Aufstand der Nachbarn

26. März 2019, Marlon Rusch
Das ehemalige Zementi-Areal: Paul Ryf ist hier nicht gern gesehen. Foto: Peter Pfister
Das ehemalige Zementi-Areal: Paul Ryf ist hier nicht gern gesehen. Foto: Peter Pfister

Seit 10 Jahren versucht eine Recyclingfirma, neben dem Kesslerloch ein Schrottcenter zu bauen. Doch sie hat die Rechnung ohne Paul Ryf und seinen Verein gemacht.

Paul Ryf wünscht man sich nicht zum Feind. Jedenfalls nicht in einem differenzierten Rechtsstaat wie der Schweiz. Im Umgang ist er ruhig und freundlich, nie würde er aufbrausen, kein böses Wort findet den Weg in seinen Mund. Doch Ryf kennt das System, er kennt die Möglichkeiten der Bürokratie – und er weiss, sie für seine Zwecke zu nutzen.

In der Küche seines Hauses in Thayngen unweit der Zementi, es ist das Elternhaus seiner Frau Annemarie, ist alles süferli vorbereitet: eine Aktenmappe voller Papier. Beweismaterial. Auf dem Notebook klickt Paul Ryf auf den Ordner «AZ-Interview, 8. März 2019». Der Inhalt liegt auch auf einem USB-Stick, den er dem Besucher zum Abschied mit auf den Weg geben wird. Darin: Drohnenaufnahmen, Argumentarien, Messungsprotokolle, Statistiken, Beweisfotos und -videos von unsachgemäss gelagertem Holzabfall, von LKW-Fahrten durchs Quartier, von illegal parkierten Fahrzeugen.

Es ist sein mühsam zusammengetragenes Waffenarsenal im Kampf gegen die Recyclingfirma SwissImmoRec AG; wobei Ryf bei diesem Satz gleich mehrfach intervenieren würde.

Erstens sei es nicht sein Kampf, sondern der Kampf des Vereins Wohnförderung Thayngen (VWT). «Ich habe lediglich die Ehre, Präsident des Vereins zu sein.» Und zweitens kämpfe der Verein gegen niemanden. «Wir haben nichts gegen die Swiss­ImmoRec», betont der Vereinspräsident immer wieder. Er kenne diese Leute nicht einmal, sei nie mit ihnen am selben Tisch gesessen. «Wir haben keinen Groll gegen die.» Der Verein setze sich lediglich ein für eine gute Wohnqualität in Thayngen. Nicht mehr und nicht weniger. Doch die Wohnqualität werde von eben dieser SwissImmo­Rec arg strapaziert.

Pièces de Resistance: Lärm und Gefahr durch Verkehr im Quartier, Umweltbelastung, Störung der historischen Fundstätte Kesslerloch. Der Kampf dauert bereits über zehn Jahre.

Mit Statistiken und Fotofallen
2008 verkündete die Gemeinde Thayngen, das Areal gleich neben dem Kesslerloch, wo der Holcim-Konzern bis vor wenigen Jahren fast ein Jahrhundert lang Zement produziert hatte, soll neu genutzt werden. Die neue Besitzerin SwissImmoRec will eine Recyclinganlage bauen und reichte ein Baugesuch ein. Es war die Geburtsstunde des VWT. Und der neu gegründete Verein legte gleich los; er sammelte 838 Unterschriften und lancierte im September 2009 eine Volksinitiative. Sie wollte, dass das Zementi-Areal umgezont wird, schliesslich befinde es sich neben einem wertvollen prähistorischen Fundort. Es wäre das Ende für die Pläne der Besitzerin.

Was folgte, war ein jahrelanges, erbittertes juristisches Tauziehen. Ryf sagt, die Volksinitiative sei «schubladisiert» worden. Bis sie sechs Jahre später endlich zur Abstimmung kam, verfügte der Gemeinderat 2010 zuerst eine Planungszone, was einem fünfjährigen Baustopp gleichkommt. Die Gemeinde kaufte sich Zeit für weitere Abklärungen und schmiedete in der Zwischenzeit Pläne, das Areal gar selber zu kaufen und zu bespielen. Doch daraus wurde nichts. Und irgendwann war 2015, und die Gemeinde musste handeln. Der Gemeinderat formulierte einen Gegenvorschlag zur Volksinitiative, der juristisch weniger verfänglich war und von den Initianten akzeptiert wurde. Das Resultat eines Ja wäre dasselbe: keine Recyclinganlage.

Doch das liess sich die SwissImmoRec nicht bieten. Verwaltungsratspräsident Lukas Metzler sagte damals zu den Schaffhauser Nachrichten, alleine der Bahnzugang des Areals habe einen Wert von rund drei Millionen Franken. Und die Firma habe das Areal ja nur aus dem Grund gekauft, dass sie dort auch bauen könne.

Das war deutlich genug: Der Gemeinde drohten bei einer Umzonung Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe. «Die Swiss­ImmoRec hat den Leuten Angst gemacht auf der Portemonnaie-Seite», sagt Paul Ryf. Wenn man Ja sagen würde, so der Tenor im Dorf, würde der Steuerfuss steigen. Am 15. November 2015 sagten 53,6 Prozent der Thaynger Nein zur Umzonung. Doch damit fing der Schlamassel erst richtig an.

Das Baugesuch muss also endlich bearbeitet werden. In der Zwischenzeit erteilte das Interkantonale Labor der Swiss­ImmoRec eine zweijährige Bewilligung für die Zwischen­lagerung von Metall und Altholz. Die Firma begann, einen Schrottplatz in kleinerem Rahmen zu betreiben. Für den VWT fühlte sich das an wie eine Ohrfeige. Und die liess sich der Verein wiederum nicht bieten: Ryf und seine Leute begannen mit der Produktion des Waffenarsenals.

«Wir sind nicht einfach ein Haufen Lööli», sagt Paul Ryf in seiner Küche, 200 Meter Luftlinie vom Schrottplatz entfernt. «Wir haben zahlreiche hochqualifizierte Berufsleute in unseren Reihen.» Einer von ihnen hat eine Fotofalle eingerichtet, die alle Lastwagen erfasst, die die Zufahrtsstrasse zum Schrottplatz passieren. Eine Tabelle auf Ryfs Notebook zeigt über mehrere Jahre all diese Fahrten an, nach einzelnen Tagen geordnet, penibel eingefärbt. Es ist eines von vielen Dokumenten, die er immer wieder auch den Behörden präsentiert.

Holzschnitzelhaufen, die nicht abgedeckt sind? Fotobeweis und Meldung beim Interkantonalen Labor. LKW-Fahrer, die im Parkierverbot übernachten oder zu schnell durch die Quartierstrassen fahren? Videobeweis und Meldung bei der Polizei. Verkehrsschilder, die eigenhändig umplatziert wurden? Meldung beim Tiefbaureferenten. Die Umweltverträglichkeitsprüfung? Ein «No-Go»! Der pensionierte Verkaufsleiter Ryf redet heute so fachspezifisch über das Areal, als hätte er sich die vergangenen Jahre mit nichts anderem beschäftigt.

Herr Ryf, dieser Widerstand, das ist mittlerweile schon mehr als ein Hobby, oder?

«Wenn wir in derselben Zeit eine Modelleisenbahn gebaut hätten, würde sie wohl eine halbe Turnhalle füllen.»

Vor Bundesgericht
Gegen die Lagerbewilligung des Interkantonalen Labors reichte der Verein Rekurs beim Regierungsrat ein. Natürlich hatte er sich längst eine Rekursberechtigung besorgt. Der Regierungsrat verordnete daraufhin einen Stopp des Bewilligungsverfahrens, weil der Verein monierte, es brauche dafür eine Baubewilligung, welche die SwissImmoRec nicht besitzt. Dagegen wiederum ging die Firma vor, woraufhin der Regierungsrat einen Stopp des Stopps verordnete. Kurzum: bei der Zementi brach ein heilloses Chaos aus.

Mit ihrer Agitation stossen Ryf und der VWT auf viele Widerstände. Etwa wenn sie in der Tageszeitung monieren, das Interkantonale Labor würde nicht genügend kontrollieren. Wenn Ryf der AZ sagt, das Labor erscheine ihm «arrogant». Amtsleiter Kurt Seiler will sich nur allgemein äussern, er kann jedoch nicht verhehlen, dass ihm der Verein langsam, aber sicher gehörig auf die Nerven geht: Man nehme alle Hinweise aus der Bevölkerung ernst und gehe ihnen nach, sagt Seiler. Das Labor müsse sich aber immer auch aufs Gesetz abstützen und könne nicht einfach auf Gutdünken sanktionieren.

2017 wies der Kanton den Quartierplan zurück, er muss nachgebessert werden. Das heisst: Der Bau der Recyclinganlage wird weiter verzögert. Der Kanton stützte sich auf Gutachten der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission und der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege. Ein Etappensieg für den Verein.

Im Gegenzug aber wurde die Zwischen­lagerbewilligung um fünf weitere Jahre bis 2022 verlängert.

Nun nahm sich der Verein einen Anwalt. Er reichte gegen die erneute Zwischenlagerbewilligung Verwaltungsrechtsbeschwerde beim Obergericht ein. Im Dezember 2018 entschied das Obergericht aber im Sinne der SwissImmoRec – sie darf weiterarbeiten. «Das Urteil hat uns nicht überzeugt Das Gericht hat die Interessen der Firma höher gewichtet als die Interessen des Quartiers», sagt Ryf. Was er genau anprangert, will er aber nicht sagen, und auch aushändigen möchte er das Urteil nicht. Sein Anwalt habe ihm davon abgeraten.

Jedenfalls ficht der Verein auch dieses Urteil an; der Fall liegt derzeit beim Bundesgericht.

SwissImmoRec-Verwaltungsratspräsident Lukas Metzler sagt am Telefon, er wolle keine Stellung nehmen zum Verein. Später kann er es sich doch nicht verkneifen, Ryf und seine Mitstreiter als «verbissen und aggressiv» zu bezeichnen. Sie hätten immer wieder falsche Behauptungen gemacht. Die Swiss­ImmoRec würde die Angelegenheit «ohne Emotionen» abarbeiten, sagt Metzler. Ihn selbst jedoch scheint der Verein über die Jahre einiges an Nerven gekostet haben. Ein Rückzug des Projekts käme aber nicht infrage. «Das Projekt ist für mich über die Jahre zu einer Herzensangelegenheit geworden.»
In der Zwischenzeit haben sich Kanton, Gemeinde und Firma an einen runden Tisch gesetzt. «Wir wurden nicht eingeladen», sagt Ryf. Doch selber hat sich der Verein über all die Jahre auch nie um einen Austausch mit der Firma bemüht: «Es ist nicht unsere Aufgabe, bei der Swiss­ImmoRec anzuklopfen», sagt der Präsident.

Herr Ryf, wäre es nicht an der Zeit, den Widerstand ruhen zu lassen?

«Eigentlich können wir ja erst richtig anfangen, wenn der Quartierplan und das Baugesuch vorliegen. Dann werden wir Einsprachen prüfen.»

Für ihn ist der Kampf längst mehr als eine Herzensangelegenheit – er scheint existenziell.

Fortsetzung folgt.