Ausser Kontrolle

18. Dezember 2018, Kevin Brühlmann
Foto: Peter Pfister
Foto: Peter Pfister

Minderjährige Mädchen verschicken regelmässig Nacktfotos von sich, womit sie Kinderpornografie herstellen. Warum? Und was kann man dagegen tun? Der Fall der 16-jährigen Dafina aus Schaffhausen soll aufklären.

Die Temperatur liegt knapp unter dem Gefrierpunkt, als ein Wagen mit Zürcher Kennzeichen zum Schaffhauser Bahnhof fährt. Es ist Freitag, der 9. Februar 2018, 21 Uhr. Am Steuer sitzt der 19-jährige Adis, mit ihm im Auto sind zwei Kumpel, der 18-jährige Tafil und der 17-jährige Faton. Drei Jungs vom Schlag Cristiano-Ronaldo-Imitation.

Alle tragen ordentlich Gel im akkurat frisierten Haar, und ihr Plan für den Abend ist mindestens so fixiert: Sie wollen mal wieder Spass haben, «eine bangen», bei ihren Brüdern, wie sie ihre Kollegen nennen, damit angeben. Dafür sind sie extra aus der Zürcher Agglomeration hergefahren. Irgendwie haben sie Dafina, 16 Jahre alt, aus Schaffhausen kennen gelernt. Nun wartet Dafina in der Kälte hinter dem Bahnhof, und als der Wagen mit den drei jungen Männern anhält, steigt sie ein.

Die vier Teenies fahren durch die Stadt Schaffhausen. Dafina zeigt ihnen Orte, «an denen sie ungestört sein können». So wird sie es später der Schaffhauser Staatsanwaltschaft erzählen. Denn ein paar Monate danach, am 31. Oktober 2018, stellt die Schaffhauser Staatsanwaltschaft einen Strafbefehl gegen die jungen Männer aus, wegen Herstellung, Besitz und Weiterleiten von Kinderpornografie.

«Während der Fahrt befriedigte [Dafina]», so die Schaffhauser Staatsanwaltschaft, «alle drei Männer oral und vollzog auch den vaginalen Geschlechtsverkehr mit ihnen, wobei dies im Einverständnis aller geschah.»

Abwechselnd zücken Adis, Tafil und Faton ihre Handys und halten alles als Video fest.

Zu diesem Zeitpunkt entgleitet Dafina die Kontrolle. Über ihren Körper, ihre Intimität, schliesslich über ihre Persönlichkeit. Das wird sie jedoch erst im Nachhinein bemerken. Und dann wird es zu spät sein. Daran kann auch die Staatsanwaltschaft nichts mehr ändern.

Nur sechs Fälle
Dafinas Fall mag ungewöhnlich erscheinen, krass auch. Gleichwohl legt er Strukturelles offen. Das Phänomen des Sexting unter Minderjährigen, also Nacktselfies oder -videos zu verschicken, kennt ausgeprägte Geschlechterunterschiede.

In der Tendenz ist klar: Mädchen posieren für Nacktbilder, um anderen zu gefallen. Knaben speichern sie ab und schicken sie an Freunde oder an sonstwen weiter.

In einem Interview, das die AZ im Dezember 2017 publiziert hatte, sprachen zwei damals 14- und 15-jährige Schaffhauserinnen davon, dass Nacktselfies «kein Riesending» seien, denn «alle machen es». Wobei sie klarstellten, dass Nacktfotos nur dann Nacktfotos seien, wenn Geschlechtsteile ganz zu erkennen sind.

Mit solchen Bildern oder Videos machen sie sich selbst strafbar; gemäss Strafgesetzbuch sind Herstellung, Besitz und Weiterleiten von pornografischen Inhalten mit unter 18-Jährigen verboten.

Laut der Schaffhauser Jugendanwaltschaft kam es in den Jahren 2015, 2016 und 2017 zu insgesamt sechs Sexting-Strafverfahren gegen Minderjährige: gegen drei Mädchen wegen Herstellung von Kinderpornografie und gegen drei Knaben wegen deren Besitz. Dasselbe Strafmuster punkto Geschlecht zeigen Zahlen aus Zürich, wo es im selben Zeitraum zu 54 Strafverfahren gegen Minderjährige kam.

Obschon Kinderpornografie ein Offizialdelikt ist, gestaltet sich die Aufklärung unter Minderjährigen als schwierig. Oft werden die Behörden erst dann auf einen Fall aufmerksam, wenn er viral geht. Wie bei einem Mädchen aus Schaffhausen, das sich 2012 dabei filmte, wie es mit einer Eisteeflasche onanierte. Der Fall führte zu einem Dutzend Strafverfahren.

«Illegale Pornografie kann beispielsweise bei konkreten Verdachtsmomenten, die eine Kontrolle eines Mobiltelefons rechtfertigen, oder durch Zufallsfunde bei Auswertungen von Mobiltelefonen festgestellt werden», meint Rahel Jenzer, die Leiterin der Schaffhauser Jugendanwaltschaft.

Hohe Dunkelziffer
«Die Dunkelziffer ist sicher sehr viel höher als die Anzahl der Strafverfahren», sagt Pascale Sola. «Bis es zu einer Anzeige kommt, braucht es meistens recht viel. Im Normalfall versucht man, die Sache im direkten Gespräch zu lösen.» Sola, ausgebildete Psychologin, arbeitet seit 1995 in der Jugendberatung der Stadt Schaffhausen. Pro Jahr betreue sie etwa drei bis vier Fälle mit Sexting im Fokus. Das Thema komme aber beiläufig auch bei anderen Beratungen zum Vorschein, etwa wenn es um Beziehungsstress gehe, meint Sola. Die Fälle hätten sich in den letzten Jahren eindeutig gehäuft.

«Einerseits gibt es Druck von Buben, ‹es› zu tun, und andererseits erhalten die jungen Frauen so Aufmerksamkeit», sagt Pascale Sola. «Typisch ist, dass Meitli dem Freund ein sexy Bild schicken, das kann ja zunächst sehr lustvoll sein. Nach dem Senden wird es jedoch unkontrollierbar. Es kommt immer wieder vor, dass der Freund die Bilder oder Videos nach der Trennung weiterschickt. Die Folgen tragen die Mädchen. Bei einem Fall wurde eines im Bus von Unbekannten angepöbelt und als Schlampe beschimpft. Ein anderes Mädchen, auch das passiert immer wieder, hatte Nacktfotos von sich auf ihrem Mobiltelefon; dieses wurde ihr gestohlen, und es ging nicht lange, da waren die Fotos im Netz für alle sichtbar.»

Pascale Sola appelliert an bessere Prävention: «Man muss jungen Frauen zeigen, wie sie auch ohne das Zurschaustellen von Nacktheit selbstbewusst durchs Leben gehen können. Sie sollen die eigenen Stärken kennen, ohne primär auf ‹gefallen wollen› zu setzen. Was nicht ganz einfach ist: Frauen in Werbung und Popkultur werden wahnsinnig sexualisiert.»

Zurzeit liegt die Präventionsarbeit an Schulen in der Kompetenz der Lehrpersonen. Es gibt zwar Angebote, die Teenies im Umgang mit neuen Medien zu schulen, diese sind jedoch freiwillig.

Die Jäger-Trophäe
Freitagabend, 9. Februar 2018. Ein Auto mit Zürcher Kennzeichen rollt durchs kalte Schaffhausen, auf der Suche nach Orten, wo man «ungestört sein kann». Im Innern des Wagens hat die 16-jährige Dafina nacheinander Sex mit drei jungen Männern, wobei diese alles mit ihren Handys filmen. Das grelle Kameralicht blendet Dafina, weshalb sie einmal direkt in die Linse blickt und ihren Mittelfinger zeigt.
Dafina hatte zwar eingewilligt, Sex zu haben, und auch das Filmen an sich störte sie offenbar nicht; sie «bestand jedoch darauf», hält die Staatsanwaltschaft fest, «dass ihr Gesicht auf den Videos nicht ersichtlich sein sollte».

Die jungen Männer im Auto – Adis, Tafil und Faton – halten sich nicht an Dafinas Bedingung. Und nachdem sie sich von Dafina verabschiedet haben, schicken sie sich die Videos zunächst gegenseitig, dann auch an mindestens einen Kollegen weiter.

Ihr Vorgehen erinnert an einen Jäger, der den Kopf des geschossenen Hirschs als Trophäe an die Wand nagelt.

Wie grosse Kreise die Videos mit Dafina tatsächlich ziehen, ist nicht herauszufinden. Auch die persönlichen Folgen für die 16-Jährige bleiben unbekannt. Klar ist nur, dass sie Strafanzeige einreicht. Mit Erfolg: Die jungen Männer werden mit einer Geldstrafe belegt.

Der wegen Raufhandel, Urkundenfälschung und Verstoss gegen das Betäubungsmittelgesetz vorbestrafte Tafil muss 120 Tagessätze à 90 Franken zahlen. Adis, der Fahrer, kommt mit einer bedingten Geldstrafe davon (90 Tagessätze à 30 Franken). Und da Faton, der Dritte, zum Zeitpunkt der Tat erst 17 ist, wird sein Fall von der Jugendanwaltschaft behandelt, weshalb die Strafe nicht öffentlich wird.

Den jungen Männern «war klar, dass es verboten ist, Video- und Bildmaterial von sexuellen Handlungen mit Minderjährigen herzustellen», so die Staatsanwaltschaft, «und dass es verboten ist, kinderpornografisches Material weiterzuleiten».

Alle Namen der Teenager geändert