektiere Ihre Arbeit und achte sie.»

Dennler erklärt sanft, dass er nicht auf die einzelnen Fragen eingehen wolle. «Ich will den Teufelskreis von Vorwürfen und Verteidigung durchbrechen, damit wieder Ruhe einkehren kann», sagt er. «Ich habe Fehler gemacht, aber ich habe nicht alle begangen, die man mir nachsagt. Ich war zu schnell mit dem Veränderungsprozess.» Trotzdem, fügt er an: «Von der damaligen Ausgangslage her wäre ich auch heute wieder gezwungen, schnell zu handeln.» Nur ein paar Punkte wolle er klarstellen: Etwa die Bewerbung der Schwester des kritisierten Pflegeleiters – «die stach heraus».

Er sei jederzeit für eine interne Untersuchung zu haben, so Dennler weiter, er habe nichts zu verbergen; auch mit ehemaligen Angestellten spreche er gerne. Tatsächlich sei er es gewesen, der im vergangenen Sommer eine Mediation zwischen Heimleitung, Personal und Politik angeregt habe.

Als es nach einer guten Stunde ans Verabschieden geht, erkundigt sich Dennler vorsichtig: «Und, was haben Sie für ein Gefühl, sehe ich wirklich wie das personifizierte Böse aus?


Gescheiterte Mediation

Apropos Mediation. Ab August 2018 fanden mehrere Sitzungen unter der Leitung einer Konfliktmanagerin statt. Die angespannte Lage sollte so entschärft werden. «Das Geld hätte man genauso gut dä Häse geben können», sagen mehrere beteiligte Personen. «Die Mediation hat nichts gebracht.»

Sie erzählen folgende Anekdote: An der ersten Sitzung habe Stefan Dennler sein Strafregister gezückt und kritischen Angestellten ihre Verfehlungen vorgehalten. Als sich jemand gegen die Vorwürfe habe wehren wollen, sei die Diskussion eskaliert. Dennler sei ausgeflippt und aggressiv aufgetreten. Schliesslich habe Gemeindepräsident Philippe Brühlmann einspringen und die Sitzung kurz vor dem Ende abbrechen müssen.

«Bei der Mediation fühlte ich mich wie auf dem Schlachthof», sagt eine Angestellte. «Mittlerweile habe ich gekündigt und sofort eine neue Stelle gefunden.»



*****

Jetzt muss einer gehen

Ein Kommentar von Marlon Rusch

Es sind Methoden, die meine Generation nur noch von den Geschichtsbüchern und dem Spielfilm «Das Leben der Anderen» kennt: Kleine Leute werden bespitzelt, ohne ihr Wissen abgehört – und wenn sie auch nur leise Kritik am System üben, geht es ans Eingemachte.

Nun hat sich ein Altersheimleiter in Thayngen aufgemacht, das Erbe des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes weiterzuführen.


Wie Sie in unserer Recherche oben lesen können, hat Stefan Dennler das Altersheim Thayngen seit seinem Amtsantritt im August 2016 massiv umgekrempelt und ein System implementiert, das dafür gesorgt hat, dass in nur zweieinhalb Jahren 78 der 100 (sic!) oftmals langjährigen Mitarbeitenden das Altersheim verlassen haben. Es ist ein Aderlass, der seinesgleichen sucht.


Penibel dokumentierte Dennler in seinem Kontrollwahn kleinste Verfehlungen seiner Untergebenen in einer Art Strafregister, absichtlich hält er die Löhne tief und hat die Ausgaben dennoch überhaupt nicht im Griff: Für 2018 wird er ein Minus präsentieren müssen, das rund 50 Prozent höher ist als budgetiert. Dennler bevorzugt bei der Besetzung vakanter Positionen Bekannte, während er Spitzel eingesetzt hat, um unliebsame Mitarbeitende in der Freizeit abzuhören und ihnen anschliessend zu kündigen – und den Spitzel zu befördern.


Die AZ-Recherche stützt sich auf eine Vielzahl von Gesprächen und Dokumenten – und Stefan Dennler versucht erst gar nicht, die Vorwürfe zu entkräften.


Wie, dürften Sie sich fragen, ist das alles überhaupt möglich?
Die Antwort ist einfach: Philippe Brühlmann.


Der SVP-Kantonsrat ist Gemeindepräsident von Thayngen. Doch er ist mehr als das. Er ist auch Personalverantwortlicher der Gemeinde. Und er ist Präsident der Gesundheitskommission. Hat eine Mitarbeiterin des Altersheims ein Problem mit Dennler, hat sie nur eine Ansprechperson: Philippe Brühlmann.


Doch Brühlmann ist Dennlers Kumpel. Er hat den Altersheimchef 2016 geholt und ihn seither immer wieder verteidigt. Nachdem die AZ ab März 2018 wiederholt Kritik an dessen Amtsführung geäussert hatte, schrieb Philippe Brühlmann von einem «unnötigen Medienhype».


Die Probleme aber, die hat er – bis auf einen kläglich gescheiterten Mediations-Versuch – einfach ignoriert. Noch im März 2019 sagte er in einem SN-Interview, die negative Berichterstattung in der AZ sei schuld daran, dass das Altersheim nicht genügend neues Personal finde. Brühlmanns Narrativ: Dennlers Reform ist nötig, das Personal muss sich anpassen.


Natürlich war das Umfeld mit dem Umbau des Altersheims nicht einfach, und man kann auch nicht leugnen, dass dem Altersheim ein paar sanfte Reformen gut angestanden wären.


Wenn solche Reformen aber dafür sorgen, dass plötzlich über drei Viertel aller Mitarbeitenden weg sind, ist etwas gehörig schiefgelaufen.
Schon seit den ersten Medienberichten vor einem Jahr hatte Philippe Brühlmann keine Argumente mehr, an Stefan Dennler festzuhalten. Jetzt ist klar: Dennler muss weg.


Und wenn Brühlmann wieder nichts tut in der grössten Baustelle seiner Gemeinde, muss man sich fragen, ob er noch der richtige Mann ist für das Amt.