Er war die Entdeckung des Jahres 2018, ohne wirklich aufzutauchen. Auf der Suche nach dem Wundermusiker Betasèrge. Die Dokumentation einer monatelangen Irrfahrt.
Am Mittwoch, dem 15. August 2018, um zwanzig nach sieben Uhr stieg ein schönes Gefühl in mir auf. Ein Freund zeigte mir ein Musikvideo; er sagte, das sei gut und müsse gehört werden. Da er einer dieser Freunde ist, die zwar viel reden, was anstrengend sein kann, dabei aber auch viel sagen, hörte ich mir das Lied an.
Ein Typ, der sich Betasèrge nennt, beschrieb bilderreich die grausige Idylle eines Kaffs, während sich Popmusik zäh wie geschmolzener Käse durch den Hintergrund zog. Der Song hatte etwa zwanzig Klicks auf Youtube; er hiess «Sigarette» und das Kaff Diessenhofen.
In seiner poetischen Traumstimme sang Betasèrge: «Blueme i de Blächgarette, die ganzi Schtadt ä Pracht. Hends echt no en Ehr zum rette, händs echt öppis gmacht? S isch öppis fuul, ich chönnti wette, s chunnt alles uus hüt z Nacht. Drum rauchi etz die Sigarette, wo dänn da Füür entfacht.»
Ich fühlte so etwas wie Instantliebe, einmal umrühren, fertig, nur dass der Geschmack erstklassig blieb. Schon der Name, Betasèrge, ein ironisches Optimierungsgedicht in einem Wort. Und dann dieser Text, eine charmante Dystopie, ein Abgesang auf das bürgerliche Leben gewissermassen, der dort endet, wo Mani Matters «Zündhölzli» beginnt.
Ich beschloss, diesen Betasèrge zu suchen.
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In den sozialen Medien war ein Profil von ihm zu finden, er hatte sogar ein Logo kreiert, die Schrift so verschnörkelt, wie sie an Retro-Kühlschränken mit dicken Türen zu finden ist. Bald lud er auch ein Foto hoch, auf dem ein junger Hipster zu erkennen war, wohl Anfang zwanzig, mit kurzem Bart und Dutt.
Der Freund, der viel redet, verfiel, sogar um ein paar Bootslängen schneller als ich, in Ekstase. Zweiundzwanzig ist der!, jubelte er. Und schon im nächsten Atemzug sprach er von einer neuen Generation des Pop, die Betasèrge begründe, beeinflusst vom Sankt Galler Musiker Manuel Stahlberger.
Ich sandte Betasèrge eine Nachricht, die mich an meine pubertären Flirt-Bruchlandungen erinnerte (Echt tolle Musik! Bist du aus Diessenhofen? Können wir uns treffen?). Zunächst kam nichts zurück. Und dann verstand ich nichts mehr.
Ende September, der Sommer war erledigt, quasi Knockout, ploppte Betasèrges Antwort auf. «Bin aus der Gegend quasi, ja», stand darin. Falls man Platz für «ein wenig Fake News» habe, könne man sich gerne mal treffen.
Ich fragte zurück, was er mit Fake News meine, und er antwortete sehr plötzlich und sehr seltsam: «‹Mich› gibt es gar nicht … Ist aber geheim.»
«Sacrebleu», so meine unbeholfene Antwort. «Ich würde gerne mal jemanden treffen, den es nicht gibt.»
Daraufhin schwieg Betasèrge eisern, obschon ich ihn regelmässig mit Nachrichten belästigte, mal in gespielt lockerem Ton, mal eher traurig, wobei ich mich jeweils fühlte wie jemand, der ein Feuer im strömenden Regen zu entfachen versucht.
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Während das Herbstlaub verrottete, erst im Regen, dann unter dem Schnee, fuhr ich einige Male an Diessenhofen vorbei, meistens im Zug, und immer hielt ich nach Blumen in Blechgaretten Ausschau; ich sah, wie herausgeputzt das Städtchen war, sah die Türme und Fassaden, das Glitzern der Sonne im Rhein, beobachtete einige der 3000 pflichtbewussten Diessenhofer und Diessenhoferinnen, und ich fragte mich, welche Ehre zu retten sei und was der Ort zu verbergen habe, hinter all dieser Pracht.
Und schliesslich fragte ich mich, ob sich dieser Betasèrge vielleicht in einem dieser Türme eingeschlossen hat, geflüchtet vor der Welt.
Irgendwann, sein Schweigen dauerte nun schon Monate, liess ich mich vom Sarkasmus verführen. «Sehr geehrte Frau Präsidentin», schrieb ich der Diessenhofer Tourismus-Chefin. «Ich bin auf der Suche nach einem Musiker namens Betasèrge. Er hat eine Hymne über Diessenhofen geschrieben, praktisch Standortförderung. Nun interessiert mich, ob Sie seine Identität kennen und ob das Tourismusbüro ihn kontaktiert hat, um eine Kooperation aufzugleisen. Mit freundlichen Grüssen.»
«Leider habe ich von diesem Herrn keine Ahnung», antwortete die Tourismus-Chefin sehr freundlich. «Es tut mir leid. Ich habe aber Ihr Mail an den allwissenden Stadtschreiber Jungi weitergeleitet. Wünsche Ihnen viel Glück beim Finden. Mit besten Grüssen.»
Da der allwissende Stadtschreiber kurz vor seiner Pensionierung stand, hatte er wohl anderes um die Ohren, Abschiedsapéros, Enten füttern oder Unterhosen bügeln, quasi sanfte Eingliederung ins Rentnerdasein, jedenfalls hörte ich nichts von ihm.
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Die Irrfahrt ins neue Jahr wurde gefeiert, 2019 Inshallah. Als mein Schädel wieder geradeaus denken konnte, oder zumindest nicht weniger ungerade als im alten Jahr, bemerkte ich, dass Betasèrges Hit «Sigarette» kaum 200 Aufrufe auf Youtube hatte (die Hälfte davon ging wohl auf meinen Freund, die gehaltvolle Quasselstrippe, und auf mich zurück).
In meiner Heimatstadt Schaffhausen, die nur zehn Kilometer von Diessenhofen entfernt ist, konnte ich die besten Musikerinnen und Musiker fragen, niemand kannte Betasèrge. Und so wurde das anfängliche Gefühl des Überschwangs, das mich an jenem Augustabend befallen hatte, langsam von etwas Unbehaglichem abgelöst.
Ich meine: Da lässt sich, mit all den Streamingplattformen, das globale Musikarchiv anzapfen, jederzeit, bis ins hinterste Kaff, von Kwa-Zulu Natal nach Diessenhofen, und dann stecken einen die Algorithmen der überfetteten Plattenlabels doch nur mit dem immergleichen Mainstream-Quark unter die Käseglocke.
Dieses unbehagliche Gefühl – lange studierte ich an einem Begriff dafür herum. «Klaustrophobische Unendlichkeit» schien mir schliesslich am passendsten. Der Ausweg aus dieser Käseglocke findet sich vermutlich darin, was man gemeinhin Selbstermächtigung nennt und mein Vater nüchtern mit «Hirn einschalten» umschrieb.
Vielleicht hat sich Betasèrge ebenfalls über die wenigen Klicks aufgeregt – wir wissen es nicht. Seit Monaten war er untergetaucht, weshalb ich, o Ironie, auf die Algorithmen von Facebook zurückgriff, um eine Art Vermisstenanzeige zu schalten. Leider meldete sich niemand. So kam die Zeit, sich mit dem Gedanken zu befassen, Betasèrge und seine Blechgaretten sein zu lassen.
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Als das Laub so richtig vermodert war, Ende Januar, traf ich auf dem Nachhauseweg einen Bekannten an. Er war in vielerlei Hinsicht das Gegenteil meines Quasselstrippen-Freundes; er redete wenig, sagte aber mindestens so viel. Gemeinsam war ihm, dass er Betasèrge kannte. So riet mir der Bekannte, bei einem gewissen David Langhard, Musiker und Produzent aus Winterthur, anzufragen. Der habe fast alle von Betasèrges Beiträgen in den sozialen Medien mit einem «Like» versehen.
David Langhard – die Suchmaschine spuckte manches aus: 42 Jahre, mit seinen Koteletten und der aufgetürmten Schmalzlocke könnte er aus einem 50er-Jahre-Film stammen. Bekannt als Admiral James T., jetzt mit der Band Howlong Wolf unterwegs, führt ein Tonstudio in Winterthur.
Vielleicht hat Betasèrge bei ihm im Studio aufgenommen?
Da David Langhard bald, Anfang Februar, für ein Konzert nach Schaffhausen kommen sollte, beschloss ich, ihn bei dieser Gelegenheit danach zu fragen.
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Langhards Konzert war okay. Die Leute im Club Cardinal waren betrunken und zufrieden. Da mich vor allem Betasèrge interessierte, konnte ich das Ende des Konzerts kaum erwarten. Langhard begann um zehn, und als ich um Viertel vor zwölf auf die Uhr schaute, war es erst halb elf.
Nach Langhards Auftritt, er hatte sich ans Aufräumen gemacht, ging ich auf ihn zu. «Darf ich kurz stören?», fragte ich. Er nuschelte etwas Unverständliches in seine Koteletten hinein. Es klang zwar nicht unfreundlich, aber freundlich, nein, im Benimmkurs würde man damit nicht durchkommen.
Ich fragte ihn: Kennst du Betasèrge? «Der hat noch gute Texte», sagte er lächelnd, während er versuchte, Ordnung in einen gemischten Kabelsalat zu bringen.
Hat er seine Lieder bei dir im Studio aufgenommen? «Sozusagen.» Schweigen, Kabelrollen.
Kennst du ihn? «Was soll ich sagen …»
Wir blickten uns eine Weile wortlos an, er mit einer dicken Ladung Kabel auf dem Arm, ich mit einem lauwarmen Bier in der Hand; es war keine unangenehme Situation, aber reizend wiederum auch nicht. Wir schienen beide zu wissen, so kommen wir nicht weiter, also legte er den Kabelsalat weg, kratzte sich am Kopf und sagte: «Ich kann die Maske eh nicht aufrechterhalten. Also, der Betasèrge, das bin ich.»
«Ich wusste es!», sagte ich, obwohl ich natürlich rein gar nichts wusste.
David Langhard, sprich Betasèrge, erzählte knapp, dass er in Oberstammheim aufgewachsen und als Teenie in der Nachbargemeinde Diessenhofen im Radrennclub gefahren sei, deshalb der Song «Sigarette». Dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen, wandte er sich ab und machte sich wieder ans Aufräumen. Ich blieb noch ein wenig stehen, bis ich merkte: Das war es wohl.
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Als sich die ersten Leute auf dem Klo übergaben und die Instrumente und Kabel längst in einen klapprigen Bus geladen waren, machte ich mich auf den Heimweg. Vor dem Cardinal stand David Langhard mit ein paar Freunden und rauchte.
«Ich würde Betasèrge echt gerne treffen», sagte ich zu ihm.
«Ich werde es ihm ausrichten», erwiderte Langhard und schielte zu seinen Freunden. Es roch nach Hippie-Zigaretten.
«Wem ausrichten?», fragte ich verwirrt zurück. Er lächelte bloss und rauchte weiter. Ich ging nach Hause, und beim Gehen quietschten hundert Fragen in meinen Schuhen.
Am nächsten Morgen fand ich immerhin eine Antwort, es gibt ja dieses Sprichwort mit den Schuppen und den Augen, und zwar: Nicht einmal seine Freunde wussten von seinem Alter Ego namens Betasèrge. Auf die restlichen Fragen fand ich keine Antwort: Weshalb will er anonym bleiben? Warum macht er überhaupt Musik als Betasèrge?
Nach einigem Hin und Her im Kopf, quasi Omelettenwende, bestehen eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Erstens: Er hält seine Betasèrge-Lieder mittlerweile für komplett überholt. Oder zweitens (das ist die romantische Antwort): Er hat keine Lust auf all den Öffentlichkeitszirkus und will bloss Musik machen, pure Musik. Das wäre eine schöne Antwort, die nach einer Sigarette verlangt.