Ein verurteilter Pädophiler hilft bei einem freikirchlichen Pfingstlager für Kinder und Jugendliche mit. Obschon die Organisatoren von der Verurteilung erfahren, darf der Mann im Lager bleiben.
Mit wem man auch redet: Alle wissen, worum es geht. Aber wissentlich will es niemand mitbekommen haben. Und von einem Fehler weiss auch niemand.
Warum Jesus weinte
Samstag, 19. Mai 2018. Das Pfingstwochenende beginnt. 230 Buben und Mädchen aus Schaffhausen und dem Zürcher Weinland bauen ihre Zelte auf dem Heerenberg auf, einem Hügel, der sich rundlich hinter Thayngen erhebt. «Rom – Ehre, wem Ehre gebührt» heisst das Motto des Pfingstlagers. Die Kinder und Jugendlichen im Alter von sechs bis sechzehn Jahren tragen Schärpen in unterschiedlichen Farben – je nach römischer Sippe.
Organisatorin ist die Freie Evangelische Gemeinde Thayngen, kurz FEG. Sie ist ein Ableger der Freien Evangelischen Gemeinden, mit ungefähr 8’000 Mitgliedern eine der grössten Freikirchen der Schweiz. In den letzten 20 Jahren ist sie stark gewachsen. «Leiter, Pastoren und ihre Gemeinden», so einer der FEG-Leitsätze, «verhalten sich so, dass die Verkündigung des Evangeliums an die Unerreichten de facto höchste Priorität hat.»
Am Lager nimmt auch der 24-jährige Markus F. teil (Name geändert), aufgewachsen in einem Dorf im Kanton Schaffhausen, Lehre in der Industrie. Er bewegt sich schon lange in freikirchlich-evangelikalen Kreisen der Region – von FEG über ICF zur Imanuel-Gemeinde.
Gemäss sozialen Medien mag er christliche Metalcore-Musik. Etwa die US-Band Demon Hunter. Im Song «Jesus Wept» schreit der Sänger: «Open the gates of mercy when I come», öffne die Tore der Gnade, wenn ich ankomme, «I’m why Jesus wept», ich bin der Grund, warum Jesus weinte.
Am Pfingstlager auf dem Thaynger Heerenberg ist F. als Helfer eingeteilt. Dabei dürfte er gar nicht dort sein.
Zehnjähriges Kontaktverbot
Am 19. August 2015 war F. vom Kantonsgericht Schaffhausen wegen mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern und wegen Schändung verurteilt worden. Das Gericht sprach ein zehnjähriges Berufs- und Tätigkeitsverbot aus, das ihm untersagt, mit Kindern in Kontakt zu treten, beruflich und ausserberuflich. Ausserdem wurde F. mit einer unbedingten zweijährigen Haftstrafe belegt, die das Gericht jedoch zugunsten einer ambulanten Therapie aufschob.
Vor Kantonsgericht ging es um zwei Fälle. Der erste umfasste die Jahre 2007 bis 2009, als Markus F. auf Kinder von Bekannten aufpasste. Einem damals drei- bis sechsjährigen Mädchen griff er dabei unter den Rock und berührte es an der Scheide.
Beim zweiten Fall war F.s Cousine das Opfer. In den Jahren 2011 bis 2013 vergriff er sich viermal an der damals Vier- bis Sechsjährigen. Im Herbst 2013 suchte er das Zimmer der Cousine auf, zog sie aus, leckte sie im Intimbereich ab und führte einen Finger in ihre Scheide ein, was ihr Schmerzen bereitete.
F. gestand alle Taten vor Gericht. Sie seien im Affekt geschehen, so F., er habe weder über die Konsequenzen für die Mädchen noch für sich nachgedacht.
Der Richter fragte den Angeklagten, ob es gar zu einer Vergewaltigung hätte kommen können, wenn die Taten nicht ans Licht gekommen wären. Markus F. bejahte die Frage.
Schon zum Zeitpunkt der Verhandlung befand sich F. in Behandlung; ein psychiatrisches Gutachten belegte seine pädophile Neigung und weitere Persönlichkeitsstörungen.
«Ich möchte verhindern, dass so etwas jemals wieder passiert», sagte er zum Richter, wie die «Schaffhauser Nachrichten» nach der Verhandlung berichteten. Er würde in der Therapie daran arbeiten, so die «SN» weiter, dass sich seine Sexualität so entwickle, damit er in Zukunft seine Bedürfnisse im rechtlichen Rahmen ausleben könne.
F. darf im Lager bleiben
Pfingstsonntag, 20. Mai 2018. Das Lager der FEG Thayngen geht in den zweiten von drei Tagen. Der Himmel ist bewölkt, man misst knapp 20 Grad. Markus F. ist wieder da, als Helfer.
Jemand aus dem Umfeld eines der früheren Opfer von F. hat die Lagerleitung darüber informiert, dass F. im Jahr 2015 verurteilt und mit einem zehnjährigen Tätigkeitsverbot mit Minderjährigen belegt worden war. Man beruft eine Krisensitzung ein, und die Lagerleitung kommt zum Schluss: F. darf bleiben und weiterhelfen.
Warum hat man Markus F. nicht sofort weggeschickt?
Boris Grunau, der Hauptverantwortliche des Pfingstlagers, nimmt dazu Stellung; er ist Pastor bei der FEG Thayngen und dort für die Kinder- und Jugendarbeit zuständig. Nach Absprache mit dem Informanten aus dem Umfeld des Opfers habe man vereinbart, schreibt Grunau, «dass der Mitarbeiter [Markus F.] nach seiner Aufgabe den Platz jeweils umgehend verlässt. Die Präsenzzeit der betreffenden Person am Pfingstlager betrug insgesamt 30 Minuten (3 mal 10 Minuten). Diese insgesamt 30 Minuten während 3 Tagen beinhalteten weder Betreuungsaufgaben noch sonstigen näheren Kontakt zu den Teilnehmern.»
«Im Lager hatte Markus F.
Kontakt mit Kindern»
– Staatsanwalt Peter Sticher
Anders sieht das die Schaffhauser Staatsanwaltschaft, die nach dem Lager eine Untersuchung eingeleitet hat. Der Leitende Staatsanwalt Peter Sticher schreibt: «Wir nehmen die Stellungnahme zur Kenntnis, halten aber in aller Deutlichkeit fest, dass sich der Beschuldigte an mehreren Tagen im Lager befand, bei einem Theaterstück mitgespielt hat, beim Auf- und Abbau mithalf und dabei auch Kontakt mit Kindern hatte. Es ist zu keinen strafbaren Handlungen mit Kindern gekommen.»
Am 13. September 2018 verurteilt die Staatsanwaltschaft Markus F. zu einer unbedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 100 Franken wegen «Missachtung eines Tätigkeitsverbots». «Wobei», wie im Strafbefehl zu lesen ist, «er wusste und in Kauf nahm, dass dort [im Pfingstlager] Kinder anwesend sind und er mit diesen in Kontakt kommt.» Zu den 9’000 Franken Geldstrafe kommt noch eine Staatsgebühr von 400 Franken hinzu.
Die «az» versuchte während Tagen, Markus F. zu erreichen, allerdings erfolglos.
Der Hauptlagerleiter, FEG-Pastor Boris Grunau, schreibt, dass Markus F. nicht Mitglied der FEG Thayngen sei und «nur sporadisch Veranstaltungen besucht», weshalb man «nicht vorgängig von der Sachlage erfahren» habe. Und er versichert: «Wir nehmen dieses Ereignis nicht auf die leichte Schulter und werden die Schulung von Mitarbeitenden zu Präventionsthemen intensivieren.»