Kunstkritik mit Kindern

26. November 2018, Mattias Greuter
Foto: Peter Pfister
Foto: Peter Pfister

Frischer Blick Freda (10) und Elmo (8) überraschen mit ihrer Wahrnehmung der «Ernte 18»: Zeit­genössische Kunst schlägt Höhlen­menschen.

«Vielleicht ist das der Wandel der Zeit», rätselt Freda. «Ja, wie eine Zeitreise», findet Elmo. Seit über zehn Minuten stehen die beiden gebannt vor «Lost City 2 Codec 12». Das Werk von Ernst Thoma verändert sich vor ihren Augen, Fotos und Videos überlagern sich immer wieder anders, ständig gibt es Neues zu entdecken. Etwas unheimlich sei das, findet Elmo. Das Begleitheft zur Ausstellung sagt: beklemmend. Volltreffer.

Die AZ hat für eine Besprechung der diesjährigen Ernte zwei ungewöhnliche Fachleute engagiert: Freda ist zehn, Elmo acht Jahre alt. Die beiden stellten zu Beginn klar, dass sie unbedingt auch die Höhlenbewohner sehen wollten, wenn sie schon mal im Museum zu Allerheiligen sind. Es kam ein wenig anders.

Die Siegerin bleibt chancenlos
Die Gewinnerin des diesjährigen Erntepreises Hannah Grüninger hätte keine Chance gehabt, wenn es nach Freda und Elmo gegangen wäre. Grüningers «Artekfakte» – Siebdrucke auf Pergament, mit Texten, die Bilder beschreiben, die wegen eines Kameradefektes nie entstanden sind – interessieren die jungen Kritiker kaum. Sie sind für Kinder «zu hoch» im wörtlichen Sinn: Selbst Freda, 141 Zentimeter gross, kann die Texte nicht lesen, sie hängen zu weit über ihrem Kopf. Wenn Kunst zugänglich sein muss, verfehlt Hannah Grüninger dieses Publikum eindeutig.

Sehr zugänglich ist dafür Martin Volmers «Eine Arbeit für einen Blinden»: Erwachsene stehen rätselnd vor dem Werk und wissen nicht so recht, ob sie es berühren dürfen. Die Kinder haben sofort verstanden und erfühlen die hölzerne Struktur mit ihren Händen.

Gegenüber, bei den Weisskreidezeichnungen von EberliMantel, erkennt Elmo innerhalb von Sekunden, dass Menschen im Museum abgebildet sind, es sich gewissermassen um einen Spiegel handelt. Die Serie inspiriert ihn: «Ich könnte ein Bild malen, auf dem jemand ein Bild anschaut, und darauf würde wieder jemand ein Bild anschauen und so weiter.» Freda ist beeindruckt von der präzisen Kreidetechnik: «mega!»

Nicht alles, was die beiden lange anschauen und besprechen, gefällt ihnen: Die kleinen Gemälde in Corina Rauers Serie «Ehrliches Handwerk» verstören sie ein wenig (durchaus im Sinne der Künstlerin) und gehören nicht zu den Favoriten. Trotzdem findet ein langes Gespräch statt. Mit Kennermiene sagt Elmo nach einiger Zeit, alle Bilder seien zweideutig. Die Aquarelle sprechen ihn an, auch wenn er ein Kopftuch als Kapuze, eine Ku-Klux-Klan-Haube als Geist wahrnimmt.

Nicht alles an der Ernte ist gänzlich jugendfrei. Fritz Sauter etwa, für frivole Einfälle bekannt, hat in «Lezione d’italiano» pinke Brüste gemalt, was Erwachsenen spätestens klar wird, wenn sie darunter «sinistra» und «destra» lesen. Das kleine Gemälde erweist sich aber als unbedenklich: «Das sind zwei CDs» schliesst Elmo rasch. «Ja, oder Augen», findet Freda. Die Intention des Schöpfers ist ohnehin überbewertet, Kunst gehört den Betrachtenden.

Bei diesem Werk von Fritz Sauter ist sich Elmo sicher: «Das sind zwei CDs.» Freda ­hingegen sieht Augen. Fotos: Peter Pfister

Fructuoso/Wipf: «Echt cool.»
Erwachsenen wird es nie gelingen, Vorwissen und Erwartungen auszublenden, wenn sie im Museum stehen. Die beiden Kinder erleben die «Ernte 18» mit einem deutlich weniger vorbelasteten Blick und bekommen immer mehr Freude am Ausgestellten. Kinder brauchen kein Kinderprogramm, um sich im Museum wohlzufühlen: Wenn man sie und ihre Rezeption ernst nimmt, sind sie stundenlang konzentriert und interessiert, ohne dass man ihnen etwas zum Ausmalen geben müsste.

Immer wieder überraschen Freda und Elmo die Erwachsenen. Die Annahme, dass ihnen gegenständliche Kunst, etwa die scheinbar einfach verständlichen Bilder von Seraina Steinemann, mehr sagen würde als Abstaktes, erweist sich als falsch. Stattdessen üben die zwei grossflächigen Acrylgemälde von Stefan Sulzberger (Bild links) eine regelrechte Sogwirkung auf die Kinder aus. Freda und Elmo gehen zuerst ganz nahe heran, um die von Sulzberger mit einem Kompressor aus nasser Farbe verblasenen Strukturen zu entdecken.

«Das ist eine sehr gute Idee», sagt Freda, nachdem sie das Begleitheft konsultiert hat, weil sie unbedingt wissen wollte, wie die feinen Formen entstanden sind. Elmo macht derweil fünf grosse Schritte rückwarts und ruft begeistert aus: «Schau mal, von weiter weg ist es uh schön!» Irgendwann sind es die Erwachsenen, denen die Geduld ausgeht und die in den nächsten Raum weiterwollen.

Dort steht «Woody» vom Künstlerduo Fructuoso/Wipf. Freda merkt sofort, dass es hier um die Frage geht, ob der Gartenstuhl tatsächlich aus Holz oder doch aus bemaltem Plastik ist. Die Kinder berühren «Woody» vorsichtig, doch letztlich bringt eine andere Untersuchungsmethode die Gewissheit. Elmo hat die Idee, sich hinzuknienen und den Stuhl von unten zu betrachten. «Do under de Armlähne» ruft er triumphierend, «isch es nid agmolet, do gseht me das es us Plastik isch!» Freda schaut ebenfalls nach, ist überzeugt und schliesst sofort auf das hohe handwerkliche Können der Macher: «Wow, aber es sieht wirklich wie echtes Holz aus!» Beide finden: «Echt cool.»

Nebenan experimentiert Andrin Wintelers «Sphere II» (Bild unten) mit moderner Drohnentechnologie, um den Blick auf etwas zu richten, das von Auge kaum zugänglich wäre. Klingt kompliziert, oder? Die jungen Kunstgeniesser haben damit überhaupt kein Problem. «Die Welt im Hintergrund dreht sich um diesen Stein», sagt Freda abgeklärt. Sie hilft Elmo auf die Sprünge: «Du wärst der Stein, ich die Kamera», postuliert sie und beginnt um ihn herumzugehen – so einfach ist das, Elmo hat verstanden. Bleibt nur noch die Frage zu klären, ob auf den beiden Rücken an Rücken hängenden Bildschirmen der gleiche Stein abgebildet ist – schliesslich sieht man sie nie gleichzeitig oder aus der gleichen Perspektive. Nach einigem Hin und Her, bei dem beide Kinder mit den Händen die Grösse des Steins prüfen, ist das Rätsel aber gelöst.

Foto: Peter Pfister

Foto: Peter Pfister

Netzhammer ist Trumpf
Erst nach eineinhalb Stunden haben Freda und Elmo genug von der Ernte. Sie stürmen davon, vermutlich zu den Höhlenbewohnern, mutmassen die Erwachsenen. Dann die Überraschung: Wir finden sie einen Raum weiter wieder, wo sie sich noch eine geschlagene halbe Stunde an Yves Netzhammers Video­installationen ergötzen. Und als sie zum Schluss doch noch vor den Höhlenbewohnern stehen, beachten sie diese kaum, viel zu interessant ist Netzhammers neckische Projektion an der Höhlendecke. Die Videoschleife dauert etwa fünf Minuten, und Freda und Elmo wollen sie zweimal sehen. Dies hat, bei aller Kunstbeflissenheit, allerdings auch damit zu tun, dass Netzhammers aromatfarbenes Männchen irgendwann an die Decke pinkelt.

Wer hätte den Erntepreis gewonnen, würde die Jury aus Freda und Elmo bestehen? Die jungen Fachleute sind sich einig: Stefan Sulzberger. Noch besser ist nur Yves Netzhammer – der kann aber nicht gewinnen, schliesslich ist er Jurymitglied.