Eine Ehe liegt in Scherben. Für die Frau ist die Scheidung die letzte Hoffnung.
Aber nichts kommt, wie es sollte – Die Geschichte von Silvia W.
Silvia W. hätte die Handbremse ziehen sollen. Müssen. Aber dann war es zu spät.
Wie spät, das merkt sie aber erst heute. Hinterher ist man immer schlauer. Das sagt sie sich auch selbst. Dabei nickt sie bedächtig und lächelt sanft. Ja, hinterher ist man immer schlauer.
Vor fünfzehn Jahren war noch alles anders. Sie kommt gerade von einer Weltreise zurück, im Gepäck viele Erinnerungen und eine Trennung. Mit Anfang dreissig nicht weiter tragisch. Ihr Freund und sie hatten sich auseinandergelebt. Zurück in der Schweiz dann der Auszug, eine neue Wohnung, ein neuer Job. Und dieser Mann. Gut aussehend und hartnäckig.
W. hatte damals eine Verkaufsannonce ins Internet gestellt, wahrscheinlich waren es Konzertkarten, so genau weiss sie es nicht mehr. Und er kauft sie. Sie finden heraus, dass sie in der Grossstadt Zürich praktisch Nachbarn sind, kommen ins Gespräch, treffen sich ab und zu, gehen ins Kino, ins Theater.
Er will sie. Sie ist sich nicht sicher. Er will sie trotzdem, und irgendwann will sie dann auch. «Ich kam damals aus einer Beziehung und wollte mich nicht sofort wieder binden», erzählt W. heute, lächelt wieder, «mein Ex-Mann kann sehr überzeugend sein.» Die zwei werden ein Paar, und schnell will er wieder. Dieses Mal ein Kind.
Allein weinen
Silvia W., die sich eigentlich nicht als Mutter sieht, gibt nach. Mittlerweile verheiratet und mit einem Kleinkind nach St. Gallen gezogen, geht es ihr aber nicht mehr gut. «Für mich war es immer eine Horrorvorstellung, ein Kind allein grossziehen zu müssen. Und plötzlich befand ich mich genau in dieser Situation», sagt sie. Kino und Theater weichen ermüdenden Streitereien zu Hause, und das, was W. so an ihrem Mann liebt, seine Leichtfüssigkeit, geht ihr auf die Nerven.
Ein guter Ehemann und ein guter Vater sei er schon gewesen, zu gut sogar. «Ich war eher die Böse», meint sie und lächelt wie so oft. Aber ihr Alltag ist nur noch frustrierend: Den Haushalt schmeissen, Rechnungen bezahlen, das Kind erziehen, Grenzen setzen – auch dem Mann –, streiten, allein weinen. «Als der Kleine in den Kindergarten kam, wollte ich mich trennen. Aber ich habe es nicht getan, für meinen Sohn.» Ihm den Vater nehmen, das wollte sie eigentlich nie. Und ihr Mann sagte Dinge wie: Ich liebe dich. Es wird alles gut. «Ich wollte daran glauben», sagt sie.
Im Rausch
Dann wieder ein Umzug, dieses Mal nach Schaffhausen. Silvia W. fängt von Neuem an, fasst Hoffnung, lernt Leute kennen, findet Arbeit. Ihr Mann ist immer sehr beschäftigt. Und macht die Augen zu. Vor der Unzufriedenheit seiner Frau, vor den Schwierigkeiten seines Sohnes. «Er wollte das Negative nicht sehen, hat alles beiseitegewischt», erzählt sie.
Statt sich um die Familie zu kümmern, lässt er es sich gut gehen. Er kauft sich feine Klamotten, hat immer die neusten Geräte, verbringt Stunden auf Online-Shops. «Wir hatten nie viel Geld, konnten uns aber immer über Wasser halten», erzählt W., dann geht ihr Mann aber ins Casino. Aus Gelegenheit wird Gewohnheit, und als er kein Geld mehr hat, geht er an ihr Sparkonto. 20’000 Franken lösen sich in Luft auf. Silvia W. traut sich das fast nicht zu sagen: «Ist das viel Geld?», fragt sie leise nach. «Für mich war das jedenfalls eine Katastrophe. Es waren meine ganzen Ersparnisse».
Ja, sie hätte damals schon die Bremse ziehen sollen, bei einem Mann, der selbst keine hat. Ein Mann, der mit hundert Sachen auf die Wand zusteuert, den Fahrtwind geniesst und die Gefahr nicht sieht. Sie tat es aber nicht. Am Anfang sieht es so aus, als hätte er unverschämtes Glück gehabt. Trotz Spielsucht und Kreditkartenschulden meint es sein Chef gut mit ihm, er kann seine Arbeit behalten, setzt seine Maske auf, macht weiter. Bis er sich in einem Nebel verirrt. Eine verführerische schneeweisse Wolke, die sich Kokain nennt.
Wieder schleicht sich die Gewohnheit ein, der Rausch übernimmt die Oberhand. Er dröhnt sich zu, bleibt tagelang von zu Hause weg, verliert den Job doch noch, wird in die Psychiatrie eingewiesen und fängt kurz darauf wieder von vorne an. W. will dann nicht mehr, verlangt die Trennung. Nur, ihr Mann will nicht gehen.
Silvia W. sucht sich Hilfe: Ruft die Polizei, die Sanität, klappert Beratungsstellen ab. Was kann ich tun, um mein Kind und mich zu schützen? Die Antwort, die sie bekommt, schmerzt sie noch heute: Frau W., es ist ihr Mann, der Hilfe braucht. Sie müssen jetzt für ihn da sein. «Ich könne den Armen doch nicht im Stich lassen, sagte man mir. An meinen Sohn und an mich hat niemand gedacht.» Nach ein paar Monaten reicht das Paar dann doch die Trennung ein, der Mann zieht aus, W. sucht sich eine neue Stelle, um den Lebensunterhalt zu finanzieren.
Kein Ausweg
Wieder ist die Hoffnung da, dass doch noch alles gut wird. Das Sorgerecht wird aufgeteilt, das Kind lebt bei der Mutter, die Alimente für den Kleinen und Unterhalt für sich erhalten soll. «Eine gute Regelung, auf dem Papier», erzählt sie.
Nur kommt sie nicht vom Pech los, wie ihr Mann nicht vom Kokain. Er hält sich nicht an Abmachungen, lässt den damals achtjährigen Sohn unbeaufsichtigt zu Hause, manchmal auch über Nacht, stiftet ihn dazu an, zu lügen. Die Alimente müssen bevorschusst werden, da er arbeitslos ist. «Komische Leute» gehen bei ihm ein und aus, und wenn er sich in Zürich Drogen besorgt, nimmt er das Kind manchmal mit.
W. fleht um Hilfe, doch die Behörden meinen: Frau W., ihr Mann hat das Recht, seinen Sohn zu sehen, das müssen Sie akzeptieren.
Der Mann kommt indessen auf einmal zu viel Geld. Er häuft wieder Dinge an, kleidet sich wie ein Geschäftsmann, bekommt ständig «wichtige Anrufe». Die Drogen, die er so sehr braucht, sind nun seine Einnahmequelle geworden. Dieses Mal ist es Heroin. Er holt es bei Händlern in Zürich ab und organisiert den Weiterverkauf in Schaffhausen. Damit macht er 120‘000 Franken und wird erwischt.
«Er war zeitweise der grösste Dealer in der Stadt. Und hätte man gründlicher ermittelt, wäre noch einiges ans Licht gekommen», erzählt Silvia W. und meint etwas schnippisch: «Das Besuchsrecht galt natürlich trotzdem.»
Vom Kantonsgericht wird er zu einer 30-monatigen Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe verurteilt und muss in eine stationäre Suchtbehandlung. Und er beantragt die Aufhebung der Unterhaltsregelung. Der gleiche Richter, der ihn im Strafverfahren schuldig spricht, gibt ihm beim Zivilprozess recht. Die Alimentenbevorschussung wird gestoppt.
Plötzlich steht Silvia W. ohne Unterhalt da. «Mein Mann konnte aber während der Suchtbehandlung im Tessin das Taucherbrevet machen.» Hätte man sie ins Gesicht geschlagen, wäre das wohl weniger demütigend gewesen, meint sie. «Mein Mann hat jede Hilfe bekommen, die ihm zustand», das sei auch richtig so, «aber warum wurde ich so unfair behandelt?» Eine Frage, auf die sie keine Antwort findet.
Die Verzweiflung
Um die Scheidung doch noch durchzusetzen, lässt sie sich auf einen Vergleich ein: «Der Anwalt meines Mannes war knochenhart, meiner hingegen, naja, sagen wir mal, pragmatisch.» Aus Verzweiflung verzichtet sie auf ihren eigenen Unterhalt. Um die Alimente für den Sohn wieder zu bekommen, muss sie aber vor Obergericht. Erst dann läuft die Bevorschussung wieder. «Für mich war das die Hölle», sagt sie.
Bei der Arbeit kann sich W. vor Sorge und Erschöpfung nicht mehr konzentrieren, der Chef verlangt von der ausgebildeten Kauffrau ständig Überstunden, die Schule zitiert sie immer wieder, weil der Sohn «auffällig» wird. Mit den Nerven am Ende, wird sie für eine Woche krankgeschrieben. Der Chef macht Druck, terrorisiert sie mit Anrufen und SMS. Darauf kündigt sie und geht zum RAV. Da wird sie von Coaching zu Coaching geschickt, absolviert Bewerbungskurse. Arbeitsangebote bekommt sie aber kaum.
«Aus Verzweiflung habe ich mich an jeden Strohhalm geklammert, auch wenn es der falsche war.» Die Coachs, die ihr hätten helfen sollen, machten ihr stattdessen falsche Hoffnungen. Und fragwürdige Angebote. Weisst du, ich könnte meine Beziehungen spielen lassen. Gehen wir doch etwas trinken. Silvia, du bist eine tolle Frau. Ich fahre dich nach Hause. Schlaf mit mir. W. tut es, in Autos, im Solarium, bei sich zu Hause. Und fühlt sich danach elend. «Ich habe es freiwillig getan, aber ich schäme mich so sehr dafür», gibt sie heute zu. Manchmal geben ihr die Männer auch Geld. «Ich hadere damit, aber ungeschehen kann ich es nicht machen.»
Nichts wird gut
Das war vor drei Jahren. Die 1000. Bewerbung hat sie vor einigen Monaten verfasst. Nichts will klappen. «Ich bin 49 Jahre alt und gelte als unvermittelbar», erklärt sie und lächelt wieder. Obwohl ihr oft nach Weinen, nach Schreien zu Mute ist, oder nach Stille. Für immer. «Es gibt Tage, an denen ich mir mein Ende wünsche», aber für ihr Kind mache sie weiter.
Nun steht sie vor der Sozialhilfe. «Ich wünsche mir nichts mehr als eine Arbeit, aber die Situation ist ausweglos. Zum Sozialamt gehe ich nicht gerne», von irgendwas müsse sie aber schliesslich leben. Das Sparbuch ihres Sohnes, 1’700 Franken, wird ihr als Vermögen angerechnet, den Umzug in eine kleinere Wohnung haben die beiden schon hinter sich.
Für einen Pflegedienst kann sie ein paar Stunden in der Woche als Betreuerin arbeiten. Das macht ihr Freude. Es ist ein kleiner Schritt vorwärts, in eine sehr unsichere Zukunft.
Ihr Ex-Mann wird bald entlassen, von seinem alten Chef bekommt er eine neue Chance. Was passiert ist, ist für ihn nicht mehr wichtig.
Und er sagt Dinge wie: Silvia, es wird doch alles gut.
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Arbeitslosigkeit bei Frauen
Gemäss Auswertungen des Staatssekretariats für Wirtschaft (SECO) hat das Alter einen erheblichen Einfluss auf die Langzeitarbeitslosigkeit. 2017 waren 27 Prozent der über 50-Jährigen bereits seit einem Jahr ohne Beschäftigung. In Schaffhausen waren es im Juli 2018 239 Personen, 105 davon Frauen. Das Risiko, weiterhin arbeitslos zu bleiben, steigt mit der Dauer der Arbeitslosigkeit überproportional an. Geschiedene Frauen sind besonders betroffen und haben eine 30 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit, unter die Armutsgrenze zu fallen, als verheiratete Frauen, wie eine Studie der Berner Fachhochschule für soziale Arbeit zeigt. Demnach ist eine Scheidung ein «soziales Risiko», besonders dann, wenn die Frau während der Ehe nicht oder nur teilzeitbeschäftigt war.