Dragoslav Stojanović kämpft gegen den «Menschenhasserstaat» und wird krank davon. Oder ist es andersherum?
«Haben Sie ein Ziel im Leben?», fragt die Richterin. Herr Stojanović blickt durch sie hindurch, als wäre sie Luft. Dann antwortet er emotionslos: «Mein Ziel wurde vom Amt kaputtgemacht. Ich habe kein konkretes Ziel.»
Später sitzt Herr Stojanović in seiner kleinen Wohnung in der Schaffhauser Altstadt, und man fragt, ob er einen Neuanfang wagen wolle, jetzt, nach der Gerichtsverhandlung. Er guckt kurz in seine leere Kaffeetasse und sagt: «Dieser Zug ist abgefahren.»
Schwer zu sagen, was trauriger ist, einen Zug verpasst zu haben und enttäuscht zurückzubleiben, oder sich gar nicht erst zu einer Fahrt überwinden zu können.
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Am 26. November 2018 verschickte Herr Stojanović eine E-Mail mit dem Betreff «Was rechter Politfilz mitsamt ihren Psychopathen imstande ist, aus diesem schönen Land zu machen».
«Wenn es noch», schrieb er, «journalistischen Ehrgeiz und Ehrenkodex gibt, die nicht nur Mainstream-Staatsgehilfen zur Manipulation sind und die noch wirklich dicke Eier haben», dann solle man seine Geschichte erzählen. Wie seine Existenz zerstört wurde und er nun ein «seelisches und psychisches Wrack» sei.
Herr Stojanovićs Wohnung liegt im zweiten Stock eines schmalen Altstadthauses. Ein stämmiger Mann mit schwarzem Haar und fast so dunklen Augen öffnet die Tür. Kaffee?, fragt Herr Stojanović. Eigentlich heisst er Dragoslav Stojanović, aber man bleibt beim Siezen, denn er mag das Höfliche, das Zuvorkommende. Bei den wöchentlichen Besuchen heisst es immer, schön, dass Sie hier sind, Kaffee?, und man erwidert, Danke, Herr Stojanović, sehr gern, und Herr Stojanović schmeisst seine Kaffeemaschine an, und während der Kaffee in die Tasse tröpfelt, schimpft er nachsichtig, ach, die wird auch immer langsamer.
Herr Stojanović lebt von 850 Franken Sozialhilfe pro Monat. Nach einer langen Suche hat er sich einigermassen zurechtgefunden in Schaffhausen, und zum ersten Mal seit vielen Jahren hat er Ruhe. Wobei: hätte er Ruhe.
Wenn da nicht seine Mission wäre. Querulant!, schimpfen sie auf den Ämtern über ihn, Behördenschreck! Herr Stojanović kümmert das wenig, er will endlich seinen Kampf gegen den «Menschenhasserstaat» und den «Staatsterror» publik machen.
«Es gibt kein Verstecken mehr», sagt er. Er winkelt seine Arme an, sodass sich die kleinen Finger vor seiner Brust berühren, und zieht die Schultern hoch, eine Geste, die er immer dann macht, wenn ihm etwas ernst ist. «Ich sage allen Unterdrückten: Wehrt euch! Als normaler Mensch aus dem Volk will ich dem Kampf ein Gesicht geben. Ich bin kein Einzelfall. Wenn das zehn, hundert, tausend Leute tun, entsteht langsam eine bessere Welt.»

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Dragi, der Ur-Jugo, so haben sie ihn genannt, nachdem er 1980 aus Serbien in die Schweiz gekommen war, mit viereinhalb Jahren. Er folgte seiner Mutter in den Thurgau, nach Bischofszell. Rosenstadt sagen die Leute zum Ort; Dornenstadt sagt Dragi. Jetzt ist Dragi 42 Jahre alt, aber gelebt hat er schon drei Leben: ein passables, ein exzessives und ein krankes. Und je mehr Jahre dazukommen, desto grösser wird das kranke Leben, wie ein Schatten legt es sich auf die anderen beiden.
Die Mutter war nie da, der alkoholkranke Vater sowieso nicht, den hatte Dragi gar nie kennengelernt, und die schnell wechselnden Partner der Mutter waren auch wenig zu gebrauchen. Im Kindergartenalter schon stellte Dragi den Wecker selbst. Bald begann er, Fussball zu spielen, und Dragi wurde Kapitän der Junioren, bis zur B-Jugend. Später wechselte er zum Thaiboxen. Er fand Freunde, wurde eingebürgert, frisierte Mofas und interessierte sich für Frauen; die Schule war in Ordnung, aber nicht das Wichtigste. Er fing eine kaufmännische Lehre an.
«Menschen wie ich dürfen sich nicht beschweren.»
Dragoslav Stojanović
Mit 16 entdeckte Dragi die Freiheit, sie hiess Ecstasy, und sein zweites Leben begann. Freunde nahmen ihn mit zu Techno-Partys nach Zürich, «ins Schlaraffenland», wie er es nennt; es waren die Neunzigerjahre, Dragi trug bald bunte Schlaghosen und hohe Schuhe. Als er zum Ende der Lehre fünfzehn Pillen in einer Nacht schmiss, beschloss er, die Finger von den Drogen zu lassen – und zog es durch. Die Lehre schloss er mit der Note 4,7 ab.
Er fand einen gut bezahlten Job als Unternehmensberater in Düsseldorf, jetzt war aus Dragi der Herr Stojanović geworden, doch nach wenigen Monaten ging die Firma pleite. Zurück in Bischofszell, schmiss ihn irgendein Stiefvater aus der Wohnung der Mutter, und so stand er mit nichts da ausser einer Matratze und einer Tasche mit Kleidern. Die nächsten Monate lebte er mal hier, mal da. Zum Überleben verkaufte er Ecstasy und Kokain, an Herzchirurgen und Stricher.
Als er wieder einen Job fand, er wurde Kundendienstleiter in einer Versandapotheke, verkrachte er sich mit seinem Chef. Schliesslich landete er in einem Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose, worauf das dritte Leben anbrach, das kranke.
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Herr Stojanović runzelt die Stirn, er sitzt in seiner Stube – mal wieder hat er Kaffee angeboten und sich milde über die langsame Maschine geärgert. «Wenn ich das so erzähle», sagt er besorgt, «dann wird es sicher heissen: Ah, der Stojanović, ist ja klar, erst keine Liebe von der Mutter, dann drogenabhängig und jetzt Sozialhilfebezüger.» Mit dem Zeigefinger malt er eine Linie in die Luft, die steil nach unten führt.
«So einfach ist es natürlich nicht», sagt er weiter. «Leider dürfen sich Menschen wie ich nicht beschweren. Das Diskussionsniveau in der Schweiz gleicht einem SVP-Stammtisch: Arbeitslose sind faul, Sozialhilfebezüger Schmarotzer und Menschen mit Invalidenrente Simulanten.»
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«Warten Sie», sagt Professor Doktor Edward Senn, ein Reha-Arzt. Er murmelt etwas in den Telefonhörer, das nach «Stojanović» klingt. «Hier ist seine Akte», sagt er nach einer Weile, «riesiges Dossier, zehn Zentimeter dick. Ältester Eintrag vom 22. April 2004, sein erster Besuch bei mir.»
Woran leidet Herr Stojanović? Doktor Senn zählt auf: «Fibromyalgie, ein generalisiertes Rheuma, also chronische Schmerzen der Muskulatur und des Bindegewebes. Fehlform der Wirbelsäule – als Jugendlicher ist er aus eineinhalb Metern auf den Hinterkopf und den Rücken gefallen und lag kurzzeitig im Koma. Weiter: Totaler Weichhals. Mittelschwere neuropsychologische Störung. Tinnitus beidseits. Erhebliche psychische Störungen mit teils schizoiden Zügen. Angststörung mit Panikattacken. Körperlich und kommunikativ überempfindlich, reagiert zum Teil aufgebracht. Teilweise suizidgefährdet.» Dann nennt Doktor Senn ein ganzes Arsenal an Medikamenten, die er seinem Patienten verschrieben hat, von Psychopharmaka bis zu Schmerzmitteln und Magentabletten.
Herr Stojanovićs Gesundheitszustand habe sich in den letzten Jahren verschlechtert, sagt Doktor Senn, und zwar «umgebungsbedingt». «Mit den Ämtern im Thurgau ist vieles vorgefallen, was nicht in Ordnung war. Er ist sehr liebenswürdig und hell auf der Birne. Aber wegen seines ausgeprägten Gerechtigkeitssinns verzettelt er sich manchmal, dann erinnert er mich an Heinrich von Kleists Figur Michael Kohlhaas und dessen Motto ‹Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde›.»

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«Stähli?», ertönt eine raue Stimme am Telefon. Sie gehört Gerda Stähli – man nennt sie auch die Oma von Bischofszell, sie ist eine Art soziales Gewissen der Gemeinde, seit Jahrzehnten bereits. Herrn Stojanović kannte sie schon, als er noch der Dragi im Fussballklub war, wobei er für sie immer der Dragi blieb. Später sorgte sie für ihn, wenn er an Weihnachten vor einem leeren Kühlschrank stand oder einfach jemanden zum Reden brauchte.
Gerda Stähli erzählt, dass man ihm das Leben «wahnsinnig schwer gemacht hat», weil er zu offen und direkt sei. «Allerdings», sagt sie, «würde ich mich ebenfalls als direkte Person bezeichnen, nur komme ich aus einer anderen Umgebung, einer sogenannt wohlhabenden. Mir gegenüber gibt es keine Vorurteile.»
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Was ist passiert im Thurgau? Wie wurde Herr Stojanović krank? Warum ist er nun als Behördenschreck abgestempelt? Und weshalb kämpft er gegen den «Politfilz»?
Als Herr Stojanović arbeitslos wurde und in einem Beschäftigungsprogramm landete, fühlte er sich bald unter Druck gesetzt. Sein Verdacht: Das Institut wird von einer evangelikalen Freikirche beherrscht, und unangepasste Angestellte wie er werden schikaniert. Tatsächlich kam es später zu einer internen Untersuchung, worauf der Leiter des Beschäftigungsprogramms freigestellt wurde; der Grund dafür ist jedoch nicht bekannt. Herrn Stojanović jedenfalls ging es so schlecht, dass er für sechs Monate in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wurde. Seine damalige Verlobte verliess ihn während des Aufenthalts.
Als er wieder herauskam, er lebte mittlerweile von der Sozialhilfe, wollte er einen Neuanfang starten und eine eigene Firma gründen, einen Online-Vertrieb für LED-Lampen, die er direkt aus Asien importieren würde. Er hatte alles organisiert: Kontakte, Webseite, Prospekte, Investorinnen (die Webseite ist heute noch online). Doch das Sozialamt unterstützte ihn nicht, im Gegenteil. Man beschuldigte ihn, Einnahmen unterschlagen zu haben, und strich ihm die Sozialhilfe während Monaten, womit der Traum der Eigenständigkeit gestorben war. Dieser Entscheid basierte jedoch auf einem entscheidenden Fehler: Das Amt hatte Kreditkartenausgaben als Einkünfte bewertet (zu diesem Schluss kam eine spätere Untersuchung der Staatsanwaltschaft).
Bevor der Fehler aufgeklärt wurde, eskalierte die Situation: Herr Stojanović konnte seine Miete nicht mehr bezahlen, worauf die Zwangsräumung seiner Wohnung in Bischofszell drohte.
Darauf schrieb er eine E-Mail an die Thurgauer Polizei. «Ich werde erstmalig ausserhalb des Thai-Box-Kampfringes Gewalt anwenden» stand darin, damit er ins Gefängnis komme und somit wenigstens ein Dach über dem Kopf habe. Die Polizei zeigte ihn an, wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte und wegen Hinderung einer Amtshandlung. Allerdings: Die Anzeige erfolgte Jahre nach dem Verfassen jener E-Mail, und zwar erst nachdem Herr Stojanović selbst eine Klage wegen Amtsmissbrauchs eingereicht hatte. Für ihn ist klar, dass man ihm damit eins auswischen wollte.
Nachdem er seine Wohnung verloren hatte – bis heute ist ein Drittel seiner Habseligkeiten unauffindbar, unter anderem fast alle Bücher, Diplome und viele Möbel –, flüchtete er aus dem Thurgau, nach Schaffhausen. Das war vor zwei Jahren.
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In einem schmucklosen Gebäude im Herzen des Städtchens Wil, St. Gallen, befindet sich die Praxis von Doktor Milan Sauer, Psychiater. Ein kauziger alter Mann mit anscheinend unbezwingbarer Gutmütigkeit. Seit 2004 behandelt er Herrn Stojanović.
«Wer einmal von einer Schlange gebissen wurde, hat nachher vor jeder Eidechse Angst.»
Psychiater Milan Sauer
«In den letzten Jahren ist Herr Stojanović leider kränker, kränker, kränker geworden», seufzt Doktor Sauer, «und zwar wegen einer Mischung aus exogenen und endogenen Faktoren. Einerseits gibt es die Sache mit dem Sozialamt, mit seiner Mutter, mit seiner Freundin. Wo man hinschaut, überall Verlust! Andererseits ist da seine, wie ich es nenne, paranoide querulatorische Einstellung. Er akzeptiert andere Meinungen relativ schlecht, wittert Komplotte und findet sich nie irgendwo zurecht. Damit rutscht er immer weiter in ein System des Negativen hinein. Bei uns – ich stamme ursprünglich aus Kroatien – sagt man: Wer einmal von einer Schlange gebissen wurde, hat nachher vor jeder Eidechse Angst.»
«Ich bin ja ein Jungianer», fährt Doktor Sauer fort, «das heisst, wir benötigen das Mütterliche, das Schossähnliche im Leben. Das hatte Herr Stojanović nie. Er bräuchte daher eine symbolische Wiedergutmachung. Wir haben nun einen IV-Antrag gestellt in Schaffhausen. Ich wünsche mir, dass Herr Stojanović Ruhe findet, Vertrauen, vielleicht Liebe, zumindest jemanden, der ihn versteht. Mit einem soliden Boden unter den Füssen könnte er einen neuen Start wagen.»

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Am 17. Januar 2019 um acht Uhr früh kommt es zur Verhandlung vor dem Bezirksgericht Weinfelden. Herr Stojanović nimmt Platz auf der Bank des Angeklagten. Warum haben Sie diese E-Mail so geschrieben?, will die Richterin wissen, weshalb drohten Sie dem Polizisten mit Gewalt? «Ich war im Schockzustand», sagt Herr Stojanović, «ich wusste nicht, wohin ich gehen soll, und konnte nicht mehr logisch denken.»
Danach stellt die Richterin allgemeinere Fragen. Zum Beispiel: Haben Sie ein Ziel im Leben? «Mein Ziel wurde vom Amt kaputtgemacht», antwortet er. «Ich habe kein konkretes Ziel.»
Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück, und um viertel nach zehn steht das Urteil fest: Freispruch.
«Ich wusste es!», ruft Herr Stojanović, halb freudig, halb verbissen. Sein Anwalt hingegen kann seine Überraschung nicht verbergen. Er hatte mit einem teilweisen Schuldspruch gerechnet.
Nach der Urteilsverkündung eilt es, der nächste Zug nach Schaffhausen geht in wenigen Minuten.
Der kurze Weg vom Gericht zum Bahnhof Weinfelden bereitet ihm Mühe, er kommt nicht so oft raus, er schnauft laut, und Schweisstropfen laufen ihm über das Gesicht.
Als der Zug losrauscht, sitzt Herr Stojanović erschöpft in einem Viererabteil.
«Nur weg hier», sagt er und wischt sich den Schweiss von der Stirn.