Mehr, als Sie über den Hilari wissen wollen; und weniger, als Sie darüber wissen sollten. Ein Erfahrungsbericht.
Ein Pinguin eiert vorbei, zum Ende der Strasse, wo ein kahles Feld beginnt, er eiert und versucht, den Reissverschluss aufzuziehen, vorne, unterhalb seines Halses, aber seine Flossen rutschen am Reissverschluss ab, immer wieder, und so eiert der Pinguin, als läge sein Kopf auf einem Wackelpudding, bis sich ein Artgenosse erbarmt, sagt, Alder, lass ma, i helfe dir, Pfoten weg, worauf der Pudding-Pinguin seine Arme in die Luft wirft.
Endlich surrt der Reissverschluss, der eiernde Pinguin pisst auf das kahle Feld und sagt, Dangge Mann, bis ein Guder, kanns u wieder sumachen?
Ich stehe ein paar Meter daneben, rauche und bin einigermassen gerührt von der Reissverschluss-Romanze; aus einem Festzelt in der Nähe dringt Musik, Schlager, Text, der das Leben schreibt. «Geh mal Bier hol’n, du wirst schon wieder hässlich!», singt ein Kasper. «Ein, zwei Bier, und du bist wieder schön. Geh mal Bier hol’n, denn ich mein, dass du hässlich bist, das muss ja nicht sein.»
Mein Körper steckt in einem Indianerkostüm, mein Geist im Halbdelirium, Zeit und Raum spielen keine Rolle, als raste ich in einem Wurmloch durchs Universum, ziellos, rastlos, so in etwa muss sich das Ende aller Enden anfühlen, vielleicht mit etwas weniger starkem Biergeruch.
Aber der Plan ist noch da, in meinem Kopf, glasklar, schliesslich ist er jedes Jahr derselbe.
Als ich, ein paar Jahre ist es nun schon her, in das Phänomen des Hilari eingeführt wurde, in diese Feuerthaler, Langwieser, Flurlinger und Uhwieser Eigenheit, lernte ich zwei Dinge. Erstens: Bezeichne den Hilari nie als Fasnacht (was ich natürlich trotzdem tat). Und zweitens: Am Hilari wird der antifaschistische Widerstand ausgerufen.
So hat mir das damals ein Freund erklärt, ein gebürtiger Feuerthaler, ich glaube, er war als Wikinger verkleidet, und ich versicherte ihm, der Widerstand wird ausgerufen, worauf wir ein paar Gläser Prosecco mit Wodka-Schuss tranken. Wie er darauf kam, weiss ich nicht, doch ihn danach zu fragen, schien mir unangebracht, zumal er, mit seinem Wikingerhelm und den Wikingerhaaren, sehr ernsthaft und klarsichtig darüber sprach.
Der Freund besuchte den Hilari in den letzten Jahren immer seltener, familienhalber, und so hat es sich ergeben, dass die Aufgabe des Antifa-Widerstands mir übertragen wurde.
Die Vogelscheuche
Ich spüre ein Pochen im Rücken und drehe mich um, vor mir steht eine Vogelscheuche – oder ist es ein schöner Zombie? –, aus der linken Schulter ragt eine Holzlatte, das Gesicht grün und schwarz und braun, Strohhut oben und zerfetzte Hosen unten.
Feuer, sagt die Vogelscheuche.
Feuer, sage ich und stecke ihr eine Zigarette an.
Bin Vater geworden, sagt die Vogelscheuche nach einigen Zügen.
Im Festzelt nebenan hat der Kasper gewechselt, jetzt grölt ein neuer Kasper, wobei die Stimme genau gleich klingt, wie jemand, der sich etwas in der Autotür eingeklemmt hat und sich darüber freut. Der neue Kasper singt: «Mit dem Arsch in der Sonne und ner Büchse in der Hand, nem Eimer auf dem Kopf liegen wir am Strand. Doch was liegt da hinten? Wir sehen einen Wal – auf in den Walkampf, scheissegal! Der Wal hustet laut, was kommt da denn raus? Es ist die fette Schwester von Klaus und Klaus. Auf die Frage, warum er sie gefressen hat, sagt er: Dicke Titten, Kartoffelsalat! Olé olé olé!»
Das ist das Grösste, sagt die Vogelscheuche, so ein kleiner Knopf, der kann nur fressen und scheissen, ich kann es selber noch kaum glauben, ich werde ihn gegen alles auf der Welt beschützen. Die Vogelscheuche ballt die Faust und fährt fort, das kannst du dir nicht vorstellen, du musst es selber erleben.
«Olé olé olé! Dicke Titten, Kartoffelsalat!», singt der neue Kasper im Festzelt.
Die Vogelscheuche verabschiedet sich in Richtung der blauen WC-Häuschen. Ich sehe ihr noch etwas nach, beobachte sie, wie sie vergeblich versucht, sich und die Holzlatte in der Schulter durch die schmale Tür zu drücken, quasi Ovomaltine-Werbung, nicht besser, aber länger.
Unbekanntes Festobjekt
Jetzt wird es Zeit, denke ich, jetzt kommt der Moment des Widerstands, aber da kommt kein Widerstand, sondern ein langer Typ in einem blau-weissen Sack, Kategorie unbekanntes Festobjekt, UFO.
Kostüm habe ich selbst genäht, sagt das UFO und zeigt auf die Nähte des Sacks.
Das UFO langt in eine Stofftasche, die es über der Schulter trägt, und reicht mir ein Dosenbier. Vielleicht erklärt das UFO auch, was seine Verkleidung zu bedeuten hat, vielleicht bietet es eine tiefgründige kunstgeschichtliche Abhandlung, eine subversive, leicht ironische, aber doch ausreichend ernsthafte Kritik der Konsumgesellschaft, wohl mit ein bisschen zu viel Zeigefinger, so, wie man es an Workshops für Jung-Comedians lehrt, die im elften Semester Soziologie studieren und sich von Avocados ernähren. Allein, erinnern mag ich mich nicht mehr an die Ausführungen des UFOs, nur noch ans Dosenbier, womit die Konsumkritik, wie ich mit Bedauern feststellen muss, wohl beerdigt ist.
Aber der Widerstand, sage ich mir und nehme den letzten Schluck aus dem Dosenbier, der Widerstand! Ich kämpfe mich durch die Menschentraube im Eingang des Festzelts, schreite zu einem Stehtisch in der Mitte des Zelts und ordne meinen Federschmuck.
Ich schreie: Antifascisti! Siamo tutti antifascisti!
Niemand interessiert mein Gewinsel. Nur ein Cowboy wirft mir einen fragenden Blick zu. Ein weiterer Kasper singt jetzt mit einer Laune, die in der Schweiz erst ab drei Promille legal ist: «Ich hab dich auch schon schlanker gesehen, du hast ein Gewichtsproblem! Schalalalalalalaaa!»
Ich schreie nochmals, im Takt der Musik: Antifascisti!
Der Cowboy tippt seinen Hut an, torkelt auf mich zu, drückt mir einen halbleeren Bierbecher in die Hand und sagt, ich solle das saufen. Dann stolpert er weiter.
Grosser Manitou, denke ich, bestochen von einem, der mein Volk ermordet hat, kann es noch berauschender kommen? Ich beschliesse, den Widerstand ruhen zu lassen. Für dieses Jahr.