Festgefahren

21. März 2019, Philippe Wenger
Foto: Peter Pfister
Foto: Peter Pfister

Das Obergericht hat entschieden: Osamah M. erhält keine Sozialhilfe. Das löst für die Behörden keines der Probleme im Zusammenhang mit Gefährdern.

In der Schweiz gibt es eine kleine Gruppe, die eine neue Art Ausländer darstellt – zumindest rechtlich gesehen: die unausschaffbaren Gefährder. Dabei handelt es sich um Personen, die nach Ansicht des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) und des Nachrichtendienstes (NDB) eine öffentliche Gefahr darstellen: Sie könnten im Namen ihres Gottes einen Terroranschlag in der Schweiz planen oder durchführen. Weiter können sie nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden, weil ihnen dort etwa Folter droht. Und einsperren kann man sie auch nicht, denn sie haben ihre Strafe bereits abgesessen.

Eine Recherche der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) hat ergeben, dass es sich um genau fünf Iraker handelt, welche diese Kriterien erfüllen.

Ausschaffen unmöglich
Zu diesen gehört der heute 32-jährige Osamah M., ein im Kanton Schaffhausen lebender Mann, der als Kopf der Schaffhauser IS-Zelle bekannt wurde und eine mehrjährige Haft­strafe absass. Zusammen mit zwei Komplizen soll er einen Terroranschlag in der Schweiz geplant haben – was aber nie bewiesen werden konnte. Er wurde wegen seiner Beteiligung an der Terrororganisation IS verurteilt. Vor ziemlich genau zwei Jahren kam er aus der Haft frei und meldete sich wieder im Kanton Schaffhausen an – dem Kanton, in dem er auch bei seiner Verhaftung gelebt hatte.

Das Fedpol hat seine Ausschaffung längstens verfügt und als Basis dafür den Artikel 68 im Ausländergesetz verwendet. Dieser ermächtigt das Fedpol, ohne grosse Einschränkungen Ausländerinnen und Ausländer auszuweisen – «zur Wahrung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz».

Da Osamah M. im Irak aber wahrscheinlich gefoltert, anderweitig unmenschlich behandelt oder gar getötet würde, geht dies nicht. Er bleibt somit das Problem des Kantons Schaffhausen. Eine Frage zu den Kosten wurde nun geklärt: Er erhält keine Sozialhilfe. Am 19. Februar wies das Obergericht eine Beschwerde von Osamah M. ab. Er hatte sich vor Gericht gewehrt, dass ihm nur Nothilfe ausgerichtet wird. Offiziell ist das Urteil anonymisiert, weder das Staatssekretariat für Migration noch der Kanton bestätigen, dass es sich beim Kläger um Osamah M. handelt. Doch der Inhalt des Urteils lässt nur diesen Schluss zu.

Weil Osamah M. einen so genannten Wegweisungsentscheid erhalten hat, steht ihm nur Nothilfe zu.

Rollstuhl und Nothilfe: Das geht
Das Obergericht folgt damit der gängigen Praxis des Bundesgerichts: Wer über keine Aufenthaltsbewilligung verfügt, erhält «grundsätzlich Nothilfe». Im Fall von Osamah M. bedeutet dies: 11.85 Franken pro Tag plus Miete und Krankenkassenprämie. Dass er wegen einer Kriegsverletzung auf den Rollstuhl angewiesen ist, ändert daran nichts. Somit stehe ihm auch keine «den Standards einer rollstuhlgerechten Unterkunft» entsprechende Wohnung zu, solange er «grundsätzlich in der Lage ist, in seiner aktuellen Wohnung sämtlichen täglichen Verrichtungen nachzugehen», heisst es im Urteil des Obergerichts. Und abschliessend: «In Anbetracht der ihm lediglich zustehenden Nothilfe fällt nicht ins Gewicht, dass er dabei Einschränkungen zu gewärtigen hat.»

Das Obergericht hätte nicht so hart urteilen müssen, um der Praxis des Bundesgerichts noch zu entsprechen, sagt Amr Abdelaziz. Er ist Rechtsanwalt und Mitglied der demokratischen Juristinnen und Juristen. «Es hätte zum Beispiel befinden können, dass unklar sei, ob die verfügten Zusatzleistungen angemessen sind und ob die Wohnung behindertengerecht ist», so Abdelaziz. Er fügt aber auch an: «Wenn es sich beim Kläger tatsächlich um eine Person handelt, die den IS unterstützt hat, dürfte die Motivation des Gerichts niedrig gewesen sein, sein Ermessen zu dessen Gunsten auszuüben.»

Das vorliegende Urteil heisst noch nicht, dass Osamah M. nie wieder Sozialhilfe erhalten wird. Im Sachverhalt erwähnt das Obergericht, dass das SEM zurzeit prüft, ob der Terror-Unterstützer nicht vorläufig aufgenommen werden müsste, da man ihn nicht ausschaffen kann. In diesem Fall wäre die Entrichtung von Sozialhilfe wahrscheinlich. So direkt bestätigt dies das SEM, wie zuvor erwähnt, natürlich nicht. Rechtsanwalt Abdelaziz dazu: «Das SEM wird jeden Stein umdrehen, um Gründe dafür zu finden, keine vorläufige Aufnahme zu verfügen.»

Die Kantone sind machtlos
Unabhängig vom aktuellen Gerichtsfall sagt der Sekretär des kantonalen Departements des Innern, Andreas Vögeli, Menschen wie Osamah M. stellten den Kanton vor zwei Herausforderungen. Erstens gibt es die soziale Komponente: Das Nothilferegime sei dazu da, die «Motivation zu erhöhen, die Schweiz zu verlassen». Aber Osamah M. und Co. haben bloss die Wahl zwischen Nothilfe in der Schweiz oder dem möglichen Tod im Irak. Vor diesem Hintergrund müsse man sich fragen, ob die Sozialhilfe der Nothilfe nicht vorzuziehen sei, sagt Vögeli. Ausserdem gelten «diese Menschen als gefährlich. Niemand ausser deren Heimat nimmt sie auf und arbeiten dürfen sie hier nicht.»

Das zweite Thema ist die Überwachung und Unterbringung von Gefährdern, die ihre Strafe abgesessen haben: «Wo sollen wir diese Leute unterbringen? Etwa in einer Nothilfeunterkunft voller junger frustrierter Männer?», fragt Vögeli rhetorisch. Die Notunterkunft sei grundsätzlich problematisch, weil die Radikalisierungsgefahr viel zu gross sei. Gleichzeitig widerspricht die Unterbringung in einem Sondersetting dem Abweisungsgedanken.

Vögeli beklagt sich darüber, dass den Kantonen in den Medien Ratlosigkeit unterstellt werde: «Die Kantone sind nicht ratlos. Uns sind lediglich die Hände gebunden.» Man hoffe vor allem darauf, dass der Bund es eines Tages doch schaffe, die gestrandeten Gefährder wie Osamah M. auszuschaffen.

Abschieben um jeden Preis
Genau diese Hoffnung möchte das Bundesparlament offenbar um jeden Preis erfüllen können. Am Dienstag verabschiedete der Ständerat eine Motion, die verlangt, dass man Gefährder auch dann ausschaffen darf, wenn ihnen im Heimatland Folter droht. Damit wird das so genannte Non-Refoulement-Prinzip des Völkerrechts in Frage gestellt, das genau solche Ausschaffungen verbietet.

Im Ständerat setzte sich mit Thomas Minder ein Schaffhauser ganz zuvorderst für die Motion ein. Von den Schaffhauser Vertreterinnen und Vertretern in Bern sprach sich einzig Martina Munz dagegen aus.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter versuchte vergeblich, die Zustimmung zur Motion zu verhindern, und sagte, man arbeite bereits an einer Lösung. Denkbar sei etwa, dass man vom Irak diplomatische Garantien einfordere, wie mit Personen wie Osamah M. verfahren werden solle, oder dass die Schweiz diese in Drittstaaten verfrachtet.

Der Vorstoss wird praktisch nicht viel Einfluss haben. Bereits heute scheitern Ausschaffungen immer wieder daran, dass der Heimatstaat die Kriminellen schlicht nicht zurücknehmen möchte. Und wo das Heimatland zwar mitmachen würde, aber das Non-Refoulement-Prinzip im Wege steht, betrifft es gerade einmal die fünf zuvor erwähnten Iraker.