Der vererbte Leserbrief

15. Oktober 2018, Mattias Greuter
Hat Samuel Erb (rote Krawatte) abgeschrieben oder selber formuliert?

Seit über sechs Jahren taucht ein asylkritischer und inhaltlich falscher Leserbrief immer wieder in den Medien auf. Nun wurde er in den «SN» abgedruckt – unterschrieben von SVP-Kantonsrat Samuel Erb.

Der Leserbrief in den «Schaffhauser Nachrichten» kam Marco Planas, SP-Grossstadtrat und ehemaliger «az»-Redaktor, etwas merkwürdig vor. Unterzeichnet von SVP-Kantonsrat Samuel Erb, wurden Sozialhilfebeiträge für Asylsuchende mit Rentengeldern verglichen. Planas wusste, dass da etwas nicht stimmen konnte, und googelte.

Er fand heraus: Der Leserbrief ist nicht 2018 von Samuel Erb verfasst worden, sondern mindestens sechs Jahre alt. In verschiedenen Medien wurde er immer wieder in fast gleichem Wortlaut abgedruckt, sogar schon einmal in den «SN», unterschrieben von einer ganz anderen Person, im September 2012. Damals sah sich das Sozialamt gezwungen, einige Punkte im Leserbrief richtigzustellen.

Planas machte das Ganze auf Facebook publik, und am 5. Oktober, einen Tag nach dem neuerlichen Erscheinen des fraglichen Leserbriefes, druckten die «SN» erneut eine Richtigstellung des Sozial­amtes ab.

Zigtausendfach geteilt
Das kurze, asylkritische Pamphlet ist schon fast berühmt: Seit 2012 erscheint es mehrmals pro Jahr in Regionalzeitungen – immer mit fast gleichem Wortlaut und mit ganz unterschiedlichen Absendern.

Im Jahr 2015 wurde ein Foto des Leserbriefs, wie er in der kleinen Schwyzer Lokalzeitung «March-Anzeiger» gedruckt worden war, auf Facebook fast 30’000 Mal geteilt. In der Folge erschien auf «Watson» ein Artikel, der dem Text auf den Grund ging. «Watson» recherchierte die ursprüngliche Autorin, eine Rentnerin namens Elsbeth Kälin, und zeigte auf – ähnlich, wie es das Sozialamt in Schaffhausen zweimal tat –, dass mehrere Punkte im Leserbrief schlicht falsch sind.

Kernargument des Leserbriefes: Asylsuchende sollen 56 Franken Sozialhilfe pro Tag erhalten, das sei nur zwei Franken weniger als die maximale Ehepaarrente.

Natürlich sind nicht alle Asylsuchenden Sozialhilfempfänger, und vor allem stimmt es nicht, dass sie pro Tag 56 Franken «bekommen», wie es in Samuel Erbs Version des Leserbriefes heisst.

Richtig ist: Der Kanton erhält pro Person im laufenden Asylverfahren 56.40 Franken vom Bund. Dieses Geld wird aber nicht den Asylsuchenden ausgehändigt, sondern beispielsweise dafür verwendet, das Durchgangszentrum Friedeck in Buch zu betreiben, Gesundheitskosten zu zahlen, Beschäftigungsprogramme zu betreiben und vieles mehr, wie das Sozialamt klarstellt. Es schreibt ausserdem, dass Asylsuchende nur sehr wenig Geld vom Kanton erhalten: 3 Franken Sackgeld täglich im Durchgangszentrum, später zusätzlich 8.50 Franken für den Lebensunterhalt, wenn sie einer Kollektivunterkunft wohnen.

«Meine Formulierung»
Die «az» hat Samuel Erb mehrere Versionen «seines» Leserbriefs aus verschiedenen Jahren und Zeitungen zugestellt. Am Telefon sagt Erb aber: «Nein, ich habe den Leserbrief nicht abgeschrieben oder übernommen.» Er habe nur «gewisse Sachen zusammengestellt», die er beispielsweise in SVP-Zeitungen wie der «Schweizerzeit» gelesen habe. Eine Vorlage für seinen Leserbrief habe er aber nicht gehabt, insistiert Erb, «das ist meine Formulierung».

Warum er das sagt, ist unklar, denn es stimmt offensichtlich nicht: Der Leserbrief ist fast identisch mit dem ursprünglichen Text von Elsbeth Kälin und der 2012 in den «SN» erschienenen Version.

Zur nachweislich falschen Behauptung, Asylsuchende würden 56 Franken Sozialhilfe erhalten, sagt Erb: «Es bringt vermutlich nichts, mit Ihnen darüber zu streiten.» Es scheint für ihn nicht um Fakten zu gehen, sondern um Überzeugungen: «Dazu wird es immer verschiedene Meinungen geben.»

Samuel Erb sitzt seit 2001 für die SVP im Kantonsrat. Er wurde viermal wiedergewählt.

 

Der ursprüngliche Leserbrief aus dem Jahr 2012.

Samuel Erbs Kopie, veröffentlicht Anfang Oktober 2018.