Er war der Ziehvater von Bob Marley, gewann einen Grammy, bereitete dem Elektro den Weg. Jetzt stellt er erstmals aus – in Schaffhausen
«Ich bin ein Ausserirdischer, nicht von einem anderen Planeten, sondern vom Himmel.»
Lee «Scratch» Perry, 2007
Der kleine, 82-jährige Mann nimmt noch einen Schluck Rimuss aus der kleinen Discokugel. Dann zieht er sich um, mitten in der Vernissage seiner eigenen Ausstellung – ihm ist jetzt nach einem samtenen Zweiteiler –, lässt sich einen Stuhl bringen, besteigt ihn, zieht kurz am Joint und beginnt dann, Symbole auf die Collagen zu krakeln, die die Wände des Raums in der Schaffhauser Innenstadt grossflächig staffieren. Seine Collagen.
Die paar Dutzend Menschen, die an diesem Samstagabend den Weg in den Ausstellungsraum «zur Liebe» gefunden haben, stehen jetzt im Halbkreis um das Männlein, schiessen Fotos; denn ohne glaubt einem ja heutzutage niemand mehr. Und erst recht nicht, dass da, in einem unbekannten, mit Holz beheizten Schaffhauser Kunstraum eine der bedeutendsten Figuren der Popgeschichte des 20. Jahrhunderts die Wände vollkritzelt. Und vielleicht glaubt man es gerade selbst nicht so richtig. Soll dieses zugekiffte Männlein wirklich einen Grammy gewonnen haben? Soll dieser Kauz eine Musikrichtung, den Dub, erfunden oder zumindest entscheidend geformt und damit die Basis für die gesamte elektronische Musik gelegt haben? Ist dieser Paradiesvogel tatsächlich die treibende Kraft hinter Bob Marleys besten Platten?
Salvador Dalì des Dub
Lee Perry kam 1936 zur Welt, verliess mit 15 die Schule, ging nach Kingston, die Hauptstadt Jamaikas, und wollte Musiker werden. Nicht aussergewöhnlich in einem Land, von dem man sagte, dass jeder zehnte Einwohner in seinem Leben mindestens einen Song einsingt und auf Vinyl pressen lässt. Doch Perry machte sich bei den grossen Namen einen Namen, schrieb als Jungspund für Delroy Wilson und die Maytals, arbeitete für Coxsone Dodd, Prince Buster, Joe Gibbs. Es waren die 60er-Jahre, die Geburtsdekade des Reggae. Und Lee Perry war mitten im Epizentrum.
Doch nicht als Sänger, sondern als Produzent. 1973 gründete er «Black Ark», ein bald legendenumranktes Studio. Er investierte sein weniges Geld in rudimentäres Equipment und begann, damit zu zaubern. Er komponierte virtuos am Mischpult, splittete die Riddims der Musiker in Einzelteile auf und schichtete sie auf den vier Spuren seines Aufnahmegeräts neu, dass sie klangen wie 32 und mehr. Damit tat er etwas, was es vor ihm nicht gab. (Auch wenn er selber behauptete, nur vier Spuren seien von ihm, die übrigen stammten direkt aus dem Weltall.)

«Scratch» im Element – In den 70er-Jahren am Mischpult des «Black Ark»-Studios.
Doch Perry baute nicht nur Klangcollagen, er erweiterte sie mit überzeichneten Halleffekten und Echos, sampelte Mensch, Tier und Maschine gleichermassen. Der Dub war geboren, die psychedelische Spielart des Reggae. Damit nahm Perry die Produktionstechniken vorweg, mit denen heute praktisch jeder Popsong aufgenommen wird. Die elektronische Musik sowieso. Man nannte ihn den «Salvador Dalì des Dub».
Bald wurde das «Black Ark» zum Reggae-Mekka. Für Bob Marley war der Mann, der ihn Spiritualität lehrte, auch noch Jahre nach ihrem Zerwürfnis der Einzige, dem er in jeder Hinsicht vertraute. Bis heute geniesst Lee Perry auf der Insel Legenden-Status, jedes Kind kennt den verrückten Mann, vielen gilt er als Guru. Doch auch Musiker wie Paul McCartney pilgerten in seinen Hinterhof, um mit dem durchgeknallten Genie aufzunehmen.
Schon damals war Perry, man könnte sagen, verschroben. Er behauptete, vor 75 000 Jahren vom Planeten Sirius gekommen zu sein, betete Bananen an, lief wochenlang mit einem rohen, madigen Stück Fleisch auf dem Kopf durch Kingston, um böse Dämonen zu vertreiben.
Wie Perry im Schaffhauser Kunstraum «zur Liebe» kifft und kritzelt, auf- und absteigt, kippt eine Kerze aus einem kleinen Schrein und geht zu Boden; rotes Wachs tropft aufs Tafelparkett, die Kerze brennt weiter, droht, ausser Kontrolle zu geraten. Perry bückt sich, schaut lange, erhebt sich wieder, als sei nichts gewesen, und kritzelt weiter. Eine Besucherin stürzt sich auf die Kerze und entschärft die Situation.

Foto: Stefan Kiss
Man muss schmunzeln. Vor wenigen Jahren brannte Perrys Atelier im schweizerischen Einsiedeln ab, er hatte eine Kerze vergessen. Und auch «Black Ark» brannte 1983 komplett aus. Viele behaupten, es sei kein Unfall gewesen. Die englische Musikpresse war sich einig: Perry ist nicht mehr exzentrisch, launisch und unvorhersehbar. Jetzt ist er komplett irre.
«Ich glaube an meine Scheisse»
Dub ist nicht nur ein Musikstil und Lee Perry ist nicht nur Musiker. Er konstruierte über die Jahre eine Philosophie, die – wie der Dub – verschiedenste Versatzstücke enthält. Eine spirituelle Collage, ausgehend vom Afrofuturismus, der selbst Elemente von Fantasy und historischen Romanen ebenso aufweist wie von Science-Fiction und Kosmologie. Gepaart mit einem guten Schuss Afrozentrismus. Es handelt sich, um die Aktivistin Ingrid La Fleur zu zitieren, um «eine Möglichkeit, sich durch eine schwarze kulturelle Linse mögliche Zukunftsszenarien vorzustellen».
Hier gibt es Schnittpunkte zu Rastafari: Repatriation, die Rückkehr ins gelobte Land Afrika, ist einer der Grundpfeiler der jamaikanischen Bewegung, zu der Perry einst auch den Jungspund Bob Marley geleitete. Selbst paarte der «Upsetter», wie Perry sich nennt, die Rasta-Strukturen und den Afrofuturismus mit Elementen der Obeah-Tradition, einer Spielart schwarzer Magie, karibischen Volkszaubern, schamanistischen Ritualen und einem obskuren Maschinen-Kult mit sich selbst im Zentrum.
Der Mann lebt in seiner eigenen Welt. Und diese befindet sich seit 30 Jahren im schweizerischen Einsiedeln.
1989 heiratete er in einer Krishna-Zeremonie Mireille Campbell, gemäss Blick eine ehemalige Edel-Dirne und Domina aus Zürich. Mit ihr hat er zwei Kinder. Und er begann, sein Werk auszudehnen. Bereits 1977, zur Blüte von «Black Ark», malte er okkulte Symbole und spirituelle Graffiti auf die Wände, baute byzantinische Schreine auf. Kunstsachverständige sagen, schon damals sei die poetische Inspiration wichtiger gewesen als der musikalische Output. In der Schweiz wanderten die Collagen vom Vinyl nach und nach auf Leinwände.
Auf Youtube existiert ein Video, das Perry auf einem Podium zeigt. Experten lobpreisen sein künstlerisches Werk. Er selbst lacht und sagt: «Ich bin ein Kind. Ich glaube an meine Scheisse. *Pff pff pfff*» Irritation macht sich breit, doch auch dieses Votum wird mit heiligem Ernst interpretiert.
Eine deutsche Journalistin, die ihn vor wenigen Jahren traf, schrieb anschliessend, Perry zu interviewen, sei wie der Versuch, Wasser mit einem Sieb aufzufangen.
Doch muss man ihn überhaupt fassen?
«Klar gibt es eine Diskrepanz zwischen ihm und der Kritik», sagt Luca Beeler. «Aber ob Lee Perry seine Rolle in der Kunstwelt annimmt oder nicht, ist am Ende gar nicht relevant.»
Ohne Beeler wäre Perry nicht nach Schaffhausen gekommen, hätte hier nicht seine allererste Kunstausstellung eröffnet, bevor die Werke im Swiss Institute in New York einer breiten Öffentlichkeit gezeigt werden sollen. Das kam so:
Einer von Perrys Söhnen ging mit dem späteren Künstler und Kurator Lorenzo Bernet zur Schule. Dieser wiederum ist befreundet mit den Künstlern Yannic Joray und Luca Beeler, die seit Kurzem den Kunstraum im «Haus zur Liebe» bespielen. Und Beeler, ein 33-jähriger Schaffhauser, ab März 2019 Leiter der Stadtgalerie Bern, sagt: «Perry ist ein guter Künstler. Es geht uns nicht darum, von seiner Berühmtheit zu profitieren.»
Beeler scheint das Scheinwerferlicht zu scheuen, der Kunstraum sei eher ein Projektraum, eine Art Space. Keine Verkäufe, keine Öffnungszeiten, keine Werbung. Die Werke werden auf Blogs rumgereicht, in Online-Dokumentationen verschickt (www.zurliebe.ch). Statt Weisswein gibt es an der Vernissage portugiesisches Billigbier aus einem Eiszuber. Der Kunstraum «zur Liebe» ist so etwas wie das Warm-up für New York.
Die Zeitungsausschnitte, Fotos, Steine, Spiegel, Gedichte, Plakate, spirituellen Referenzen, Superhelden-Comics, Fundstücke aus dem Kunstraum wirken auf den ersten Blick wahllos zusammengewürfelt. Beeler jedoch sagt, er erkenne, wie genau Perry ausgewählt habe, die Referenzen seien sinnhaft, die Auseinandersetzung mit der jamaikanischen Kolonialzeit spürbar: «Ein interessantes Werk innerhalb des postkolonialen Diskurses».
Aller Verschrobenheit zum Trotz: Lee Perry ist sich treu geblieben. Sei es im Genie oder im Wahnsinn – oder in beidem.
Ausstellung im Kunstraum «zur Liebe» Platz 9. Besuch auf Anfrage: beeler.luca@gmail.com. Öffentliche Lesung des jamaikanischen Dichters Ishion Hutchinson: Samstag, 12. Januar, 18 Uhr.