Es begann mit kleinen Einbrüchen. Bald folgten gewalttätige Überfälle. Irgendwann konnte er nicht mehr aufhören – bis sein Freund im Rollstuhl landete. Die Geschichte eines Wiederholungstäters.
Der wilde Ritt des Lulzim Hoti endete am frühen Morgen des 4. Oktober 2014 im Sport-Shop Enge in Beringen. Um 4.30 Uhr geriet der 22-Jährige mit dem Volvo V40 2.0 T seines Vaters ins Schlingern, querte die Gegenfahrbahn und prallte in zwei Stützpfeiler der Hausfassade. Er war viel zu schnell unterwegs. Teile des Autos schossen durchs Schaufenster. Der Fahrer verlor das Bewusstsein. In seinem Blut mass die Polizei später 1,44 Gewichtspromille Alkohol und 3,2 Mikrogramm THC pro Liter. Dafür fand sie in seiner Brieftasche keinen Führerschein; Lulzim Hoti hatte nie einen gemacht.
Seit dieser verhängnisvollen Nacht sitzt sein zwei Jahre jüngerer Freund Amir Berisha, der neben ihm im Volvo sass, obwohl er nie hatte einsteigen wollen, im Rollstuhl. Die Ärzte haben eine fortdauernde Tetraplegie ab dem 5. Wirbelkörper diagnostiziert. Berisha wird nie mehr laufen können und ist «im Alltag bei allen Verrichtungen auf Hilfe Dritter angewiesen». Seither haben Hoti und Berisha, die in Wahrheit anders heissen, kein Wort miteinander gesprochen.
Der wilde Ritt begann eine knappe Stunde vor dem Unfall. Lulzim Hoti und Amir Berisha hatten den ganzen Abend im Haus von Hotis Eltern gesessen, DVDs geschaut und Drogen genommen. Doch die Drogen hatten auf die beiden unterschiedlich gewirkt. Während Berisha immer phlegmatischer wurde, war Hoti zusehends aufgeputscht. Und als Berisha nach Hause wollte und einen Freund anrief und bat, ihn abzuholen, insistierte Hoti. Obwohl der Freund bereits gekommen war, bestand Hoti darauf, Berisha selbst nach Hause zu fahren. Das Gericht wird später sagen, er habe mit seinen Fahrkünsten angeben wollen.
Früher am Abend hatte bereits seine Schwester versucht, Lulzim Hoti die Autoschlüssel abzunehmen – vergeblich. Und auch der Freund, den Berisha bestellt hatte, konnte Hoti nicht von seinem Vorhaben abbringen. Berisha selbst war von den Drogen so betäubt, dass er sich nicht wehren konnte, als Hoti ihn am Arm packte und in den Volvo zerrte. So nahm der wilde Ritt des Lulzim Hoti seinen Anfang. Doch eigentlich begann er schon viele Jahre zuvor.
Der heute 28-Jährige ist das, was die Justiz einen «Wiederholungstäter» nennt. Als sich der Unfall ereignete, war gerade ein anderer Fall Lulzim Hotis beim Schaffhauser Obergericht hängig. Das Kantonsgericht hatte ihn im Sommer 2013 zu 34 Monaten Gefängnis verurteilt. Doch Hoti hatte Berufung eingelegt.
Dieser erste Fall Hoti umfasste 18 Dossiers, wobei die Diebstähle und Körperverletzungen, die er als Minderjähriger begangen hatte, oft unbeirrt von laufenden Strafverfahren und dreimaliger Untersuchungshaft, bereits separat verhandelt worden waren. Bereits damals war er zu einer bedingten Gefängnisstrafe verurteilt worden.
Es ist ein beachtlicher Katalog an Straftaten, die im Sommer 2013 verhandelt wurden: mehrfacher Raub, mehrfacher Diebstahl, mehrfache Sachbeschädigung, mehrfacher Hausfriedensbruch, mehrfache Drohung, mehrfache einfache Körperverletzung, Hehlerei, mehrfache Tätlichkeiten, Verletzung der Verkehrsregeln, Führen eines Motorfahrzeuges in fahrunfähigem Zustand, Entwendung zum Gebrauch, mehrfaches Fahren ohne Führerausweis, mehrfache Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes.
Wiederholt war Lulzim Hoti in Restaurants eingebrochen, hatte Bargeld und Schnaps gestohlen, er hatte Passantinnen auf offener Strasse attackiert, er hatte sie bewusstlos geschlagen, einen Mann mit einem Aschenbecher verletzt, von Jugendlichen Geld und Drogen erpressen wollen, er hatte ihnen Handys und Brieftaschen weggenommen, sie mit dem Tod bedroht.
Fast drei kleine Kinder überfahren
Ein Schlaglicht: Am 13. Dezember 2010, kurz vor Mitternacht, schlug er eine junge Frau in der Stadt unvermittelt von hinten zu Boden und raubte ihre Sachen. Die Frau verlor beide Schaufelzähne, brach sich den Kiefer, erlitt eine Gehirnerschütterung. Das Obergericht urteilte später, Lulzim Hoti habe sie aus einer zufälligen Laune heraus überfallen, aus reinem Egoismus und reiner Habgier. Er habe lediglich Geld gebraucht, um Drogen zu kaufen.
Die Frau schrieb ihm später einen Brief, wollte sich mit ihm treffen, um das Erlebte aufzuarbeiten, schrieb, das sei er ihr schuldig. Hoti rief sie an und sagte: «Hättest du auch etwas freundlicher schreiben können. Wenn du so schreibst, brauchst du dich nicht wundern, wenn die Leute nicht nett sind zu dir.» Er schimpfte noch auf die Polizei und warf ihr vor, sie habe ihn nur verfolgt, weil er Ausländer sei. Dann legte er auf. Ein Treffen fand nie statt.
Eine erstaunlich ruchlose Reaktion, gerade wenn man bedenkt, in welchem Zusammenhang er nur drei Monate zuvor mit der Polizei in Kontakt kam.
Am 2. September 2010 stahl ein Freund von Hoti einen Opel Corsa. Er selbst drehte mit dem Auto einige Runden, zweieinhalb Stunden bretterte er, teils mit überhöhter Geschwindigkeit, auch damals ohne Führerschein, quer durch den Kanton. Am nächsten Tag ging er wieder zum Wagen, vorher hatte er einige Joints geraucht. Er stieg erneut ein und fuhr los. Doch diesmal heftete sich die Polizei an seine Fersen. Lulzim Hoti floh, driftete in Neuhausen über eine Wiese. Drei spielende Kinder konnten gerade noch wegspringen, sonst wären sie überrollt worden. Hoti sprang aus dem fahrenden Wagen und versuchte, zu Fuss zu flüchten. Das Obergericht spricht von einer «halsbrecherischen Verfolgungsjagd mit der Polizei».
Der Lulzim Hoti, der am Morgen des 19. Februar 2019 das Schaffhauser Gerichtsgebäude betrat, um vor dem Obergericht Rede und Antwort zu stehen über seinen verhängnisvollen, wilden Ritt, hatte mit dem grossspurigen Räuber vom September 2010 nicht mehr viel gemeinsam. Zumindest gab er sich grosse Mühe, dass das Gericht das glaubte.
Die Anklagepunkte: fahrlässige Körperverletzung, Führen eines Motorfahrzeuges in fahrunfähigem Zustand und Führen eines Motorfahrzeuges ohne Führerausweis. Die Vorinstanz, das Kantonsgericht, hatte ihn am 5. April 2018 zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt. Lulzim Hoti legte Berufung ein.
Das Obergericht war für ihn nichts Neues. Bereits im August 2016 war er hier erschienen, damals ging es um den anderen Fall, um die 18 Dossiers. Das Obergerichtsverfahren war mehrmals verschoben worden, weil Hoti nach dem Autounfall nicht verhandlungsfähig war. Auch er als Fahrer war im Unfall vom 4. Oktober 2014 übel zugerichtet worden. Diverse Operationen waren nötig, am Hals ziehen sich heute noch mehrere Narben durch den Dreitagebart. Ausserdem sei er psychisch stark angeschlagen und in Therapie, die man durch das Gerichtsverfahren nicht gefährden wolle, argumentierte sein Verteidiger.
Als das Obergericht dann endlich urteilen konnte, bestätigte es in den meisten Punkten das Urteil des Kantonsgerichts: 34 Monate Gefängnis. Am 6. Februar 2017 musste Lulzim Hoti seine Haft in der Strafanstalt Gmünden antreten. Nach zwei Dritteln der Haftzeit wurde er frühzeitig entlassen; seither bezieht er eine IV-Rente und seit Anfang 2019 arbeitet er Teilzeit in einer geschützten Einrichtung. Doch da kommt bereits der nächste Prozess.
Nichts als Lippenbekenntnisse
Jetzt, am 19. Februar 2019, beim Revisionsverfahren seines wilden Ritts, trat Hoti nicht mehr mit Pflichtverteidiger auf, neben ihm nahm ein schnittiger Zürcher Anwalt mit Manschettenknöpfen aus der Kanzlei von Milieuanwalt Valentin Landmann Platz. Er hatte seinen Mandanten offenbar eingehend instruiert.
Lulzim Hoti gab sich reuig. Er habe Fehler gemacht, es tue ihm «mega leid». Hauptsächlich sprach er aber nicht über das Opfer, sondern über sich selbst. Er leide selbst stark unter dem Unfall, physisch wie mental, fühle sich schlecht wegen seines Freundes, habe Albträume, das Trauma sei ein Stein auf seinem Weg des Fortschritts. Nun aber habe er eine «Chance bekommen», wolle sich «in der Arbeitswelt integrieren». Er appellierte ans Gericht, dieses solle ihn dieser Chance nicht berauben. Sein Mandant, so der Anwalt, sei durch den Unfall schon «genug gestraft». Er forderte eine Reduktion des Strafmasses von 34 auf 8 Monate Gefängnis.
Doch während der Verhandlung kamen erhebliche Zweifel auf. Nicht nur an Lulzim Hotis Version des Tathergangs, bei dem er sich mehrfach in Widersprüche verstrickte. Auch die Betroffenheit von der Querschnittlähmung Berishas wurde von der Staatsanwaltschaft und vom Anwalt Berishas immer wieder mit guten Argumenten angezweifelt.
Als Zuschauer musste man sich fragen: Ist Lulzim Hoti in den vergangenen zwei Jahren im Gefängnis wirklich ein anderer Mensch geworden? Ist der Wiederholungstäter tatsächlich ein geläuterter Mann, der sich ändern und seine Zukunft aktiv anpacken will?
Ein früheres Urteil hatte keine gute Prognose gestellt. Die Unbelehrbarkeit des jungen Mannes sei «kaum zu überbieten», mehrfach habe er Besserung gelobt und sich nie daran gehalten. Bereits früher hatte ein Gutachter eine «hohe Wahrscheinlichkeit» für neue Straftaten beschrieben. Das Urteil besagte weiter, weder eine berufliche Integration noch aufrichtige Einsicht und Reue seien bei Lulzim Hoti auszumachen. Seine wiederholten Beteuerungen, er wolle sein Leben ändern, in die Schule gehen und Karriere machen, seien reine «Lippenbekenntnisse» gewesen. Viele Chancen seien ihm gewährt worden, alle habe er vertan. Auch die Therapie in der Rehaklinik, die er vor Gericht selbst als eminent wichtig für seine Integration gepriesen habe, habe er trotz Kostengutsprache frühzeitig abgebrochen.
Das Kantonsgericht hatte ihm im April 2018 fehlende Einsichtsfähigkeit und eine «regelrechte Rücksichtslosigkeit gegenüber der hiesigen Rechtsordnung und den Rechtsgütern seiner Mitmenschen» attestiert. In der Strafanstalt sei er bereits viermal wegen Verstössen gegen die Hausregeln diszipliniert worden.
Das kratzte an der Glaubwürdigkeit. Das Obergericht sah keinen Grund, das Urteil des Kantonsgerichts zu revidieren. Die Berufung wurde abgewiesen, Lulzim L. muss erneut für 22 Monate ins Gefängnis. Eine Zivilklage seines ehemaligen Freunds Amir Berisha, der nun im Rollstuhl sitzt, ist noch hängig, ausserdem hat ihn Berisha betrieben – er fordert offenbar drei Millionen Franken.
Warum keine Massnahme?
Aber ist die Angelegenheit damit abgehakt? Genügt es, einen Wiederholungstäter erneut einzusperren und zu hoffen, er bessere sich, obwohl die Prognosen genau das Gegenteil prophezeien?
Studien besagen, dass weniger als 10 Prozent der jugendlichen Täter für mehr als 50 Prozent der Straftaten ihrer Altersgruppe verantwortlich sind. Das zieht sich von Bagatelldelikten bis zu schweren Verbrechen. Für die Delinquenzentwicklung seien biologische, psychologische und soziale Merkmale relevant. Das Suchtverhalten wird etwa genannt oder das soziale und familiäre Umfeld.
Lulzim Hotis Eltern waren bei der Verhandlung vor Obergericht dabei. Sie standen voll und ganz hinter ihrem Sohn. Das Facebook-Profilbild des Vaters zeigt Vater und Sohn, wie sie cool im Unterhemd auf einem Balkon posieren und Zigarre rauchen. Am Abend des Autounfalls bekam der Sohn von der Mutter Geld, um sich Essen zu bestellen, während er mit seinem Freund DVDs schaute. Früher wurde Lulzim Hoti mindestens einmal ausfällig, als ihm die Mutter kein Geld geben wollte, um Marihuana zu kaufen. Er zertrümmerte ein Fenster.
Nach dem Strafvollzug in Gmünden wohnte der Sohn wieder bei den Eltern, sie verwalten sein Geld. Dabei kam ein psychiatrisches Gutachten bereits Ende 2015 zum Schluss, Hotis familiäres Milieu biete paradoxerweise «ein zu viel an Liebe»; dies auf Kosten von Konsequenz und Verantwortungsübernahme. Er lebe im Kreis der Familie «entrückt» mit überhöhten Berufszielen. Nach dem Unfall sah der Gutachter eine Gefahr, dass Lulzim Hoti zum «lebenslangen Patienten» werde, indem er vor der Verantwortung flüchte und den «Weg des geringsten Widerstands» wähle. Der Gutachter empfahl dringend eine «Massnahme», die Einweisung in eine Einrichtung für junge Erwachsene, wo er lernen solle, selbstverantwortlich und straffrei zu leben.
Das Obergericht sagte jedoch bereits im ersten Verfahren, eine Massnahme sei ausgeschlossen, weil Hoti seit dem Unfall nicht arbeitsfähig sei. Und auch Hoti selber wehrte sich gegen eine Massnahme.
Doch was war vor dem Unfall? Hätte man nicht viel früher ansetzen müssen, um eine fast zehnjährige Verbrecherkarriere zu verhindern? Hätte eine Massnahme im Jugendalter nicht vielleicht mehr bewirkt als Verurteilungen zu bedingten Haftstrafen?
Die Jugendanwaltschaft will sich auf Anfrage nicht konkret zum Umgang mit jugendlichen Wiederholungstätern äussern. Der leitende Staatsanwalt Thomas Rapold betont lediglich, dass auch die persönlichen Verhältnisse von Straftätern angeschaut würden und dass zusammen mit dem internen Sozialdienst geprüft werde, welche «Schutzmassnahmen» indiziert seien.
Im Fall des wilden Ritts von Lulzim Hoti haben die Schutzmassnahmen nicht gefruchtet. Sonst hätte er vielleicht bereits vor dem dem Sport-Shop Enge in Beringen ein Ende gefunden.