Thayngen zuerst

30. November 2018, Kevin Brühlmann
Foto: Peter Pfister
Foto: Peter Pfister

Der Frust der Schweiz über «die da oben» und die Angst in den ­Knochen. Zum Beispiel in Thayngen.

«Ich ha Jo gschtumme», sagt ein Rentner in blauer Faserpelzjacke, Hände wie Schraub­stöcke, Jahrzehnte als Strassenbau-Polier.

Er steht auf dem Kreuzplatz in Thayngen, unten im Dorf. Es ist Sonntagmorgen, Abstimmungssonntag, kein Traktor auf den Strassen. Durch die sämige Nebelsuppe hört man zehn dumpfe Schläge der Kirchenuhr.

Bis 11 Uhr hat das Abstimmungslokal im Bauch der Gemeindebibliothek noch geöffnet, letzte Gelegenheit, den Stimmzettel einzuwerfen. Verpasst man sie, gibt es eine Busse, sechs Franken bloss, doch in Thayngen kassiert man nur ungern Bussen, praktisch ewige soziale Ächtung.

Dem pensionierten Polier ist es ernst: «Niemert söll mir vorschriebe, wani z tond ha. Do z Bern obe schtosseds jo denn sowieso wieder alles um. Und schlussament wird üs alles vo Brüssel ufs Aug druckt.» Er rückt seine Kappe zurecht und fährt etwas gutmütiger fort: «Susch bin i zfriede, da chann i säge. Dä Gmeindrot macht’s jo guet, d Polizei au, gueti Arbeit. Moll, susch bin i zfriede.» Als er sich in Richtung Oberdorf verabschiedet, spaziert ein Mann mit «Fuck the EU»-Schriftzug auf dem Pullover vorbei.

Arbeitslose Blindgänger?
Wen man an diesem nebligen Sonntagmorgen vor dem Thaynger Abstimmungslokal auch fragt, und man kann viele fragen, ganz gleich, ob alt oder jung – praktisch alle befürworten die Selbstbestimmungsinitiative der SVP. Sie wollen Landesrecht vor internationales Völkerrecht stellen, auch vor die Europäische Menschenrechtskonvention. Auf Kosten der Schwachen, sagen die Kritiker.

Schweizweit gesehen, ist die Initiative chancenlos, nur 33,8 Prozent der Bevölkerung stimmen dafür.

«Ein grosser Tag für die direkte Demokratie», analysieren die Politjournalisten und -journalistinnen des Landes. Sie loben das «besonnene Volk» und ein bisschen auch sich selbst. Weiter heisst es, etwa beim Online-Magazin «Republik»: «Das zeigt, dass die Schweiz nicht für jede Form von Populismus anfällig ist.»

Doch viele Schweizer Gemeinden sind für die Selbstbestimmungsinitiative. Allein im Kanton Schaffhausen sind es dreizehn.

Zum Beispiel Thayngen. Mit 1159 zu 1061 Stimmen befürwortet das Dorf die Initiative.

Laut den Analysen ist Thayngen also «anfällig für Populismus». Und schon erscheinen vor dem inneren Auge die Bilder der Abgehängten, der arbeitslosen Blindgänger, der Globalisierungsverlierer, wie es so schön heisst, die in die Fänge des Populismus geraten. So zumindest lautet die Theorie der Ökonomen. Und die Kulturalisten bemühen den mit der gesellschaftlichen Liberalisierung überforderten alten Mann, der nichts lieber täte, als in die 1950er-Jahre zurückzukehren, wo die traditionellen Werte – Arbeit, Männlichkeit, Religion, Hautfarbe – scheinbar unangetastet waren.
Doch so einfach ist es nicht.

Vielmehr muss man sich Fragen stellen. Warum fühlen sich die Menschen in Thayngen übergangen von «denen da oben»? Und wer sind diese Menschen?

Es klöpft
Thayngen. Das ist die Schweiz im Dorf, ein kleiner Teil Riegelbauten, ein grosser Teil Agglomerationsbauten, ein letzter Teil Feld, Wald, Wiese. Vor ein paar Jahren baute man den ersten Kreisel, und vor Kurzem hat ein Dönerstand eröffnet, gefolgt von einem Selecta-Automaten.

Das Dorf hat 5450 Einwohnerinnen und Einwohner; der Ausländeranteil beträgt etwa 20 Prozent, wovon die meisten Deutsche sind. Denn Thayngens Grenze zu Deutschland ist mit zwölf Kilometern fast doppelt so lang wie diejenige zur Schweiz.

Wenn man die siebenminütige Fahrt von Schaffhausen nach Thayngen mit der Deutschen Bahn auf sich nimmt, klöpft es auf halbem Weg, meist auf Höhe des Alten Weihers, der so heisst, weil er immer schon alt war, es klöpft also so mächtig, dass man eine üble Kollision befürchten muss, dabei wechselt der Zug nur vom Schweizer Stromnetz aufs deutsche.

Einmal hatte das Dorf einen linken Gemeindepräsidenten, Walter Stamm von der SP. Er war sehr beliebt, trotzdem, gewählt hat man ihn auch, um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Weil er als Presi nicht mehr so stur auf Parteilinie politisieren konnte.

So erzählt es zumindest Hansjörg Bernath. Seit dem 1. Januar 1969 ist der Landwirt, die blauen Augen wach, die Hände gross, Stimmenzähler für die SVP. Er ist gewissermassen das politische Gedächtnis der Gemeinde. Wie so viele Thaynger klingt er am Telefon viel strenger, als er tatsächlich ist, wie er da vor seinem Hof am Dorfrand steht und seinen Hund streichelt.

Bald wird er 75, die Abstimmung vom 25. November ist sein letzter Amtstag. Zum Dank für 50 Jahre im Dienst der Gemeinde gibt es ein paar Flaschen hiesigen Wein und ein Sackmesser.

«In der Schweiz, auch in Thayngen, läuft es gut. Früher haben wir uns viel heftiger aufs Dach gegeben im Wirtshaus», sagt Hansjörg Bernath. Er hat aber auch Bedenken: «Ich betreibe grenzüberschreitende Landwirtschaft und komme gut aus mit den Deutschen. Nur ist es schade, dass nicht mehr Urschweizer studieren, gerade in der Medizin oder in der Technik.»

Der Presi und die Stewardess
Am Abend vor dem Abstimmungssonntag denkt kaum jemand an Politik. Es ist halb sieben, vor dem Reckensaal im Oberdorf bildet sich eine riesige Menschenschlange, und in ein paar Stunden werden hier ein paar übermotivierte Jugendliche in die Rabatten reihern – der Turnverein Thayngen lädt zum jährlichen Chränzli.

Als die Menschenschlange geschluckt ist, steht der Saal kurz vor dem Überlaufen, aus dem ganzen Reiat sind die Leute gekommen, es sind über 500. Die Männer tragen kurze Haare, Frauen und Kinder arbeiten im Service. Dann wird es dunkel im Saal, die Show beginnt. Zwischen den Darbietungen der Turnerinnen und Turner sollen die Reisepannen der Durchschnittsfamilie Müller – Vater, Mutter, drei Kinder – für Auflockerung sorgen.

«Du», sagt einer auf der Bühne und zeigt ins Publikum, «wenn du eine Türe wärst, würde ich dich die ganze Nacht knallen.»

«Warum ist Bier besser als Frauen?», will ein anderer wissen. «Ein Bier wird nie eifersüchtig, wenn du ein anderes Bier nimmst. Und Bier ist immer feucht.»

«Warum leben Frauen zwei Jahre länger als Männer?», fragt ein dritter. «Sie erhalten die Zeit zurück, die sie fürs Seitwärts-Einparkieren brauchen.»

Auch ein paar Frauen reissen Witze: «Wann ist ein Mann zwei Franken wert? Wenn er einen Coop-Einkaufswagen vor sich herschiebt.»

Irgendwann, die Familie sitzt in einem Billigflieger nach Mallorca, meldet sich der Kapitän via Lautsprecher, die Stimme gehört Philippe Brühlmann, gegenwärtiger Gemeindepräsident und vormaliger Pilot. «So», sagt Kapitän Brühlmann, «jetzt trinke ich noch einen Kaffee, und dann kann mir die neue Stewardess einen blasen.»

Nach gut zweieinhalb Stunden, Zugabe inklusive, endet das Chränzli. Der Rest der Welt ist an diesem Abend weit weg vom Thaynger Reckensaal.

Bei uns funktioniert es noch, sagen die Leute im Dorf. Noch – man spricht es mahnend aus, misstrauisch auch, mit stolzem Nicken.

Keine Blindgänger
Wie die Kotze in den Rabatten vor dem Reckensaal langsam wieder aus dem nächtlichen Frost auftaut, bildet sich vor dem Abstimmungslokal in der Gemeindebibliothek, unten im Dorf, eine kleine Schlange. Durch den Nebel schlägt die Kirche halb elf. Astrid Höfler, die ihren letzten Tag nach 33 Jahren als Stimmenzählerin begeht, ist erstaunt: «So viele Leute hatten wir noch nie am Sonntagmorgen.»

Letzter Arbeitstag für Astrid Höfler nach 33 Jahren als Stimmenzählerin.

Letzter Arbeitstag für Astrid Höfler nach 33 Jahren als Stimmenzählerin.

Ein Mann mit einnehmenden Augen, er muss um die 50 sein, stellt sich in die Reihe vor der Urne. Er ist Geschäftsführer einer Baufirma, fast 100 Angestellte, Mordsaufträge. «Die Globalisierung muss nicht überall stattfinden, sonst werden wir bald fremdgesteuert», sagt er, deshalb stimme er Ja. Im Allgemeinen sei er jedoch zufrieden mit der Schweiz. «Weniger Bürokratie wäre nötig, aber die direkte Demokratie ist schon gut.»

Ein Mann Mitte 50, eleganter schwarzer Mantel und heller Schal, wirft seinen Stimmzettel in die Urne; er arbeitet als Kader in der Verwaltung. Er habe Ja gestimmt, erklärt er freundlich, «weil die Gegner sehr viel gelogen haben». Das Schweizer System sei allerdings «immer noch gut». Der elegante Mann gibt zu bedenken: «Die Politik ist nicht mehr so volksnah wie früher.»

Auf den Chefbeamten folgt eine feine Dame um die 60. «Natürlich bin ich für die Initiative», sagt sie. «Ich bin Patriotin, ich will nicht fremdbestimmt werden.»

Ein jüngeres Ehepaar mit schönen Jacken und schnittigen Elektrovelos pflichtet ihr bei: «Es geht darum, die Eigenständigkeit zu bewahren.» Dann werden sie etwas lauter: «Am Schluss sagen sie von Brüssel obenabe, was wir zu tun haben!» Doch ja, fügen sie an, in der Schweiz laufe es im Grossen und Ganzen sehr gut. Dann hüpfen sie auf ihre Velos und machen einen Abflug.

Wo sind nun die Abgehängten, die Arbeitslosen, die Blindgänger, die frustrierten Männer? Jedenfalls nicht auf dem Kreuzplatz in Thayngen. Da sind keine Abgehängten, keine Übergangenen, im Gegenteil, da sind Menschen auf der Gewinnerseite des Lebens.

Sie haben gute Jobs und sichere Renten, sie fahren teure E-Bikes und anständige Autos. Es sind freundliche, hilfsbereite Menschen, die dem Schweizer System vertrauen und ein gesundes Dorfleben geniessen.

Aber da ist auch wieder dieses Wort: noch.

Misstrauisch, mahnend, stolz sagen die Leute: Noch ist alles gut.

Wie lange noch?

Da ist dieses Ziehen im Bauch, dass es irgendwie nicht gut kommt mit der Zukunft. Dass etwas verloren geht.

Es geht um Statuserhalt, um Abstiegsängste, nicht um Tatsächliches. Im Speziellen um Arbeitslosigkeit, die man nie selbst erlebt hat.

Die Angst ist abstrakt, diffus, und sie drückt sich, einem Gas nicht ungleich, in die kleinsten Ritzen hinein.

Zuerst kommen wir
Ein dünner Mann Mitte 50 eilt über den Kreuzplatz in Thayngen, durch den sich lichtenden Nebel. Er geht wie jemand, der eine Mission zu erfüllen hat.

Es ist kurz vor 11 Uhr. Die Urne im Bauch der Gemeindebibliothek wird in wenigen Augenblicken schliessen.

Vor dem Abstimmungslokal angekommen, zieht er einen Zettel aus seiner schwarzen Funktionsjacke und streckt ihn zum Lesen hin. Es ist eine Kopie eines NZZ-Artikels über die Selbstbestimmungsinitiative.

Danach eilt der dünne Mann wieder davon.

Der Artikel befasst sich kritisch mit der Initiative, lehnt sie ausdrücklich ab, beklagt jedoch auch den Verlust der nationalstaatlichen Souveränität der Schweiz durch internationales Recht. Und genau diese Passage hat der dünne Mann mit Kugelschreiber markiert.

Was will er damit sagen? Vielleicht: Ich bin nicht dumm, nur weil ich die Selbstbestimmungsinitiative gut finde. Vielleicht auch: Zuerst kommen wir, kommt die Schweiz, kommt Thayngen, dann erst der Rest.