Selbstbehauptung

8. März 2019, Nora Leutert

Grenzen setzen kann man üben. An den Kursen des Frauenstammtischs Schaffhausen wird gezeigt, wie.

«Kannst du mir bitte nicht immer so nahe kommen?»

«Versuchs nochmal», sagt Kursleiterin Simone Piatti zu mir. «Sag seinen Namen. Formulier keine Frage, sag: «‹Ich will nicht, dass›.»

Zweiter Versuch. Wir spielen die Situation nochmal im Halbkreis der Kursteilnehmerinnen.

Simone Piatti kommt auf mich zu, sie ist mein Bekannter Alex*. Sie tritt zu nah an mich heran, wie Alex das eben oft tut.

Ich mache einen bestimmten Schritt zurück.

«Alex. Ich will nicht, dass du mir so nahe kommst – isch guet?»

Mist. Wieder eine Frage angehängt, wieder gelächelt.

Simone Piatti sagt: «Merkst du, wie du den Kopf kurz schräg legst? Wenn man jemandem seine Grenze aufzeigt, kann man nicht lächeln und lieb sein.»
Ich habe keine Mühe, jemandem eins aufs Dach zu geben, wenns sein muss. Aber verdammt: Wieso ist DAS hier so schwierig?

Wenn es um einen Fremden ginge oder um irgendeinen Menschen, den man aus seinem Leben streichen könnte. Aber es geht um Alex, mit dem habe ich durch mein Umfeld zwangsläufig immer wieder zu tun und den mag ich ja auch. Nur, dass ich dieses Benehmen auf den Tod nicht leiden kann.

Grenzverletzungen passieren oft im engen sozialen Umfeld. Deswegen kann es auch so schwierig sein, sich dagegen zu behaupten: Man will oder kann vielleicht nicht einfach den Kontakt zu seinem Freund, Arbeitskollegen oder Nachbarn abbrechen. Im Gegenteil: Man möchte den Kontakt verbessern.
Dazu muss man einer Person auf Augenhöhe begegnen können und sagen, was man will und was nicht. Das ist Selbstbehauptung. Und das lernt man in den Selbstbehauptungskursen, die der Frauenstammtisch Schaffhausen dieses Jahr erstmals organisiert. Geleitet werden die Kurse von der Schaffhauser Schulsozialarbeiterin und Selbstbehauptungstrainerin Simone Piatti, die mit Übungen und Beispielen zeigt, wie man das eigene Bewusstsein für Grenzüberschreitungen schärft und wie man Grenzen wirksam und respektvoll setzt.

Simone Piattis Kurse sind keine Feminismus-Schnellbleiche. Alles, was unsere physische oder psychische Integrität verletzt, also jede Form von Abwertung, ist eine Grenzverletzung, sagt Simone Piatti. Männer erleben genauso Grenzüberschreitungen wie Frauen und alle anderen, nicht-binären Menschen.

Grenzüberschreitungen sind eine Vorstufe zur Gewalt, und Selbstbehauptung ist damit die Grundlage zur Selbstverteidigung. Denn in einer Bedrohungssituation muss man überhaupt erstmal aktiv werden können, was laut Piatti gerade Frauen oft schwerfalle.

Alle Plätze des ersten Kurses des Schaffhauser Frauenstammtisches sind besetzt: 14 Frauen verschiedenen Alters haben sich in der Aula des Schulhauses Gega eingefunden an diesem Kurstag vom 2. März. Sie werden ihre Erfahrungen austauschen, ihren Gefühlen Luft machen.

Zwischen Abneigung, Ekel und Angst
Vielleicht ist es ein bestimmtes Gefühl. Vielleicht erkennst du es gleich wieder in dieser Übung: Jemand – eine Kursteilnehmerin – tritt näher an dich heran, als du es erlaubst. Du fühlst dich von dieser Person zwar nicht bedroht, aber bäm! Da ist es: dieses nur zu gut bekannte Gefühl, wenn jemand deine Grenze verletzt. Vielleicht ist es etwas zwischen Abneigung, Ekel, Angst, Empörung und Bedrohung.

Ein Gefühl, das manchmal auch erst später eintritt. Einige Frauen im Kurs sprechen es aus: Oft merkt man es erst gar nicht, wenn jemand die eigene Grenze überschreitet. Man denkt, es mache einem nichts aus, etwas zu tun oder hinzunehmen, zu dem man gedrängt wird.

Wieso soll ich meinem Kumpel nicht einen Kuss geben, wenn er so hartnäckig drauf besteht und er es nur lustig meint? Wieso soll ich auf die beleidigende Bemerkung meiner Kollegin reagieren, wenn ihre Meinung mir doch eh egal ist?

Soll ich mich völlig querstellen, wenn die andere Person es doch so unbedingt will, wenn eine Zurückweisung sie so hart trifft? So sehr kommt es mir doch nicht drauf an – und vielleicht wäre es umständlicher und unangenehmer, mich in dieser Situation zu widersetzen, als einfach mitzumachen.

Aber danach empfindet man vielleicht plötzlich: dass es doch nicht okay war, dass man etwas hätte sagen sollen. Vielleicht erst am nächsten Tag: Man kommt nach dem Ausgang am Morgen einfach nicht aus dem Bett, weil es einem dreckig geht und man von diesem Gefühl – von Bedrohung, Abneigung, Ekel, Empörung – gelähmt ist.

Wir machen verschiedene Übungen im Kurs und ich merke, dass da neben diesem immer gleichen unangenehmen Gefühlschaos in meinem Bauch ganz klar noch etwas anderes ist: Wut.

Ich finde es nicht nur unangenehm, dass Alex mir immer zu nahe kommt: Es macht mich wütend. Und es macht mich auch wütend, dass ich ihm das nicht sage.

Die gute Art von Wut
Frauen haben oft Aggressionshemmungen, sagt Simone Piatti. Das weibliche Geschlecht wird in unserer Kultur durch den Blick von aussen bestimmt, wird dazu erzogen, zu gefallen, so erklärt Piatti das. Wenn man eine Grenze aufzeigt, verschafft man sich Respekt. Aber man wird in diesem Moment von seinem Gegenüber nicht geliebt. Frauen finden das oft sehr schwierig. Aber das gilt es auszuhalten, aus Liebe zu sich selbst.

«Hau ab!», schreit mich eine Kursteilnehmerin an. Ich entgegne mit fester Stimme: «Nein, ich bleibe.» Und nochmal: «Hau ab!» – «Nein, ich bleibe».

Die Kursteilnehmerinnen sind sich einig: Es fühlt sich gut an, in einem Konflikt zu widerstehen, zurückzugeben. Und zwar nicht mit hoher Stimme, sondern tief und laut. Energie fliesst durch den Körper. Das ist Empowerment.

14 Frauen laufen an diesem Samstag bestärkt aus dem Selbstbehauptungskurs hinaus. Sie würde die neuen Selbstbehauptungskompetenzen jetzt am liebsten gerade draussen ausprobieren, meint eine Teilnehmerin und viele stimmen zu.

Es ist jetzt nicht so, dass wir an diesem Samstag in Pöbel-Laune davonziehen. Wir blicken vielleicht einfach durch, dass Aggression nichts Schlechtes und schon gar nichts Unangebrachtes ist, wenn wir sie richtig kanalisieren.

Wir müssen die Wut, die sich im Bauch staut, aussprechen. Schwierig ist, dabei nicht zurückzuweichen, nicht zu lächeln, nicht zu relativieren.

Unnachgiebig, ruhig und klar zu bleiben, wenn wir sagen, was wir wollen und was nicht. So, dass Männer das nicht einfach als temperamentvoll oder unkontrolliert abtun können mit Bemerkungen wie «Alter, die Frau ist crazy!» .Dann ist das eine Wut, die uns selbst gut tut – und die man hört und ernst nimmt.

Weitere Selbstbehauptungskurse des Frauenstammtisches Schaffhausen mit Simone Piatti finden am 6. April und am 21. September statt. Die Kurse dauern von 9 bis 15 Uhr und finden im Schulhaus Gega statt (Teilnahmegebühr: 60 Franken). Diese Kurse sind für Einsteigerinnen gedacht. Ein Aufbaukurs am 9. November gibt Gelegenheit zur Vertiefung. Fragen und Anmeldung unter: empowerment@gmx.ch

*Name geändert