Durchgedreht

3. Dezember 2018, Marlon Rusch
Die Kettensäge kaufte Luca W. einen Tag vor der Tat.
Die Kettensäge kaufte Luca W. einen Tag vor der Tat.

Ein Mann bedroht in einer Bar Menschen mit einer Kettensäge. Ohne sie zu verletzen. Nun soll er weggesperrt werden – vielleicht bis an sein Lebensende. Ist das richtig?

Am Freitagabend, 11. August 2017, geht Luca W. in einer Bar in Stein am Rhein während Stunden hektisch ein und aus. Der Abend ist ein einziges Wechselbad der Gefühle. Als er die Tür zur Bar um 23.42 Uhr zum vierten Mal öffnet, hält er in der rechten Hand eine Akku-­Kettensäge der Marke Stihl, Modell MSA 120C mit einer Schwertlänge von 25 Zentimetern. Das lasse ich nicht auf mir sitzen, denkt er. Dann lässt er den Elektromotor aufheulen.

Am Freitagnachmittag, 2. November 2018, um 15:35 Uhr wird Luca W., der in Wahrheit anders heisst, von einem Aufseher in den Besucherraum des Massnahmenzentrums Bitzi im toggenburgischen Mosnang gebracht. Hier einen Termin zu bekommen, ist kein einfaches Unterfangen, Journalisten sind nicht besonders gern ge­sehen. Besucher werden penibel durchsucht, in der Bitzi sitzen Straftäter mit einer psychischen Störung oder einer Suchterkrankung ein.

Auf den Mann, der in den Raum geführt wird, trifft gemäss dem Gutachten eines forensischen Psychiaters ersteres zu: schizoaffektive Störung mit gegenwärtig manischer Auslenkung, dissoziale Persönlichkeits­störung, Störung durch Cannabinoide.

Während der einstündigen Besuchszeit begegnet einem vor allem ein Mensch, der gescheitert ist. Ein Mensch auch, der sich sein Scheitern nicht eingestehen will. Der Psychiater spricht von einer «ausgeprägten Bagatellisierungstendenz».

Luca W. sagt, draussen habe er ein gutes Leben gehabt, drei Autos, keine Schulden.

Doch wie gut war dieses Leben wirklich? Die Kanti brach der heute 49-Jährige ab, nach mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie wegen aggressiven Verhaltens arbeitete er temporär auf dem Bau und später sieben Jahre lang in der Firma des Bruders. Die beiden trennten sich im Schlechten.

Luca W. machte sich selbstständig und bot seine Dienste als Gärtner an. «In meinem Alter hätte ich sowieso nichts mehr gefunden.» Gemäss eigenen Angaben verdiente er monatlich rund 4000 Franken. Derzeit sei er aber arbeitsunfähig. Seine Psychiaterin sagt, Luca W. sei «finanziell extrem eingeengt» gewesen.

Zwischen 2008 und 2011 wurde Luca W. wiederholt straffällig. Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Beschimpfung, Tätlichkeiten, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte führten zu einer Gefängnisstrafe von 18 Monaten, die jedoch zugunsten einer ambulanten Behandlung aufgehoben wurde. Seither sah Luca W. regelmässig eine Psychiaterin. Ausserdem nahm er zuerst alle 14 Tage 37,5 mg Risperdal Consta, ein Medikament zur Behandlung von Schizophrenie, später täglich 2 mg Risperidon per os. Die Einnahme wurde durch engmaschige Spiegelbeurteilungen kontrolliert. «Ich habe immer genommen, was sie mir gegeben haben», sagt Luca W.

Ist das ein gutes Leben? Was ist überhaupt ein gutes Leben? Für W. steht fest, dazu würde eigentlich eine Frau gehören. «Ich wäre gern nicht allein gewesen.» Doch so einfach war das nicht.

Ein Kuchen im Mülleimer
Luca W. ist ein unscheinbarer Mann. Er misst 1,77 Meter, trägt kurze Haare. Das Karohemd spannt sich über dem Bauch, die Hände sind grob, die Zähne schlecht. Er tut sich schwer, Emotionen auszudrücken. Die Frauen sind ihm nie zugelaufen.

Doch in der Bar in Stein am Rhein gab es diese eine Frau, Isabell, wie sie sich nannte. In der Woche vor dem 11. August 2017 besuchte Luca W. immer wieder die Bar, drei oder vier Mal. Und da habe sich zwischen den beiden etwas entwickelt, wo er der Meinung war, das sei gut. Er habe einen Draht zu ihr. So hat er es der Polizei erzählt.

Von aussen sieht die Bar aus, wie eine Bar von aussen eben aussieht. Ein Namensschild, ein paar Tisch-Sonnenschirm-Kombinationen von Feldschlösschen, eine weisse Fassade. Doch schon ein flüchtiger Blick auf die Webseite zeigt, dass hier nicht nur Cocktails verkauft werden: «Ein nettes und erotisches Team wunderhübscher Girls empfängt Sie, um mit Ihnen aufregende Stunden zu verbringen.» Der «Service» kostet 100 Franken für 15 Minuten, für eine Stunde bezahlt man 300. Mittwoch und Sonntag sind «Aktionstage». Unter «Girls Aktuell» kann man sich einen Überblick über das Angebot verschaffen – es räkelt sich leicht bekleidet im Séparée. Doch deswegen, so Luca W., sei er nicht hergekommen. «Ich habe keine Schweinereien gemacht.» Er kam wegen Isabell.

Die Frau, eine 28-jährige Rumänin, sagte später zur Polizei, sie habe schon zu Beginn der Woche, als sie ihn zum ersten Mal gesehen habe, gemerkt, dass W. «nicht ganz normal» sei.

Als er an jenem Freitagabend, dem 11. August 2017, um 19 Uhr zum ersten Mal die Bar betritt, Stunden, bevor er die Kettensäge aufheulen lässt, trägt er einen Kuchen und eine Blume mit sich. Er glaubt, Isabell habe Geburtstag. Doch sie hat weder Geburtstag, noch ist sie interessiert am Kuchen oder an Luca W. Nach einer Diskussion zwischen ihm und den anwesenden Frauen landet der Kuchen im Mülleimer, und Isabell wendet sich ab. Mehrere Anwesende gaben zu Protokoll, Luca W. habe sich unflätig und beleidigend benommen, habe die Frauen als «Schlampen» beschimpft.

Der forensische Psychiater sollte später in seinem Bericht schreiben, dass mit einer schizoaffektiven Störung eine erhöhte Reizbarkeit und eine geringe Frustrationstoleranz einhergehen. Wenige Stunden vor seinem ersten Besuch in der Bar meldete sich Luca W. ausserdem telefonisch bei der Schaffhauser Polizei. Er soll sehr aufgeregt und aggressiv gewirkt und gesagt haben, es gehe ihm wegen eines Migräneanfalls sehr schlecht. So steht es im Rapport.

Doch von all dem wissen die Damen an diesem Freitagabend in der Kontaktbar nichts. Und noch ist die Situation auch unter Kontrolle. Luca W. gibt Isabell noch eine Chance, seine «Beziehungsangebote» zu erwidern.

Er sagt, er habe erst später gemerkt, dass Isabell die «Bar­nutte» sei. Sie sei zwar viel zu jung gewesen für ihn und bildschön, aber sie habe ihm in den Vortagen angedeutet, dass sie ihn auch mal privat treffen wolle. «Das wäre ein Anfang gewesen.» Isabell bestreitet diese Darstellung gegenüber der Polizei.

Es sei etwas ernüchternd gewesen mit dem Kuchen, sagt Luca W., «keine Party, kein Spass, also bin ich gegangen. Ich bin zu meinem Auto, habe ein Armbändchen geholt und bin wieder in die Bar gegangen».

Die Überwachungskamera zeigt, wie W. die Bar um 21.19 Uhr zum zweiten Mal betritt. Er will Isabell das Lederarmband schenken, das er für 70 oder 80 Franken im Manor-Ausverkauf erworben hat. Zu diesem Zeitpunkt ist er vom Inhaber der Bar bereits wiederholt ermahnt worden, seine Aggressionen zu zügeln. Der Inhaber erteilt Luca W. ein Hausverbot. Und auch Isabell zeigt ihm die kalte Schulter. Schliesslich verlässt er abermals die Bar, steigt in seinen Wagen, fährt weg. Doch bei der Schiffslandestelle beim Paradies in Schlatt sieht er schwere Blumentöpfe. Er steigt aus, lädt einen davon ein und macht sich erneut auf den Weg zu Isabell. Das dritte Geschenk. Als er die Bar zum dritten Mal betritt, zeigt die Uhr 23.39 Uhr. Noch drei Minuten bis zum Auftritt mit Kettensäge.

Nun ist der Bogen überspannt. Einige der Männer, die sich in der Bar aufhalten, spedieren ihn aus der Bar. Und da ist auch für Luca W. der Bogen überspannt. Er öffnet den Kofferraum.

Ein Urteil wie ein Grabstein
«Ich habe nie behauptet, die Sache mit der Säge sei eine gute Idee gewesen», sagt W. im Besucherraum der Bitzi, dicke Glasscheibe, zwei Tische, acht Stühle, ein Telefon ohne Knöpfe, das direkt zum Sicherheitspersonal durchschaltet.

Ansonsten zeigt Luca W. keine Reue. Die Bösen, das sind die anderen. Isabell, die Psychiater, der Staatsanwalt, die Richter – ganz allgemein der «Pseudo-Rechtsstaat».

Am 27. Februar 2018 spricht das Schaffhauser Kantonsgericht Luca W. schuldig der Drohung und verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten, an die er 200 Tage Untersuchungshaft anrechnen kann. Dazu wird eine stationäre therapeutische Massnahme zur Behandlung der psychischen Störung im Sinne von Art. 59 StGB angeordnet (siehe unten). Der 59er, wie die Juristen sagen, wird im Volksmund «kleine Verwahrung» genannt. Luca W. nennt ihn «Grabstein».

Mit Artikel 59 sperrt die Gesellschaft Menschen weg, die in ihren Augen gefährlich sind und eine Bedrohung darstellen. Erst vor drei Monaten bestätigte das Bundesgericht ein Urteil des Schaffhauser Obergerichts. Dieses besagte, dass vom stadtbekannten Querulanten Erich Schlatter eine «deutlich erhöhte Gefahr weiterer Straftaten» ausgehe. Schlatter muss in stationärer Behandlung bleiben – nach Artikel 59.

Die Massnahme ist umstritten. Ursprünglich als Ausnahme gedacht, stieg die Zahl der 59er seit der Einführung 2007 stetig an. Gemäss Zahlen der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren befinden sich in der Schweiz derzeit rund 1000 Menschen in einer Massnahme nach Artikel 59.

Oftmals übersteigt die Massnahme, wie bei Luca W., das eigentliche Strafmass. Und laut Experten fördert sie Willkür; sie gibt den Entscheidungsträgern einen grossen Ermessensspielraum – obwohl es um massive Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Straftäter geht.

Da sind zum einen die Psychiater, deren Gutachten die Entscheidungsgrundlage der Richterinnen bilden. Nach 33 Seiten resümierte der forensische Psychiater im Gutachten über Luca W.: «Der Explorand unterliegt primär aufgrund seiner schizoaffektiven Störung, aber auch in Verbindung mit seiner dissozialen Persönlichkeitsstörung einer deutlich erhöhten Gefahr zur Begehung neuerlicher Straftaten der Qualität aggressiv-bedrohlichen Verhaltens.»

Zur Senkung des Rückfallrisikos müsse, entgegen der Einschätzung von Luca W.s angestammter Psychiaterin, einer stationären Massnahme «eindeutig Vorrang vor einer ambulanten Massnahme gegeben werden». Das Gutachten fusst auf diversen Akten verschiedener Ämter, einem Telefonat mit der früheren Psychiaterin sowie kurzen Gesprächen mit Luca W., die insgesamt keine Stunde dauerten. W. verweigerte von Anfang an die Zusammenarbeit, da derselbe forensische Psychiater ihn bereits vor Jahren mit einem Gutachten «in die Scheisse geritten» habe. Dennoch gibt es nur dieses eine Gutachten – es bildet die Grundlage für den richterlichen Entscheid. Für den «Grabstein».

Kritiker monieren, dass die Gespräche zwischen Psychiatern und Tätern nicht nachvollziehbar seien. Dass Psychiater in der Regel vom Schlimmsten ausgingen. Und nicht nur sie.

Auch Richterinnen und Vollzugsbeamte haben wenig Anreize, im Zweifelsfall auf eine kleine Verwahrung zu verzichten – oder eine solche aufzuheben. Bei einem tatsächlichen Rückfall des Täters müssten sie sich rechtfertigen. Ein Rückfall kann Menschenleben kosten – und Richterkarrieren zerstören. Im Zweifel, sagen Kritiker, würden Menschen eben verwahrt. Auch wegen juristisch geringfügiger Delikte – und als solches muss auch die Aktion von Luca W. eingestuft werden. Verurteilt wurde er lediglich wegen Drohung.

Verfahrensfehler?
Als er am Freitag, dem 11. August 2017, kurz vor Mitternacht zum vierten Mal in der Bar steht und die Kettensäge aufheulen lässt, hat Luca W. endlich die Beachtung, die er wollte.

Sofort greifen zwei der Männer zu Barhockern und setzen sich zur Wehr. Sie schaffen es, den Angreifer aus der Bar zu drängen und dort in Schach zu halten. Kurz darauf rasen mehrere Patrouillen der Schaffhauser Polizei nach Stein am Rhein. Man befürchtet das Schlimmste – erst einige Wochen ist es her, dass ein anderer Mann mit Kettensäge in der Schaffhauser Altstadt ein Blutbad anrichtete und ein schweizweites Medienecho auslöste. In Stein am Rhein nehmen die Beamten Luca W. ohne Widerstand fest; die Kettensäge liegt da bereits stumm auf der Rückbank seines VW Passat.

«Ich habe niemanden verletzt», sagt er. «Ich neige einfach zu verbalen Entgleisungen. Und eben, das mit der Kettensäge war keine gute Idee.»

Muss man ihn deswegen prophylaktisch wegsperren?

Luca W. kam selbst auf die AZ zu. Zuerst schickte er handgeschriebene Briefe, später rief er aus dem Massnahmenzentrum an. Er händigte freimütig sein gesamtes Dossier aus – Urteile, Gutachten, Rapporte –, obwohl ihm klargemacht wurde, dass die AZ keine Partei ergreifen wird. Wieso hat er das getan?

Die Zeichnung lag Luca W.s erstem Brief an die AZ bei.

Die Zeichnung lag Luca W.s erstem Brief an die AZ bei.

«Ich bin sowieso am Arsch. Da habe ich lieber Transparenz», antwortet Luca W. Er beklagt «diverse Verfahrensmängel». «Aussergewöhnlich viele», sagt auch sein Anwalt. Deshalb hätten sie das Urteil auch weitergezogen. Ihre Ausführungen klingen gesucht.

Am Dienstag, 4. Dezember, wird das Schaffhauser Obergericht den Fall behandeln. «Wenn die Schweiz ein Rechtsstaat ist, kehrt er das Urteil um», sagt der Beschuldigte.

Es dürfte sein Wunschtraum bleiben. Wahrscheinlicher ist, dass er bis auf Weiteres weggesperrt wird – «wie ein tollwütiger Hund», so Luca W.

 

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Kleine Verwahrung
Die «kleine Verwahrung» bezeichnet im Volksmund den Artikel 59 des Strafgesetzes. Sie betrifft Straftäterinnen und Straftäter, die als psychisch gestört, aber – im Gegensatz zur ordentlichen Verwahrung – als therapierbar gelten.
Der Täter soll lernen, «mit seiner Störung sozialverträglich umzugehen».
Der Freiheitsentzug dauert in der Regel maximal fünf Jahre, in denen die Täterin therapiert werden soll. Er hat nichts mit der Schwere der Straftat zu tun. Sind die Behörden der Ansicht, dass die Therapie nicht den gewünschten Erfolg bringt, können sie die Massnahme verlängern – so lange, bis sie den gewünschten Erfolg bringt. Auf diese Weise kann die kleine Verwahrung faktisch in eine lebenslängliche Verwahrung übergehen.